turi2 edition #16: Wie verbessert Kunst das Klima, Tim Sommer?
24. Januar 2022
Eine Kunst für sich: Eintracht und Konsens in der Gesellschaft sind die Todfeinde der Kunst, meint Tim Sommer. Wie passt da der Klimawandel rein, der so viel Einigkeit und Kompromisse fordert? Der Chefredakteur von “art”, Europas größtem Kunstmagazin, zeigt sich in seinem Gastbeitrag für die turi2 edition #16 optimistisch, dass sich Kunst und Klimakrise letztendlich sogar gegenseitig helfen.
Falsche Frage! Und noch dazu suggestiv gestellt. Spätestens seit dem Beginn der Moderne wollte die Kunst schließlich alles andere, als das Klima verbessern (jedenfalls das gesellschaftliche, das andere war ja kein Thema): Sie wollte die Spießer verstören, sie provozieren, ihnen Stachel im Fleisch sein, sie nerven, anstrengen, düpieren, überfordern, entsetzen, ekeln und anöden. Alles, was sich je als Avantgarde verstand, hat sich der Klimaverschlechterung verschrieben, wenn auch oft listig hinter dem Etikett der Weltverbesserung versteckt. Eintracht und Wohlgefallen jedenfalls waren die Todfeinde des künstlerischen Fortschritts im 20. Jahrhundert.
Das Schicksal will es allerdings so, dass Klein- und Großbürgertum sehr eifrig und lernfähig sind. Was eben noch für einen schönen Skandal taugte, wurde schnell passend für den Kühlschrankmagneten: Von van Gogh bis Gerhard Richter, von Frida Kahlo bis Niki de Saint Phalle, alles Wilde und Widerständige ist so längst im allgemeinen Streichelzoo gelandet. Das ganze Überbietungssystem von Künstlerreiz und Publikumsreaktion hat sich deshalb etwas totgelaufen. Meine Diagnose: Was die westliche Gesellschaft betrifft, ist die Kunst heute beklagenswert klimaneutral. Und was die eigentliche Klimaneutralität betrifft: Da entsteht gerade sehr viel wahnsinnig liebe, wahnsinnig kluge und wahnsinnig beflissene Kunst zum guten Zweck – vor der mir, offen gestanden, mehr graust als vor der CO2-Bilanz von Museen in der Wüste.
Allerdings bin ich recht optimistisch, dass sich das bald ändern wird. Denn den Konsens zu illustrieren, war nie eine gute Idee für die Kunst. Wenn wir als Gesellschaft den Klimawandel ernsthaft bremsen wollen, müssen wir vor allem brav sein, wir müssen Kompromisse schließen und sie auch befolgen, wir müssen in großer Eintracht alle schrecklich vernünftig sein und unsere Triebe sauber kontrollieren. Und wir werden dabei gut aufeinander aufpassen, oder? Das alles spielt dem wahren Künstlertum so in die Hände wie einst die Zylinder- und Korsettgesellschaft an der Schwelle des 20. Jahrhunderts: Das Bizarre, das Verquere, das Versponnene, das Hedonistische und Schräge wird neue Konjunktur bekommen, ganz sicher. Und unser Klima, ich ahne es, wird genau das brauchen.