turi2 edition #18: Maja Göpel über Wachstum und Wuchern.
3. Juli 2022
Wann reicht’s denn mal? In ihrem Bestseller “Unsere Welt neu denken” beschreibt Maja Göpel, wie unser Überfluss den Planeten zerstört. Im großen Interview in der turi2 edition #18 geht die Politökonomin und Transformationsforscherin der Frage nach, ob das noch eine artgerechte Haltung für Menschen ist – und ob wir die Ressource Geld neu denken müssen.
Maja, was empfindest du, wenn du von so vielen Pflanzen wie hier im Botanischen Garten Berlin umgeben bist?
Mir schenken sie ein Gefühl von Ruhe und auch Dankbarkeit. Wenn ich sie genau anschaue, kommt oft Faszination dazu.
Die Pflanzen wachsen so lange, wie genügend Nährstoffe und Platz zur Verfügung stehen. Ist das bei uns Menschen auch so?
Pflanzen hören vor allem dann auf zu wachsen, wenn sie die optimale Größe gefunden haben. Bei uns Menschen als biologischen Wesen ist das auch so, wir werden ja auch nicht vier Meter groß, weil wir sonst irgendwann aus den Latschen kippen. Gesellschaftlich gesehen ist genau das dieser wichtige Suchprozess: Wachsen, bis ich für eine bestimmte Funktion eine mehr oder weniger optimale Konfiguration erreicht habe.
Wie meinst du das?
Die Beurteilung dessen, ob wachsen gut ist oder nicht, sollte mit der Frage starten: Was wollen wir denn erreichen? Bei biologischen Systemen ist das neben dem Überleben je nach Bewusstseinsgrad auch das Erleben. Daraus ergeben sich dann zum Beispiel Fragen nach der Geschwindigkeit, mit der Organismen sich entwickeln oder was sie an Informationen oder Energie sinnvoll verarbeiten können. „Mehr“ und „besser“ sind da bei Weitem nicht immer das Gleiche. Es geht um das richtige Maß. Sonst starren wir die ganze Zeit gebannt auf den Tacho, ohne uns zu fragen, wo wir eigentlich hinwollen und was die Tankanzeige so sagt.
Kopf in den Büschen: Als Expertin für Nachhaltigkeitspolitik verflicht Maja Göpel im Botanischen Garten in Berlin die Natur mit der Wirtschaft
Ist Wachstum also nicht immer prinzipiell gut?
Nein. Bei Krebszellen und Corona-Viren finden wir Wachstum doch auch nicht so super.
Du hast als Kind mit deinen Eltern und weiteren Familien in einer Wohngemeinschaft in einem Dorf bei Bielefeld gelebt. Was hat dir beim Aufwachsen gut getan?
Die Diversität. Mit drei Familien in einem Haus zu wohnen, gibt dir einen Freiraum, der größer ist als deine Kernfamilie – und das hat alle entstresst.
Hat dir etwas gefehlt? Oder geschadet?
Ich war mega privilegiert, gefehlt hat mir nichts. Und einen Schaden haben wir doch alle, oder? Ich bin super darin, mich selbst fertig zu machen, mich stark unter Druck zu setzen und zu hohe Ansprüche zu haben. Keine Ahnung, wie man das jemals herausbekommt.
Lass uns über Geld reden. Was sagst du als Ökonomin: Ist Geld die Wurzel allen Übels?
In der heutigen Form, oft ja.
Dein Bestseller heißt „Unsere Welt neu denken“. Wie können wir Geld neu denken?
Indem wir Geld nicht mehr als Ding wahrnehmen, sondern als eine Form von Energie, die es mir ermöglicht, Dinge zu tun. Aktuell stellen wir uns Geld als einen Haufen vor, der auch noch begrenzt ist. Dabei haben wir doch eigentlich viel zu viel Geld auf diesem Planeten, das sich aber zu großen Teilen innerhalb der Finanzmärkte um seine eigene Vermehrung kümmert und gar nicht mehr in die Realwirtschaft kommt. Das muss sich ändern und der Einsatz von Geld wieder reale Wertschöpfung ermöglichen. Die eigentlich begrenzten Ressourcen sind Ökosysteme und Menschen, die arbeiten. Geld arbeitet nicht.
Aber Menschen arbeiten für Geld. Du doch auch – oder nicht?
Ja, natürlich. Geld ist eine wichtige gesellschaftliche Erfindung, die uns nicht nur Wert ausdrücken lässt, sondern auch Tauschprozesse koordiniert – Arbeitszeit gegen Geld, Geld gegen Lebensmittel. Aber Geld hat keinen direkten Nutzwert und Preise sagen heute oft nicht die Wahrheit über die geschöpften oder zerstörten Werte dahinter. Deshalb sind Preise politisch: Wer subventioniert denn das Autofahren oder tägliches Fleisch in öffentlichen Kantinen? Wir alle. Preise sind nicht neutral, sondern immer auch Ausdruck von gesellschaftlichen Vereinbarungen und Machtstrukturen.
Was hat das mit deiner Arbeit zu tun?
Die Frage der Verhältnismäßigkeit habe ich immer im Hinterkopf. Ich nehme für einen Vortrag im Unternehmenssektor eine relativ hohe Summe – da in diesem Sektor eben hohe Summen gezahlt werden. Es gibt Personen, die sagen, dass das nicht zu meiner inhaltlichen Arbeit zu sozialer Gerechtigkeit passt. Aber dann hätte ich nur zwei Möglichkeiten: mich unter Wert für den Kontext zu verkaufen oder nicht in dem Kontext sprechen. Als Selbständige geben mir die hohen Honorare die Freiheit, in anderen Kontexten ehrenamtlich arbeiten zu können.
Du möchtest also keine konkrete Zahl für deinen Verdienst nennen?
Ich verdiene im Moment als Selbständige tatsächlich so gut wie noch nie in meinem ganzen Leben, ich bin sehr frei, meinen Alltag zu gestalten. Allerdings empfinde ich auch keine Faszination für Luxus und Statusgüter. Dennoch gibt es Leute, die fragen: Darf die Göpel eigentlich so viel Geld verdienen mit ihrer Agenda?
Und, darfst du es?
Wir reden hier über ein Einkommen, das sehr viele Personen im gehobenen öffentlichen Dienst für normal und unternehmerische Führungskräfte für viel zu gering halten würden. Natürlich könnte ich mit viel mehr Vorträgen im Corporate-Kontext auch sehr viel mehr Geld verdienen, die Anfragen sind da. Aber das tue ich nicht. Es geht mir genau um die ausgewogene Verbindung mit vielen Teilen der Gesellschaft. Ich halte es mit Robin Hood: Mit meinem Einkommen wächst das, was ich weitergeben kann. Ich freue mich darüber, mehr Geld spenden oder verschenken zu können.
Warum wollen wir immer mehr Geld besitzen?
Wir orientieren uns an denen, die am meisten haben. Das ist ganz tief einprogrammiert in der Art und Weise, wie wir über ein erfolgreiches Leben sprechen. Und das wird auch medial und in der Werbung unglaublich inszeniert. So landen wir allerdings im Hamsterrad: Uns fällt es schwer, mit unserem Besitz zufrieden zu sein, weil wir das Gefühl haben, die anderen setzen sich weiter ab. Und dieses Phänomen hört auch nicht auf, wenn wir immer mehr besitzen oder verdienen. Viele der reichsten ein Prozent sind genauso unzufrieden, weil es immer noch jemanden gibt, der mehr hat.
Kannst du es nachvollziehen, wenn Menschen sagen, es macht sie glücklich, viel Geld zu besitzen?
Die Gesellschaft verleiht mir Freiheit und Status, wenn ich viel Geld besitze. Aber: Das ist keine intrinsische Glücksquelle, also keine, die von innen heraus kommt. Es ist von externen Rückmeldungen abhängig, ob das, was ich besitze, mich noch glücklich macht – oder nicht. Statuskonsum löst nur einen kurzen Hype aus. Nach kurzer Zeit ist mir das teure Auto vor der Tür eher egal. Und wenn dann noch ein Kind sagt: „Dein SUV ist zu groß für unsere Stadt“, kann dieses Glücksgefühl des Autokaufs ganz schnell wieder kippen.
Bei welchen Käufen empfindest du dieses Hype-Gefühl?
Ich kenne das von ästhetisch eindrucksvollen Dingen. Kleidung oder Möbel, bei denen ich das Handwerk bewundere. Die mag ich auch sehr lange und repariere sie oft. Oder bei unheimlich leckerem Essen. Aber ich muss immer zwischen dem Gefühl der Euphorie und Dingen unterscheiden, die mir eine tiefe Zufriedenheit geben. Der Hype des Neuen ändert sich in eine dankbare Beziehung – wie in der Liebe auch.
Welcher Besitz verschafft dir diese tiefe Zufriedenheit?
Ein Rückzugsort ist mir unglaublich wichtig. Meine eigene kleine Scholle, die ich mir schön einrichten kann und wo ich einfach „Queen of the castle“ bin. Das muss aber kein megalomanisches Schloss sein.
Und auf was verzichtest du bewusst?
Ich fliege so gut wie gar nicht. Ich shoppe wenig Klamotten und liebe meinen Mantel auch dann noch, wenn ein Knopf fehlt. Ich esse schon seit langer Zeit kein Fleisch mehr. Und ich lege mein Geld nachhaltig an, auch wenn ich damit weniger Rendite bekomme. Aber: Auch solche Geldanlagen können gut performen.
Warum investieren dann nicht alle Anlegerinnen in nachhaltige Fonds?
Weil es immer noch weniger Gewinn bringt. Wer weiter in fossile Energien investiert, mit Nahrungspreisen spekuliert und sein Geld bei Unternehmen anlegt, die Dividende über Nachhaltigkeit stellen – wer also sagt, „mir ist die Welt ziemlich egal, Hauptsache, mein Portemonnaie wird dicker“ – der kann ziemlich viel Geld verdienen. Und bekommt dafür viel Applaus. Aber dann muss ich mich auch fragen, in was für eine Welt ich investiere.
Mit viel Geld kommt eben auch viel Macht. Menschen wie Elon Musk können sich ganze Meinungsplattformen kaufen.
In der ersten Aufklärung haben wir mal bestimmt, wir wollen keine Plutokratie mehr, keine Herrschaft der Reichen. Wir nähern uns aktuell aber wieder diesen Zuständen an – und feiern die Leute dafür ab, statt uns zu fragen, wie es passieren kann, dass jemand hundert Milliarden besitzt und wer die Regeln, die das möglich machen, beeinflusst hat.
Warum ist die Finanzbranche so getrieben von Macht und Ansehen?
In der Branche ist die Key Performance besonders einfach definiert: Möglichst viel Geld machen, möglichst schnell. Dafür nutzt man eine ganz eigene Sprache und lebt einen bestimmten Habitus, nach dem Motto: „Wir sind besser, die anderen checken es einfach nicht.“ Und auch die Ansicht: „Es geht doch eh alles den Bach runter, dann will ich wenigstens zusehen, dass ich der Luxus-Prepper bin“, ist verbreitet. Alles Narrative, die bestimmte Verhaltensweisen rationalisieren – teilweise toxische.
Ist Geld also nicht das wichtigste Kapital unseres Zusammenlebens?
Nein. Es ist die erste Kapitalform, die man weglassen könnte. Stattdessen brauchen wir Humankapital, Sozialkapital und natürlich das Naturkapital. Bei keinem davon würden wir „mehr“ mit „besser“ gleichsetzen oder überhaupt davon ausgehen, dass das möglich ist. Immer mehr Natur geht nicht, die Fläche ist begrenzt. Immer mehr Institutionen machen das Zusammenleben auch nicht besser. Immer mehr Bildung? Dann kriegen wir irgendwann einen mental overload. Auch das Realkapital in Form von Produktionsgütern als vierte Form sollte nicht immer zunehmen, sondern zu den aktuellen Herausforderungen passen. Bei den vier genannten Kapitalformen geht es um Qualität, nicht Quantität. Finanzkapital ist das einzige, das immer weiter wachsen kann. Und lange Zeit galt: Wenn ich mehr habe, geht es mir besser. Das ist heute nicht mehr der Fall. Stattdessen müssen wir uns fragen: Wann reicht’s denn irgendwann mal? In reichen Gesellschaften sehen wir eine viel zu hohe Arbeitsbelastung und Burnout – und nennen es dann „Produktivitätssteigerung“. Ist das noch eine für Menschen artgerechte Haltung?
Was wäre denn artgerechter?
Biologische Lebewesen und Systeme wachsen nicht exponentiell, sondern regenerativ. Sie können sich nicht nur verausgaben, sie brauchen auch Erholungspausen.
Wann war der Kipppunkt, an dem aus Wachstum Wuchern wurde?
Viele Studien kommen in etwa auf das Jahr 1978, als in den ersten Ländern eine Entkopplung zwischen steigendem Wohlstand und steigender Lebensqualität stattgefunden hat. In der Forschung sprechen wir von Wachstumszwängen, Wachstum um jeden Preis. Heute beobachten wir einen weiteren Kipppunkt: In einigen Bevölkerungsgruppen, die sehr viel Geld verdienen, geht die Zufriedenheit wieder zurück – die Forschenden erklären das mit Überarbeitung und Stress.
Medien, Marketing und PR kommunizieren wirtschaftliches Wachstum grundsätzlich als etwas Positives. Was ist falsch daran?
Das Wort „Wachstum“ wird viel zu undifferenziert genutzt, als ein Sammelbegriff von Bruttoinlandsprodukt, Investitionsvermögen, Lebensqualität bis hin zu menschlicher Entfaltung. So entstehen Schlagzeilen wie: „Habeck will das Wachstum abschaffen!“ Wer ist denn „das Wachstum“? Das hat sich bei mir noch nicht vorgestellt, ebensowenig wie „die Märkte“. Wachstum wird gerne mal zum Subjekt gemacht und als Voraussetzung für etwas dargestellt. Dabei misst der damit verbundene Indikator, das Bruttoinlandsprodukt, immer nur die Vergangenheit. Und menschliche Entfaltung hängt sehr stark mit Tätigkeiten zusammen, die überhaupt gar nicht im BIP eingerechnet werden. Viele würden sich ja befreit fühlen, wenn sie mehr Zeit für Care-Arbeit hätten – aber solange die nicht bezahlt wird, tut die ja gar nichts fürs Wachstum, ist ökonomisch betrachtet die unproduktivste Form unserer Existenz.
Das Bruttoinlandsprodukt ist ein konkreter, messbarer Indikator für Wachstum. Wird der Begriff dadurch nicht greifbarer?
Das Bruttoinlandsprodukt ist ein qualitativ blinder Indikator. Es sagt nichts über den Zustand unserer vier Kapitalformen aus. Die Flut im Ahrtal hat das BIP wachsen lassen. Aber niemand wird sagen, dass das in irgendeiner Form ein fortschrittsförderlicher Vorfall gewesen ist. Wir brauchen stattdessen Indikatoren, die uns verstehen lassen, ob wir uns qualitativ in Richtung gesellschaftlicher Ziele bewegen – oder nicht. Was entsteht, was geht kaputt durch die heutige Form des Wirtschaftens? Mit welcher Form des Wirtschaftens erreichen wir das bestmögliche Wohlergehen für möglichst viele Menschen, bei dem geringstmöglichen ökologischen Fußabdruck? Das sagt uns das Bruttoinlandsprodukt einfach nicht.
Dein Forschungsgebiet, die Ökonomie, ist voll von solchen Messwerten. Fühlst du dich trotzdem darin wohl?
Als Politökonomin interessiere ich mich vor allem auch für Narrative, Institutionen, Interessen und Macht, die mit und um diese Zahlenwerke entstehen. Und dafür, wie die ökonomische Denkweise uns helfen kann, die dringenden Probleme der Zeit zu lösen. Im öffentlichen Diskurs wird dann gerne das Bild vermittelt, dass weibliche Ökonominnen an Gesundheit, Familie und Umwelt interessiert sind, während sich die Jungs um die „harte Ökonomie“ der Märkte kümmern. Da frage ich mich: Wem sollte erfolgreiches Wirtschaften denn dienen, wenn nicht dem Erhalt unserer Lebensgrundlagen und dem Wohlergehen der Bevölkerung? Ich finde es cool, dass sich die Frauen um die essentiellen Grundlagen von menschlicher Entwicklung kümmern. Schade ist, dass sie damit als „Ausreißer“ gelten.
Sind deine Ideen eines nachhaltigen Wirtschaftens wirklich umsetzbar?
Wie kommen wir auf die Idee, dass nicht nachhaltiges Wirtschaften weiter tragbar ist? Wir haben uns in den letzten 200 Jahren alle Mühe gegeben, den denkenden Teil in uns so zu glorifizieren, dass dieser mit dem biologisch-verrottenden Rest des Körpers möglichst wenig zu tun hat. Nach dem Motto: „Macht euch die Natur untertan!“ Dabei vergessen wir, dass wir in die Natur eingebettet sind. Die Corona-Viren haben das doch gerade erst wieder eindrücklich vorgeführt. Trotzdem schieben uns das große Geld und die großen Ideen zum Ziel, unsterblich zu werden, um uns am Ende ins Metaverse zu beamen. Aus meiner Sicht ist dieser Split zwischen Natur und Mensch ein ganz, ganz großer Fehler in unserem Denken.
Wie lebst du im Einklang mit der Natur?
Immer dann am besten, wenn ich entschleunige und im Moment bin. Ich liebe es, mit Pferden zu sein – oder einfach Sand unter den bloßen Füßen zu spüren. Die Augen schließen und den Wind oder die Sonne auf der Haut wahrnehmen. Und ausreichend schlafen, auch das hilft dem Einklang mit meinem Biorhythmus.
Natursauna: Im Tropenhaus kommt sie erst so richtig auf Betriebstemperatur – Maja Göpel im Gespräch mit Nancy Riegel
Und woran bist du in deinem Leben am meisten gewachsen?
An den größten Rückschlägen.
Hast du ein Beispiel?
Die Begleitung des Todes meiner besten Freundin. Ich bin sehr daran gewachsen, den Prozess ganz bewusst mitzugehen und habe wahnsinnig viel von ihr lernen dürfen. Ein anderes Feld sind Diffamierungen auf Social Media, die ich heute nicht mehr so nah an mich heranlasse. Auch Mobbing ist mir kürzlich begegnet. Da braucht es Resilienz, ohne zu verhärten.
Wie schafft man das?
Mit vielen tollen Menschen in meinem Umfeld. Und ich nehme mir Zeit für Meditation, Reflexion und Körperarbeit. Letzteres ist so unterschätzt, weil wir viele Dinge zwar kognitiv beackern, aber sie wohnen weiter in uns. Mein Körper kann mich erden, wenn ich ihn gut behandle.
Wie vermittelst du deinen beiden Töchtern den Mut, Bestehendes zu hinterfragen?
Ich nehme sie immer mit, nicht nur an Orte, sondern auch auf meinen Weg der Entscheidungsfindung. Ich sage ihnen nicht einfach: „Wir machen das jetzt so“, sondern erkläre ihnen meine Abwägungen. Und frage nach, wenn sie unzufrieden wirken.
Kann man das in die Kommunikation mit Erwachsenen übersetzen?
Ich versuche immer, folgende drei Fragen zu klären. Erstens: Worum geht’s eigentlich? Beispiel Veggie-Day in öffentlichen Kantinen: Hier geht es darum, eine klimatische Katastrophe abzuwenden, weniger Tiere zu quälen und die Gesundheit zu verbessern – nicht darum, dass die Grünen in deine Küche rennen und dir das Schnitzel aus der Pfanne reißen. Zweitens: Was passiert auf lange Sicht? Wir sind unglaublich in Kurzfristigkeit gefangen, zum Beispiel bei nachhaltiger Landwirtschaft. Hier kommt es bei einer Umstellung kurzfristig zu Umsatzeinbußen, auf lange Sicht pendeln sich Umwelt und Ertrag aber neu ein. Und drittens: Was ist der Umkehrschluss? Wenn wir die Problemanalyse teilen, mein Vorschlag aus deiner Sicht aber nicht funktioniert, dann mach mir ein Gegenangebot. Sonst fahren wir gegen die Wand.
Dieser Beitrag ist Teil der turi2 edition #18 Kapital – alle Geschichten hier im E-Paper:
Siehst du diese Abwägungen in der öffentlichen Kommunikation? Hier wird immer wieder der Vorwurf der Bevormundung laut.
Ich finde, dass beispielsweise vom Wirtschaftsministerium jetzt viel besser in diesem Sinne erklärt wird. Das nimmt die Leute ernst. Bevormundung ist für mich eher, wenn jemand den Anspruch erhebt, für „die Leute“ zu sprechen. „Die Leute wollen bei Corona-Lockerungen sofort wieder nach Mallorca reisen“ – in Umfragen hat frau gesehen, dass das überhaupt nicht stimmt. Die Politik muss erläutern, warum sie bestimmte Entscheidungen trifft. Aber eine nachvollziehbare Evidenzbasis wäre schon geil.
Was kann die Wirtschaft von der Natur lernen?
Systemisch zu denken. Zu merken, dass ich nicht einzelne Elemente rausrupfen, rumschieben und komplett neu gestalten kann; sondern dass lebendige Systeme aus einem Zusammenspiel entstehen. Wenn ich zu viel rausrupfe, funktioniert dieses Zusammenspiel nicht mehr.
Maja Göpel
Geb. 1976 in Bielefeld
2001: Diplom Medienwirtin, Europazertifikat Universität Siegen
2007: Promotionsstipendium und Lehre an Unis Hamburg, Kassel und York zur Dr.rer.pol. und Welthandelsexpertin
2006:Campaignerin Klima/Energie und Direktorin Future Justice beim Startup World Future Council in Brüssel
2011:Geburt ihrer ersten Tochter
2013: Leiterin Berliner Büro des Wuppertal Instituts
2014: Geburt ihrer zweiten Tochter
2017: Generalsekretärin im Wissenschaftlichen Beirat Globale Umweltveränderungen der Bundesregierung
2019: Mitinitiatorin der Scientists for Future
2020: Bestseller „Unsere Welt neu denken“
2021: Wissenschaftliche Direktorin The New Institute, Hamburg
2022: Sachbuch „Wir können auch anders“