turi2 edition #19: Thomas Jung über Pop-Radio und Personality.
4. November 2022
Keine alten Zeiten:Thomas Jung, Programmchef bei SWR3, arbeitet als bekennender Audio-Nerd daran, dass das Radio mit den neusten Entwicklungen im Musik-Business Schritt hält. Social Media ist für ihn aufgrund der Lebensrealität junger Menschen “längst logischer Bestandteil der Radioarbeit”, erzählt er im Interview der turi2 edition #19. Jung hat keine Lust, alten Zeiten nachzutrauern, denn “wer stehen bleibt, ist irgendwann raus.”
Thomas, wartest du noch ganz Old School, bis ein Titel im Radio läuft, oder streamst du ihn lieber direkt?
Ich drehe lauter, wenn ein Lieblingssong im Radio läuft… aber darauf warten? Natürlich streame ich, wenn es richtig cool ist, auch fünf Mal hintereinander – zuhause genauso wie im Auto. Vor Jahren schon hat bei mir Streaming jede andere analoge oder digitale Musik-Library ersetzt.
Welcher Typ Radiohörer bist du?
Ich bin leidenschaftlicher Radiomacher und Audio-Nerd. Linear und digital. Wenn ich einschalte, gibt es keinen Unterschied zwischen privatem und professionellem Ohr. Egal ob morgens zuhause, im Auto, im Office, am Wochenende oder beim Nachhören von Shows und Audios. Ich konsumiere täglich sicherlich zwölf Stunden Audio, manchmal auch 14. Davon logischerweise viel Radio. Wie klingt das, was wir uns programmlich ausgedacht haben? Wie wirkt die Themenmischung live? Wie ist die Anmutung? Treffen wir die Tagesstimmung?
Es gibt immer mehr One-Hit-Wonder, wenige Musiker schaffen es, über mehrere Alben hinweg erfolgreich zu sein. Hat das Auswirkungen auf das Radio?
Es hat für das Radio im Bereich der Musikprogrammierung keine großen Auswirkungen, weil es ja darum geht, dass es gute, neue Musik gibt und nicht von wem diese ist. Aus musik-journalistischen Gründen hat es natürlich Auswirkungen – Menschen sind grundsätzlich erstmal mehr an Personen interessiert, die sie kennen. Wenn wir im Radio eine Geschichte über Adele erzählen, ist das für unsere Hörer und Hörerinnen in der Regel interessanter als eine Geschichte über eine Newcomerin, bei der man in der Mitte des Beitrags schon wieder den Namen vergessen hat.
Und wie verändert das die Pop-Musik?
Grundsätzlich hat das One-Track-Signing auf jeden Fall den Musikmarkt verändert. Mit Blick auf die Streaming-Dienste nachvollziehbar. Aus Sicht des Radios, das ja auch zu und mit Künstlern über einen längeren Zeitraum emotionale Bindungen aufbauen möchte, ist das eine eher unschöne Entwicklung. Ein nachhaltiger Aufbau von Acts und richtig große Stars werden immer seltener. Eine Entwicklung, die sich nicht mehr zurückdrehen wird, das ist klar. Die Musik selbst wird es aber sicher nicht verändern – ein Hit ist ein Hit, auch wenn er es heute bei der Flut der Veröffentlichungen schwerer hat, wahrgenommen zu werden.
Welche Musik schafft es in das SWR3-Programm?
Unsere Musikredaktion sitzt jeden Montag bei der sogenannten “Abhörsitzung” zusammen und bespricht die Titel, die allen Mitarbeitenden die Woche über aufgefallen sind und die ins Musikprogramm von SWR3 passen könnten. Was bei SWR3 nicht stattfindet, ist zum Beispiel Deutschrap, der im Streaming super funktioniert, von unseren Hörerinnen und Hörern aber nicht gewollt wird. Wir konzentrieren uns als erfolgreiches AC-Format auf die Genres Pop und Pop Rock. Durch das SWR3 New Pop Festival laufen bei uns verhältnismäßig viele neue Künstler, von denen wir uns vorstellen können, dass sie erfolgreich werden und für das Event geeignet wären.
Guckt deine Musikredaktion auch, welche Titel gerade viral erfolgreich sind, also zum Beispiel bei TikTok gut laufen?
TikTok hat den Musikmarkt maßgeblich verändert – viele junge, gute, neue Künstlerinnen und Künstler haben es über diese Plattform geschafft. Es ist aber nicht so, dass die Musikredaktion nur die Trends auf TikTok verfolgt. Dennoch ist die Plattform ein Player am Musikmarkt geworden, dessen Bedeutung wir wahrnehmen. Die Beobachtung von TikTok ist ein Mosaikstein bei unseren Markt-Checks, wichtiger als Streaming-Raten oder Verkaufszahlen.
Du bist seit 1980 beim SWR. Was war früher besser?
Ich lebe im Hier und Jetzt und schaue nach vorne. Ich gehöre definitiv nicht zu denen, die sagen “früher war alles besser”. Wer diese These vertritt, hat aufgegeben, stellt sich den Herausforderungen des permanenten Wandels und dessen Geschwindigkeit nicht mehr. Seit ich im Medien-Business bin, gab es immer wieder Veränderungen, “Change” durch Konkurrenz, Technologie, Internet, Verbreitung, Endgeräte, Musik- und Audionutzung. Jede Phase hat ihre Ansprüche an die Macherinnen und Macher. Wer stehen bleibt, ist irgendwann raus. Alten Zeiten nachzutrauern, raubt dir Kraft für das Neue.
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Bis zum vergangenen Jahr hatte SWR3 eine wöchentliche Sendung mit Thomas Gottschalk. Der ist ja mithilfe des Radios zum Star geworden. Wie ist das heute? Muss man eine Social-Media-Fangemeinde mitbringen, um sich als Radio-Moderatorin einen Namen zu machen?
Nein. Es ist zwar hilfreich, wenn es bereits eine Social-Media-Fangemeinde gibt, doch meist sind diese Angebote sehr spitz aufgestellt, mit einer spitzen Zielgruppe. Im Radio erfolgreich zu sein, heißt bei Massen anzukommen. Und das hängt von der Personality ab. Die Protagonisten wirken mit Stimme, Humor, Geschwindigkeit und Kompetenz. Sie sind Tagesbegleiter. Die Hörerinnen und Hörer entscheiden, ob sie mit dieser Person Zeit verbringen möchten. Das konkurrierende Angebot ist dabei groß. Die Frage ist aber durchaus: Wo sollen sich die Personalities außerhalb des Hörfunk-Programms noch “einen Namen” machen? Gerade für junge Zielgruppen ist Social Media natürlich ein elementarer Teil der täglichen Lebenswelt, in der wir unseren Hörerinnen und Hörern begegnen. Damit ist Social Media für uns längst logischer Bestandteil der Radioarbeit.
Schon vor 10 Jahren hat das Privat-Radio mit automatisierten Wetterberichten und von Menschen eingesprochenen, aber vom Computer nach Bedarf zusammengebauten Verkehrsmeldungen gearbeitet. Wann moderieren Siri und Alexa?
Hoffentlich nie. Dann verliert das Medium sein Herz, seine Seele und die Emotionalität. Und ich würde sogar sagen, seine Daseinsberechtigung. Sprachsteuerung wird uns bei vielen Dingen im Alltag unterstützen, auch beim Abrufen von Digital- und Medienangeboten. Und Sprache ist und bleibt nun mal Audio – das macht mich sehr zuversichtlich für die Zukunft. Trotzdem ist da noch Luft nach oben. KI kann aus den Daten Wetter- und Verkehrsmeldungen erstellen, auch die Voice zum Präsentieren ist an dieser Stelle denkbar. Aber Wetter- und Verkehrsmeldungen in traditioneller Form sind sicher schon bald von gestern. Menschen werden sich zunehmend für Klimaentwicklungen in ihrer Region und deren Auswirkungen interessieren.
Thomas Jung ist seit 2013 Programmchef der Popwelle SWR3. Jung macht seit mehr als 30 Jahren Radio: In den 80er Jahren volontiert er beim Südwest-Funk, berichtet später als Korrespondent aus der Bundeshauptstadt Bonn und Frankreich und ist SWR3-Chefreporter, bevor er 2003 als Vize in die Programmleitung wechselt
(Foto: SWR/Stefanie Schweigert)
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