turi2 edition #15: Datenjagd per Drahtesel im Sendegebiet des SWR.
24. August 2021
Weisheit der Masse: Der SWR setzt auf die Crowd – und das nicht zum ersten Mal. Im Frühjahr 2021 ruft der Sender unter dem Claim #BesserRadfahren dazu auf, riskante Stellen für Fahrradfahrerinnen in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz zu melden. Tausende Meldungen gehen daraufhin in Baden-Baden ein: Das Feedback ist groß. Der Druck auf die Politik jetzt auch.
Drei Stunden täglich pendelt Thomas Reutter (Foto) von und zur Arbeit, wenn ihn die Pandemie nicht gerade ins Home-Office zwingt. Dann radelt er mit dem E-Bike von seiner Wohnung in Mannheim zum Bahnhof, steigt in den Zug nach Baden-Baden und tritt von dort zum SWR-Funkhaus weitere 8,5 Kilometer in die Pedale. Ein Auto hat er nicht.
Reutter, Vize-Redaktionsleiter der SWR-Sendung „betrifft“, fallen allein auf diesen Radkilometern etliche gefährliche Stellen für Fahrradfahrerinnen ein. Da ist zum Beispiel dieser Radweg direkt vor seinem Haus, der an einer Kreuzung im Nirgendwo endet. Tausende kritische Punkte wie diese haben Reutter und seine Kolleginnen gesammelt – in der Mitmach-Aktion #BesserRadfahren. Mehr als 10.000 Meldungen sind ab Frühjahr 2021 innerhalb von sieben Wochen eingegangen, von Zuschauerinnen aus Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz. Gemeldet wurden etwa riskante, enge Überholmanöver von Autos, unsichere Kreuzungen sowie zugeparkte oder fehlende Radwege. Verkehrsexpertinnen an der Hochschule Karlsruhe haben knapp 7.000 dieser Meldungen wissenschaftlich ausgewertet. Das Ergebnis ist eine Online-Landkarte mit Rad-Problempunkten im Sendegebiet.
“Beim Radfahren ändert sich gerade das Selbstbewusstsein der Leute”, erklärt Projektleiter Reutter die Motivation hinter der Aktion. “Viele wollen es nicht mehr als selbstverständlich hinnehmen, dass Autos den meisten Platz auf der Straße haben.” Als Partner ist der Verein Klima-Bündnis dabei, als Unterstützer unter anderem der Fahrradclub ADFC, Greenpeace – und der ADAC. Man will nicht den Eindruck erwecken, reines Auto-Bashing zu betreiben.
Der SWR umrahmt #BesserRadfahren mit zwei Thementagen. Es gibt Service-Tipps zu Werkstätten und Touren, Interviews. Reporterinnen berichten vor Ort über gemeldete Risikostellen, begleiten gestresste, wütende, verängstigte Fahrradfahrerinnen. Und sie besuchen Flecken, an denen tödliche Unfälle passiert sind. Sie zeigen: Das Thema ist nicht so leicht und locker, wie es auf den ersten Blick scheint. Es geht um viele Unfalltote. 2020 sind deutschlandweit 426 Radfahrende verunglückt und gestorben. Thomas Reutter sieht darin ein Politikum, er beobachte eine Lagerbildung Rad gegen Auto. So seien etwa in den Kommentaren auf Facebook “die Emotionen hochgekocht”.
Was die Aktion gebracht hat? Der Bevölkerung das Versprechen der Politik, was zu bewegen auf den Radwegen. In Stuttgart habe die Polizei kurz nach der Ausstrahlung eines Beitrags die Einhaltung des Mindestabstands beim Räder-Überholen kontrolliert, erzählt Reutter. Zufall? Vielleicht. Auch Ministerien interessierten sich für die Daten. Der Verkehrsclub VCD will die lange Excel-Liste als Grundlage nutzen, um in Rathäusern mehr Druck für den Rad-Ausbau zu machen. Dem SWR hat die Aktion durch 80 Fernseh- und 120 Hörfunk-Beiträge sowie 100 Online-Artikel Reichweite gebracht: Per TV und Video on Demand hat #BesserRadfahren im Südwesten laut Sender rund 28 Prozent der Bevölkerung erreicht, bundesweit fast 10,6 Millionen Menschen.
“Man kann nicht sagen, dass wir das Radfahren im Südwesten revolutioniert haben”, sagt Reutter. “Aber ich glaube, dass wir dazu beigetragen haben, das Bewusstsein für die Gefahren im Radverkehr zu schärfen.” Es ist das dritte SWR-Projekt dieser Art – zuvor ging es um Abgaswerte und Verkehrslärm. Das nächste ist schon in der Mache: Wieder sollen Zuschauerinnen Daten sammeln, wieder wissenschaftlich unterstützt, diesmal im Ersten. Als Schwerpunkte geplant sind Wasser und Trockenheit in Deutschland: Wo sind Brunnen versiegt, Bäche ausgetrocknet? Am 16. März 2022 soll es losgehen.