turi2 edition #19: Daniel Meßner und Richard Hemmer über Geschichte und Geheimnisse.
9. Oktober 2022
Mission Impostor: Zwei verpeilte Historiker beginnen 2015 in einer Wiener Wohnküche „Geschichten aus der Geschichte“ zu erzählen. Sieben Jahre und 365 Folgen später sind Daniel Meßner und Richard Hemmer zwei stille Stars der Branche. Manchmal befürchten sie: “Bald kommt jemand und nimmt uns das alles weg”, sagen sie im großen Interview in der turi2 edition #19. Bis dahin wollen sie erst mal weitermachen.
Zwei Stars machen einen Podcast – das ist eine Überschrift, die man öfter liest. Passt bei euch: Ein Podcast macht zwei Stars?
Daniel: Ich würde sagen: Der Podcast ist der Star. Der Podcast steht im Vordergrund und wir beide als Personen im Hintergrund. Ich freue mich, über die Aufmerksamkeit, die der Podcast kriegt, aber ich selbst bräuchte sie nicht.
Richard: Wir sind einfach zwei Leute, die einen erfolgreichen Podcast machen und dafür ein gewisses Maß an Aufmerksamkeit kriegen. That’s it!
Ihr habt TV-Auftritte, macht Bühnen-Podcasts, verkauft T-Shirts und Tassen, habt eine richtige Fan-Gemeinde.
Daniel: Wenn du sieben Jahre lang jede Woche in den Ohren der Leute bist, entsteht natürlich eine gewisse Bindung.
Richard: Aber wir müssen uns nicht als Popstars gerieren. Nüchtern betrachtet sind wir zwei Typen, die Geschichte studiert haben. Mehr nicht.
Richard Hemmer (links) und Daniel Meßner haben früher viel Zeit in der Österreichischen Nationalbibliothek in Wien verbracht. Heute arbeiten sie von zu Hause aus – am liebsten in der Horizontalen.
Richard, du hast gesagt, dass du deine Arbeitstage am liebsten liegend und lesend verbringst.
Richard: Ich habe tatsächlich am liebsten meine Ruhe und mache die Sachen in meiner Geschwindigkeit. Dazu gehört, dass ich gern auf dem Bett liege. Das ist, glaube ich, auch gesünder als Sitzen.
Daniel, du hast bekannt, dass du bei Vorträgen im echten Leben durchaus das Gefühl hattest, dein Auditorium zu langweilen. Wie konnte es passieren, dass zwei verpeilte Junghistoriker zu Stars der Szene werden?
Daniel: Mich wundert es schon manchmal, dass wir so einen Erfolg haben. Wir leiden ja beide ein bisschen am Impostor-Syndrom…
…dem Gefühl, ein Hochstapler zu sein, der jederzeit auffliegen kann.
Daniel: Ich habe das Gefühl: Das, was ich mache, macht mir so viel Spaß – es kann doch gar nicht sein, dass sich so viele Leute dafür begeistern. Ich befürchte immer, dass mir jemand sagt: Das ist super langweilig, was ihr macht, das kann ja wohl nicht wahr sein, dass ihr so einen Erfolg habt.
Richard: Ich denke manchmal: Bald kommt jemand und nimmt uns das alles weg.
Was ist das Geheimnis eures Erfolgs? Früh anfangen – und dann ganz einfach nicht mehr aufhören?
Richard: Auf jeden Fall. Als wir den Podcast 2015 gestartet haben, waren wir für den deutschsprachigen Raum recht früh dran. Und es war von Anfang an Teil des Konzepts, dass wir jede Woche eine Folge abliefern.
Daniel: Das Besondere ist, dass wir es Stück für Stück aufgebaut haben. Es gab keine Sprünge, wir haben keine Werbung geschaltet, es war einfach ein siebenjähriges, stetes Ansteigen. Und wir sind authentisch geblieben. Wir haben alles, was man in dem Podcast hört, im Podcast selbst entwickelt.
Der Podcast “Geschichten aus der Geschichte”
startet 2015 als Indie-Projekt der beiden Historiker Daniel Meßner und Richard Hemmer in Wien. Er rangiert 2022 mit über 1,6 Millionen Downloads pro Monat in den Top 10 der meistgehörten deutschen Podcast laut agma. Der Podcast lebt von der Spannung zwischen dem stets gut vorbereiteten, etwas spröden Deutschen Meßner und dem locker parlierenden Österreicher Hemmer. Er heißt bis 2020 „Zeitsprung“, dann wird der Name abgemahnt. Seitdem trägt er seinen Untertitel als Titel: „Geschichten aus der Geschichte“, kurz: GAG. Er wird seit 2020 von Seven.One Audio vermarktet
Der eine weiß nicht, was der andere ihm erzählt – das stellt ihr immer als Konzept heraus. Aber ist das nicht so entstanden, dass jeder von euch sich nur alle zwei Wochen vorbereiten wollte?
Daniel: Oh, unser Geheimnis ist enthüllt! Viele Geschichts-Podcasts funktionieren so, dass beide Hosts gemeinsam eine Geschichte erzählen. Dafür hätten wir ein Skript machen müssen, dazu konnten wir uns nie aufraffen.
Richard: Vieles an unserem Konzept ist aus der Faulheit geboren. Daniel hat mich 2015 gefragt, ob ich mit ihm einen wöchentlichen Podcast mache, zwei Wochen später ging’s los. Konzept war nur, dass immer einer von uns beiden die Geschichte vorbereitet. Ich hatte ein gemeinsames Dokument angelegt, in das wir unsere Themen eintragen sollten. Tatsächlich hat das nie einer gemacht und so waren wir vom Start weg authentisch ahnungslos.
Ihr habt praktisch euer Versagen zum Konzept erklärt?
Richard: Story of my life!
Daniel: Das ist eigentlich recht typisch für uns und den Podcast, dass wir ein bisschen naiv von einem Thema ins nächste stolpern.
Himmel über Wien: Der Augustiner-Lesesaal der Österreichischen Nationalbibliothek glänzt mit einem Deckenfresko von 1773, kontemplativer Stille – und bestem W-LAN
Wie wichtig für den Erfolg sind die Rituale in eurem Podcast?
Daniel: Total wichtig. Wir wüssten nicht, wie wir einsteigen, wie wir die Übergänge machen sollten. Du darfst nicht vergessen, dass wir Moderation nie gelernt haben; wir brauchen etwas, woran wir uns festhalten können.
Richard: Die Rituale sind zentral. Wenn ich mal einen anderen Podcast mache, weiß ich nie, wie ich den Podcast beenden kann. Ich bin so daran gewöhnt, dass wir immer dem einen das letzte Wort geben, der es immer hat.
Dem früheren österreichischen Bundeskanzler Bruno Kreisky mit seinem „Lernen’s a bissl Geschichte, dann werden’s sehn, wie sich das damals entwickelt hat.“ Wie wichtig ist, dass ihr seit Oktober 2015 Woche für Woche eine Geschichte aus der Geschichte abliefert – ohne eine einzige Pause?
Daniel: Sehr wichtig. Es gibt viele Podcasts, die nicht mehr aus der Sommerpause zurückgekommen sind. In meinem Kopf wäre eine größere Pause der Anfang vom Ende.
Richard: Wir pushen uns gegenseitig, ohne uns pushen zu müssen. Ich bin grundsätzlich ein eher undisziplinierter Mensch, aber ich wollte Daniel nie enttäuschen.
Könnte der anhaltende Erfolg auch darin liegen, dass ihr eurem Publikum keine Meinung aufdrängt?
Richard: Wir haben schon eine Haltung, die man raushören kann, wenn man den Podcast regelmäßig hört.
Daniel: Ich glaube, damit sind wir eine bisschen eine Ausnahme, weil die Hosts vieler Podcasts sehr meinungsstark auftreten. Bei uns ist das sehr reduziert, und ich glaube, das schätzen viele Leute.
Bis vor kurzem gab es von Richard nicht mal Fotos im Netz. Auf dem einzigen Video, das es lange Zeit von euch gab, war von Richard nur ein fuchtelnder Arm am Bildrand zu sehen. Ihr wart eigentlich die perfekten Anti-Stars – kann das so bleiben?
Richard: Ganz so nicht, siehe dieses Interview mit dir. Aber viel mehr soll es nicht werden.
Daniel: Für mich ist es derzeit fast der Idealzustand. Der Podcast bleibt der Star, wir selber müssen jetzt ein bisschen sichtbarer werden.
Ihr lasst euch jetzt professionell vermarkten. Warum gerade von Seven.One Audio, warum nicht von Podstars, Podimo oder RMS?
Richard: Seven.One Audio ist an uns herangetreten. Dahinter steht mit der Seven.One Entertainment Group ein großes Medienhaus, das sicher weiß, was es tut. Da fühlen wir uns sehr gut aufgehoben.
Sieht man euch bald im Fernsehen?
Daniel: Die Redaktionen arbeiten natürlich unabhängig, aber wir freuen uns, wenn sie auf uns zukommen.
Richard: Einen Werbeclip mit uns gibt es ja schon. Der läuft lustigerweise unter anderem im Werbeblock von „Akte X“.
Wie peinlich ist es für euch als frühere Indie-Podcaster, wenn ihr im Umfeld von „Akte X“ auftaucht, Frühstückstassen und T-Shirts verkauft, Bühnenshows macht?
Daniel: Das ist uns gar nicht peinlich. Die Idee für Merchandise-Produkte kam von Hörerinnen und Hörern, die danach gefragt haben, weil sie gern aus Bechern von ihrem Lieblings-Podcast trinken wollten oder im T-Shirt dafür rumlaufen wollten. Der Wunsch nach Bühnen-Podcasts kam von einer Agentur und von unseren Fans.
Ihr schwärmt gegen Bezahlung für die Online-Drogerie KoRo und die Versicherungs-App Clark.
Richard: Wir schwärmen nur dann über unsere Werbekunden, wenn es etwas zu schwärmen gibt. Und bei KoRo gibt es einfach sehr gute Sachen zu kaufen.
Daniel: Die Host Reads, die wir machen, wirken natürlich persönlicher und sind im Moment im Podcast praktisch der Standard. Ich fühle mich auch wohler so, als wenn wir eine anonyme Radiowerbung einspielen würden. Der Text kommt eben nicht von KoRo; wir überlegen selbst, was wir da erzählen.
Mit dem Briefing des Werbekunden.
Richard: Wir suchen uns aus, für wen wir Werbung machen und für wen nicht. Nicht jeder Kunde, der uns Geld bietet, kriegt eine von uns eingesprochene Werbung. Wir haben schon Kunden abgelehnt, die für uns und unser Publikum problematisch gewesen wären.
Daniel Meßner und Richard Hemmer im Gespräch mit Peter Turi
Du hast noch 2020 in einer Online-Diskussion mit österreichischen Podcastern gesagt: „Wir fühlen uns nicht wohl mit Werbung, wir wollen das nicht.“
Richard: Da haben wir unsere Meinung tatsächlich geändert. Wir haben den Podcast fünf Jahre lang neben unseren Jobs gemacht, aus einer intrinsischen Motivation heraus. Der Wendepunkt war, als wir bemerkt haben, dass wir mit Werbung aufgrund der hohen Reichweite so gut verdienen könnten, dass wir beide davon leben können. Das haben wir jetzt erreicht.
Daniel: Ich habe mir vor zwei Jahren nicht vorstellen können, dass das funktioniert und wir uns mit Werbung wohlfühlen. Wir kommen ja aus dem Indie-Bereich, wo Werbung ein bisschen verpönt ist.
Wie hat euer Publikum darauf reagiert, dass ihr plötzlich mit Werbung angefangen habt?
Daniel: Viel besser als erwartet. Es gab kaum Kritik oder Gegenwind.
Richard: Wir bieten Leuten, die partout keine Werbung hören wollen, eine Alternative an, indem sie für vier Euro im Monat über Steady oder Apple Podcasts einen werbefreien Feed des Podcasts beziehen können.
Und wie viele Fans bezahlen vier Euro im Monat, um der Werbung zu entgehen?
Richard: Ich glaube, 1.000.
Daniel: Ne, das sind nur etwa 500. Das Erstaunliche ist, dass das Gegenteil passiert ist von dem, was wir erwartet hatten. Es gibt Rückmeldungen von Leuten, die sagen: Schade, dass heute keine Werbung drin war. Oder sie sagen: Ich würde euch gern Geld geben, aber die Werbung will ich trotzdem hören.
Was kostet so eine Presenter-Werbung bei euch pro Folge?
Richard: Die genauen Zahlen habe ich gar nicht im Kopf, da fragst du am besten Seven.One Audio. Die haben für uns einen dynamischen Ad-Server eingerichtet, da wird es ein bisschen kompliziert.
Wie viele Nutzer habt ihr?
Daniel: Laut agma haben wir 1,8 Millionen Downloads von einzelnen Folgen erzielt im Mai 2022 und 1,9 Millionen Downloads im Juni 2022. Wir liegen damit auf Rang acht des agma-Rankings. Da fehlen zwar die großen Spotify-Originals, aber ich finde es trotzdem unglaublich für einen Indie-Podcast wie uns. Wir werden häufig unterschätzt, fliegen für viele immer noch unterm Radar, weil wir eben keine Medienstars sind.
Richard: Die 350 Archiv-Folgen machen da viel aus. Wer uns neu entdeckt, kann über 350 Folgen anhören, die absolut zeitlos sind und auch in zehn Jahren noch gehört werden können.
Ihr habt jetzt eine GmbH gegründet. Warum?
Richard: Weil es einfacher ist, wenn du ernsthaft Umsätze verbuchen willst. GeschichteFM GmbH heißt die Firma, mit Sitz in Wien.
Daniel: Und einer unselbstständigen Betriebsstätte in Hamburg. Wir sind mit je 50 Prozent beteiligt und beide Geschäftsführer.
Welche Pläne habt ihr noch mit dem Podcast?
Richard: Eigentlich soll es nur so weitergehen, wie es jetzt läuft.
Ihr gründet eine GmbH, lasst euch vermarkten – und plant keine Expansion? Keine Diversifikation, kein Cross-Media?
Richard: So Sachen können passieren, aber wir müssen jetzt nicht wahnsinnig diversifizieren und wollen lieber nur Sachen machen, die uns wirklich Spaß machen.
Daniel: Die Reichweite darf so bleiben oder noch steigen. Aber wir sind kein Startup, das skalieren muss. Wir wollen jetzt keine Produktionsfirma bauen oder einen zweiten oder dritten Podcast produzieren.
Seid ihr nicht an dem Punkt, wo ihr sagt: Jetzt verdienen wir genug Geld, jetzt nehmen wir uns jemanden für den Schnitt, für PR und Social Media?
Richard: Eigentlich arbeiten wir total bootstrapped, aber beim Schnitt machen wir das teilweise schon. Das Schneiden an sich ist nicht der große kreative Prozess, sondern nur eine Notwendigkeit. Das ist also okay, wenn das jemand anders macht.
Daniel: Ich würde aber nicht wollen, dass wir den Podcast am Ende nur noch managen. Ich will im operativen Geschäft bleiben, ich will die Geschichten vorbereiten. Ich will derjenige sein, der am Kern arbeitet.
Wollt ihr, was ihr macht, bis ans Ende eurer Tage machen?
Richard: Warum nicht? Ich habe es mir kürzlich mal ausgerechnet: Wenn ich 65 bin, haben wir es genau 30 Jahre gemacht oder um die 1.500 Folgen. Dann komme ich ins Pensionsalter – und so lange können wir es schon noch machen. Oder, Daniel?
Daniel: Vielleicht als Bonus und zur Aufbesserung der Rente nochmal 500 Folgen dazu, dann sind die 2.000 voll.
Was werden künftige Historiker über das Phänomen Podcast sagen?
Daniel: Dass sich in den Zehner- und Zwanzigerjahren des 21. Jahrhunderts mit Podcasts ein Mediengenre auf breiter Ebene durchgesetzt hat, das lange Zeit unterschätzt wurde, aber perfekt in die Zeit passte.
Frage an die Historiker: Glaubt ihr, dass eure Podcasts ein paar Jahrhunderte überdauern werden?
Daniel: Jetzt, da wir endlich Backups machen: Ja! Es hat tatsächlich eine ganze Zeit gedauert, bis wir gemerkt haben, dass wir nur das eine Original auf dem Server haben.
Richard: Wenn die Menschheit die nächsten Jahrhunderte überlebt, dann überdauern auch unsere Podcasts.
Besteht nicht die Gefahr, dass digitale Medien viel schneller verschwinden als analoge? In Stein gemeißelte Inschriften halten viel länger als Bücher aus Papier. Eine Schellackplatte überlebt wahrscheinlich viel länger als der Musik-Stream, da stirbt irgendwann das Format. Geht also die Menschheit auf einen digitalen Alzheimer zu?
Richard: Wie viele Stein-Inschriften und Schellackplatten hast du daheim?
Keine.
Richard: Natürlich sind Steininschriften super. Aber sie sind rar. Die digitalen Möglichkeiten sind exponentiell größer. Es gibt Podcast-Folgen von uns, die 500.000 mal runtergeladen wurden, davon existieren also 500.000 identische Versionen, die können nicht alle verloren gehen. Außerdem werden mehr und mehr alte Bücher digitalisiert und landen im Netz.
Daniel: Der Spruch „Das Netz vergisst nichts“ stimmt trotzdem nicht. Im Gegenteil: Das Netz vergisst wahnsinnig viel, weil Formate außer Mode kommen, Server abgeschaltet werden und so weiter. Aber ich glaube trotzdem: Das Problem ist eher, ob künftige Generationen die Sachen noch wiederfinden oder wertschätzen können im Wust der Dinge.
Wie digital arbeitet ihr?
Richard: Sehr. Ich müsste mein Bett so gut wie nicht verlassen. Mein Workflow ist komplett digital, meine Quellen sind großteils digital verfügbar. Ein Stromausfall wäre ungünstig, das wäre er aber für einen Podcast generell.
Und an Orten wie diesem, dem Augustiner-Lesesaal der Österreichischen Nationalbibliothek, verbringt ihr heute gar keine Zeit mehr?
Daniel: Als ich noch in der Forschung war, habe ich viel Zeit hier im Haus verbracht. Inzwischen wenig. Trotzdem finde ich es sehr wichtig, dass es noch Orte wie diesen gibt. Also Orte, die Wissen zugänglich machen, wo jedermann lesen, arbeiten, forschen kann, losgelöst von jeder kommerziellen Nutzung.
Drei Fragen noch an die Historiker. Karl Marx sagt: „Geschichte wiederholt sich nicht, es sei denn als Farce.“ Stimmt oder stimmt nicht?
Richard: Schon das Zitat ist falsch! Marx bezieht sich auf Hegel, der gesagt haben soll, dass alles zweimal passiert. Und zwar zuerst als Tragödie, dann als Farce. Marx spricht dabei ganz konkret über Napoleon III., der wie sein berühmter Onkel auch französischer Kaiser wurde – das ist die Farce. Insgesamt hat es in der Geschichte oft den Anschein, als würden sich Dinge wiederholen. Aber wenn man genauer hinschaut, sieht man, dass Dinge sich nicht wiederholen, sondern sich höchstens ähneln. Mark Twain wird manchmal die Aussage zugeschrieben: „History doesn’t repeat itself, but it often rhymes.“ Also: Geschichte wiederholt sich nicht, aber sie klingt oft bekannt.
Daniel: Weil der Kontext immer ein anderer ist. Und das Wissen um die Geschichte ist ja da. Schon allein deshalb kann sich zum Beispiel der Nationalsozialismus nicht wiederholen. Wenn er wiederkäme, bei all unserem Wissen darüber, wäre es eine neue Geschichte und noch größere Katastrophe.
Geschichtsschreibung ist immer die Geschichte der Sieger. Stimmt oder stimmt nicht?
Richard: Stimmt nicht! Nimm Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg: Die Geschichte, die dazu in Deutschland geschrieben wurde, war die Legende und die Umdeutungen der Verlierer. Und hat in den Zweiten Weltkrieg geführt. Der Satz ist gefährlich, denn er wird gern bemüht, um eine bestimmte politische Agenda zu forcieren.
Daniel: Der Punkt ist: Geschichte und auch Geschichtsschreibung sind nie neutral. Es gibt „die Geschichte“ nicht. Geschichte will etwas. Mit Geschichte wird immer in die eine oder die andere Richtung argumentiert.
Wenn wir aus der Geschichte nicht lernen, sind wir dazu verdammt, sie zu wiederholen. Stimmt oder stimmt nicht?
Richard: Es ist eine semantische Frage, was es bedeutet, aus der Geschichte zu lernen. Viele Leute lernen etwas über Geschichte, handeln aber trotzdem nicht so, wie es möglich wäre, wenn sie die richtigen Schlüsse aus der Geschichte ziehen. Was falsch oder richtig ist, steht aber nicht fest, sondern ist verschiedenen Blickwinkeln, aber auch Zeitströmungen unterworfen. Sicher ist: Man kann auch mit viel Geschichtswissen falsche, ja katastrophale Entscheidungen treffen.
Daniel: Trotzdem ist Geschichte elementar wichtig, um zu verstehen, wie die Welt geworden ist, was sie ist.
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Habt ihr den Anspruch, dass eure Hörer so viel lernen aus euren Podcasts, dass sie hinterher schlauer sind?
Daniel: Das schon. Vor allem sollen sie lernen, dass die Welt komplexer ist, als sie auf den ersten Blick scheint. Dass es sehr viel Grau gibt zwischen Schwarz und Weiß.
Wenn man euch nach eurem Beruf fragt, zum Beispiel auf einer Party: Was sagt ihr dann – Podcaster oder Historiker?
Richard: Wenn ich auf einer Party bin, dann sage ich Podcaster. Weil es nicht so oft vorkommt, dass jemand von seinem Podcast leben kann im deutschsprachigen Raum.
Und wo sagst du, dass du Historiker bist?
Richard: Wenn ich unter Historikern bin.
Daniel: Ich sage mittlerweile auch Podcaster. Da fragen die Leute nach, und Podcasts sind ein gutes Gesprächsthema. Wir sind ja auch mehr Podcaster als Historiker. Wir tragen nichts zur Forschung bei, wir nutzen sie nur.
Aber ihr helft bei der Vermittlung von Geschichte und weckt vielleicht auch Interesse, sich tiefer damit zu beschäftigen.
Daniel: Das sind mit die schönsten Rückmeldungen, wenn es heißt: Geschichte war in der Schule so langweilig, und bei euch merke ich, wie spannend es sein kann.
Was ist euer wichtigster Tipp für die turi2-Community nach sieben Jahren Podcast?
Richard: Mach, was dich interessiert und was du aus dir selbst heraus machen willst.
Wo seht ihr noch Marktlücken in der Podcast-Welt?
Daniel: Schwer zu sagen. Gerade bei Podcasts gilt: Was gefehlt hatte, erkennt man erst, wenn’s da ist.
Daniel Meßner
Geb. 1979 in Regensburg
2000 Studium der Geschichte in Regensburg, 2003 Wechsel nach Wien
2010 Promotionsstipendium der Österreichischen Akademie der Wissenschaften
2014 Forschungsaufenthalt am Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte in Berlin
2015 Mitgründung „Geschichten aus der Geschichte“
2016 Referent für Öffentlichkeitsarbeit an der Uni Hamburg
2022 Selbständig mit „Geschichten aus der Geschichte“
Richard Hemmer
Geb. 1980 in Graz, Österreich
2000 Studium der Medizin (ein Semester), Studium der Anglizistik und Geschichte (viele Semester, Abschluss 2013)
2010 Social-Media-Berater, Digital Affairs
2015 Selbständig als historischer Berater, Mitgründung „Geschichten aus der Geschichte“
2016 Projektmanager Toursprung
2019 Marketing Mondi UFP
2021 Selbständig mit „Geschichten aus der Geschichte“