Der Siegeszug der Morgen-Newsletter – eine Chronik.
8. April 2022
Morgen-Newsletter haben die Art verändert, wie wir Nachrichten konsumieren. Im Mai 2022 feiert die Gattung ihren 15. Geburtstag, turi2 widmet den Newslettern ein großes Special. Los geht’s mit der Chronik eines erstaunlichen Aufstiegs. Fehlt etwas Wichtiges in diesem Artikel? Dann maile bitte an henning.kornfeld@turi2.de
2. Mai 2007: Peter Turi startet den ersten Morgen-Newsletter* in Deutschland
Nach einem 1. Mai-Ausflug ins Elsass mit der Familie verschickt Peter Turi, 46, am nächsten Morgen, einem Mittwoch, gegen 8.30 Uhr aus einem fensterlosen Kellerbüro im badischen Walldorf erstmals eine Sammlung kommentierter Links per Mail an einige Dutzend Medienmacherinnen. 2002 war Turi mit dem Startup Internet123 gescheitert, 2005 hatte er sich zurückgemeldet mit dem Kochblog Küchenruf, dem folgte 2006 ein zweiter Blog – daher der Name: turi2.
Die nächsten sieben Jahre wird Turi morgens um 5 Uhr aufstehen, fünf Tageszeitungen und das Internet auswerten, die Vorarbeit der Nachtredaktion finishen, seinen persönlichen Kommentar dazu geben und gegen 8 Uhr seinen Newsletter verschicken. Die ersten Mitarbeiter sind zwei bloggende Studenten: Peter Schwierz und Florian Treiß.
(* gemeint ist der erste Morgen-Newsletter mit Relevanz für Medien, Wirtschaft und Politik in Deutschland. Leser Andreas Borchert hat uns darauf hingewiesen, dass es bei speziellen Computerthemen bereits Ende der 90er Jahre Morgen-Newsletter gab.)
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25. Juni 2007: Mike Allen begründet in Washington mit seinem “Playbook” den Aufstieg von Politico
Sieben Wochen nach Peter Turi entdeckt ein US-Amerikaner den Charme des Morgennewsletter – allerdings mit viel weitreichenderen Folgen und einem Vielfachen an wirtschaftlichen Erfolg: Mike Allen verschickt sein erstes Playbook, wie Turi setzt er auf den schnellen Überblick am Morgen: Für den “inoffiziellen Führer durchs offizielle Washington” fasst der Chefreporter von Politico nur Berichte und Kommentare anderer Journalisten zusammen und gibt seinerseits einen Kommentar dazu.
Sein “Playbook” ist heute ein Leitmedium in der Politikszene der US-Hauptstadt und hat wesentlich dazu beigetragen, dass Springer Politico 2021 für 630 Millionen Euro kauft.
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Juli 2008: Stefan von Holtzbrinck spricht mit Peter Turi über neue Newsletter und frühaufstehende Journalisten
Stefan von Holtzbrinck, damals noch Verleger von “Handelsblatt” und “Wirtschaftswoche”, schlägt Peter Turi vor, gemeinsam Morgen-Newsletter für Branchen wie Chemie, Auto, Finanzen zu machen. Turi will nicht: “Sie brauchen mich nicht, Sie brauchen nur einen Journalisten, der sich auskennt und bereit ist, jeden Morgen um 5 aufzustehen.” Stefan von Holtzbrinck antwortet: “Herr Turi, Sie unterschätzen die Schwierigkeit, in einem deutschen Verlag Journalisten dazu zu bekommen, morgens um 5 aufzustehen.”
Eine Kooperation kommt nicht zustande, Turi produziert in den Anfangsjahren u.a. Newsletter für “W&V”, BigFM und Microsoft, konzentriert sich dann aber auf den Ausbau der eigenen Marke turi2. (Archivfoto von 2008: Picture Alliance)
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31. August 2009: Axel Springer startet die “Welt Lage” als Paid Modell
Die erste nationale Tageszeitung in Deutschland entdeckt den Morgen-Newsletter – und scheitert schnell mit einem Paid Modell. Springers “Welt” startet Ende August 2009 die “Welt Lage”, einen “Überblick über die Nachrichten- und Debattenlage”. Auch die “Welt Lage” setzt, wie turi2 und “Playbook”, auf Aggregation, also den kuratierten Überblick am Morgen.
Die “Welt Lage” fasst Berichte und Kommentare von Medien aus dem In- und Ausland zusammen. Von Dezember 2009 an verlangt Springer 2,90 Euro pro Monat für diesen Service, doch der kuratierte Newsletter mit Preisschild ist ein Ladenhüter. Schon zum Jahresende 2009 wird die “Welt Lage” eingestellt.
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7. April 2011: Gabor Steingart startet für das “Handelsblatt” ein “Morning Briefing”
Gabor Steingart, damals Chefredakteur des “Handelsblatts”, geht unter die Frühaufsteher. Er schickt erstmals ein “Morning Briefing” raus und treibt das Thema Morgen-Newsletter früher und ernsthafter voran als die Konkurrenz. Sein “Morning Briefing” präsentiert zum Start eine Sammlung von kurzen Kommentaren und Verweisen auf wichtige Geschichten im “Handelsblatt”. Wie Turi und Allen setzt Steingart auf Sprachwitz und Zuspitzung.
Der Newsletter hat Steingarts Abschied im Jahr 2018 überlebt, heute verantwortet ihn Senior Editor Hans-Jürgen Jakobs.
(Unser Leser Bernd Ziesemer, “Handelsblatt”-Chefredakteur von 2002 bis 2010, macht uns darauf aufmerksam, dass sich die Wirtschaftszeitung schon lange vor 2011 mit Newslettern beschäftigt hat. Der Redakteur Jürgen Röder baute von 2008 an eine Familie von Spezial-Newslettern auf. Auch ein Morning Briefing existierte bereits vor dem 7. April 2011. Es beschränkte sich bis zur Übernahme durch Gabor Steingart allerdings auf Nachrichten.)
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11. Juni 2013: “Bild” startet ihren Morgen-Newsletter “Heute wichtig”
Auch “Bild” macht den ersten Schritt ins Business mit den Newslettern am Morgen: Bild.de-Chefredakteur Manfred Hart verrät seinen Leserinnen und Lesern fortan täglich unter der fetten Überschrift “Heute wichtig”, was aus seiner Sicht die spannendsten Geschichten der Boulevard-Zeitung sind.
“Bild”-Chefredakteur Kai Diekmann verkündet bei Twitter, der Newsletter sei nicht als Konkurrenz zu Gabor Steingarts “Morning Briefing” zu verstehen, sondern als “Hommage”.
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21. Mai 2014: Julian Reichelt steigt ins Morgen-Newsletter-Business ein und wieder aus
Bei “Bild” scharrt ein junger Mann unruhig mit den Hufen: Julian Reichelt, 33, übernimmt nicht nur die Chefredaktion bei Bild.de von Manfred Hart, sondern auch den Morgen-Newsletter. Reichelt macht aus “Heute wichtig” den Titel Meine Top 7 des Tages. Allerdings verliert Reichelt schnell das Interesse an dem Newsletter – für jemanden wie ihn gibt es bei “Bild” Wichtigeres zu tun.
Als ausdauernder erweist sich Politikchef Béla Anda: Sein im September 2014 gestarteter werktäglicher Newsletter namens “Seite2online” ist randvoll gepackt mit Anekdoten und Anekdötchen aus der Politik. Nach Andas Abschied bei “Bild” wird er eingestellt.
Im Februar 2022 ist Anda als Newsletter-Schreiber zu “Bild” zurückgekehrt: Er gehört zu dem Autoren-Team von Viertel nach Acht. Der wöchentliche Politik-Newsletter zur gleichnamigen Talk-Sendung bei Bild TV bietet einen Ausblick auf die politische Woche.
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Juni 2014: Frühaufsteher Peter Turi erleidet einen Zusammenbruch – Markus Trantow übernimmt
Sieben Jahre lang steht Peter Turi morgens um 5 auf, um den Newsletter zu finishen, mit persönlicher Note zu versehen und gegen 8 zu verschicken. An Samstagen und Sonntagen zwei Stunden später. Werktags kommt noch der Abendnewsletter hinzu. Nach rund 4.200 Newslettern mit circa 75.000 Meldungen klappt Peter Turi, inzwischen 53, zusammen.
Mit schweren Schlafstörungen und Rückenproblemen verschwindet er für sieben Wochen in einer Klinik. Peter Schwierz organisiert mit dem kleinen Redaktionsteam, dass der Betrieb weiterläuft. Markus Trantow übernimmt die redaktionelle Verantwortung.
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24. November 2014: In Berlin startet Lorenz Maroldt den Hauptstadt-Newsletter “Checkpoint”
In Berlin entdeckt und entfaltet ein Chefredakteur sein Talent für das Genre Newsletter: “Tagesspiegel”-Chefredakteur Lorenz Maroldt wird zum Nachtmenschen mit tiefen Ringen unter den Augen und kommentiert bereits um 6 Uhr morgens süffisant und sarkastisch das Hauptstadtgeschehen mit seinem Newsletter Checkpoint.
Unterstützt von einem wachsenden Team legt Maroldt den Finger in die Wunden des Berliner Chaosbetriebs beim Flughafen BER, bei Bürger- und Bezirksämtern. Den Newsletter gibt es heute in einer leicht gekürzten, kostenlosen Fassung (“Kurzstrecke”) und als Teil des “Tagesspiegel”-Digital-Abos (“Langstrecke”).
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Ab März 2015: “Süddeutsche” und “FAZ” wachen etwas später auf
Acht Jahre nach turi2 und Politico beginnen auch die saturierten Nicht-Frühaufsteher von “Süddeutscher Zeitung”, “FAZ” und “Spiegel” aufzuwachen: Im März 2015 startet Digitalchef Stefan Plöchinger bei der “Süddeutschen Zeitung” den Morgen-Newsletter “SZ Espresso”, im Juni folgt die “FAZ” mit der “Hauptwache”.
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9. Februar 2016: Der “Spiegel” informiert morgens über “Die Lage”.
Von Februar 2016 an liefern die “Spiegel”-Chefredakteure Klaus Brinkbäumer und Florian Harms – zuständig fürs Digitale – täglich um 6 Uhr Die Lage ab. Der Newsletter soll “kompakt, analytisch, meinungsstark” sein und verspricht Beobachtungen aus dem politischen Betrieb in Berlin und zum Weltgeschehen.
Auch nach seinem Wechsel zu t-online.de bleibt Harms Newsletter-Chefredakteur: Im September 2017 startet er dort den Tagesanbruch.
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17. September 2017: Ulf Poschardt verlegt den Morgen-Newsletter auf den Mittag
“Welt”-Chefredakteur Ulf Poschardt will nicht als letzter deutscher Chefredakteur mit einem Morgen-Newsletter um die Ecke kommen und startet für die “Welt” den Mittags-Newsletter “5 nach 12”.
Die Redaktion liefert bis heute aus dem Newsroom heraus die Themen, die man in der Mittagspause lesen muss, um mitreden zu können. Die “Welt” bleibt aber ein Morgenmuffel: Unter den frei zugänglichen Newslettern der Zeitung ist “5 nach 12” der mit den meisten Abos, noch vor dem Abend-Nachrichtenüberblick “Was die Welt bewegt”.
Die Welt hat tägliche Morgen-Newsletter um 9.30 Uhr zu den Themen Politik, Wirtschaft und Sport im Portfolio, die einen automatisierten Nachrichtenüberblick liefern, einen Allrounder gibt es aber nicht.
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7. Februar 2018: Knatsch und Neuanfang bei Gabor Steingart – Selbstmord durch “perfekten Mord”
Im “Morning Briefing” verrät Gabor Steingart, mittlerweile auch “Handelsblatt”-Geschäftsführer und mit ein paar Prozent Junior-Verleger, Details zu einem bevorstehenden “perfekten Mord”: Parteichef Martin Schulz wolle den “derzeit beliebtesten SPD-Politiker”, Außenminister Sigmar Gabriel, hinterrücks zur Strecke bringen, um dessen Job zu übernehmen. Verleger Dieter von Holtzbrinck entschuldigt sich noch am selben Tag bei Schulz und wirf Steingart raus.
Steingart erstreitet sich den Zugang zu seiner alten Leserschaft und setzt das “Morning-Briefing” am 11. Juni in eigener Regie fort. Es wird zum Zugpferd und Kern für sein neues Unternehmen Media Pioneer.
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5. November 2018: Pit Gottschalk macht Newsletter für Fußball-Fans
Zwischen zwei Jobs startet der Sportjournalist Pit Gottschalk den Newsletter Fever Pit’ch für alle, die den Fußball lieben. Auch als Sport1-Chefredakteur lässt er nicht locker und verschickt fast täglich die besten Kick-Geschichten, Kommentare, Fernseh-Tipps und Links zu wichtigen Artikeln. Gottschalk hat es mittlerweile auf über 700 Ausgaben gebracht. Der Lohn sind rund 25.400 Abonnentinnen, sein Fever Pit’ch ist der wohl wichtigste unabhängige Fußball-Newsletter.
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31. Dezember 2020: Sebastian Turner liefert “100 Headlines” und bezahlte Fach-Letter
Sebastian Turner hat als Herausgeber und Miteigentümer des “Tagesspiegels” und turi2-Leser früh gespürt, wozu Newsletter fähig sind und welch großes wirtschaftliche und disruptive Potenzial in ihnen schlummert. Zum Jahresende verlässt Turner wie Steingart seinen Chef Dieter von Holtzbrinck und wird wie Steingart nochmal zum Gründer.
Unter der Marke Table.Media startet sein Unternehmen Trafo eine Reihe von “Briefings”, kostenpflichtigen Newslettern für Entscheiderinnen aus Politik, Wirtschaft und Kultur. Der erste beschäftigt sich mit China, weitere mit den Themen Bildung und Europa. Kostenlos sind die 100 Headlines.
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26. Januar 2021: Twitter kauft Revue, Social Networks entdecken das Trendthema Newsletter Twitter kauft das niederländische Unternehmen Revue, deren Newsletter-Service einfach zu bedienen ist und jede Autorin und Journalistin im Handumdrehen zu Newsletter-Betreibern macht. Mit nur einem Klick lassen sich seitdem bei Twitter Revue-Newsletter abonnieren.
Auch Facebook startet zur Jahresmitte ein ähnliches Tool: Bulletin ermöglicht einen kostenlosen Newsletter-Versand. Zum Start heuert Facebook gleich ein paar prominente US-Autorinnen für den neuen Service an. In den USA und später auch in Deutschland wird der eigene Newsletter zur neuen “Ich-habe-jetzt-auch-eine-Homepage”.
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15. März 2021: Steady und Substack wollen Bezahl-Newsletter für jedermann populär machen
Nach dem Vorbild der US-Plattform Substack startet das deutsche Unternehmen Steady ein Publishing-Tool für redaktionelle Newsletter. Es zielt auf Einzelkämpferinnen, die sich mit einem eigenen Newsletter Geld hinzuverdienen oder den Unterhalt sichern wollen. Diese sollen sich nicht um Technik kümmern müssen, sondern auf die Inhalte konzentrieren können.
Die wenigsten Promis wie Teresa Bücker, Hans-Martin Tillack und Nils Minkmar stehen dafür allerdings früh auf. Hajo Schumacher gibt das Newsletter-Schreiben schon nach kurzer Zeit wieder auf: zu viel Aufwand, zu wenig Ertrag.
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1. April 2021: “FAZ Frühdenker” positioniert sich als Teaser fürs Bezahlen
Die FAZ überarbeitet ihren “Newsletter für Deutschland” und benennt ihn um in FAZ Frühdenker. Neue Abonnentinnen erhalten ihn nur noch drei Monate lang kostenlos, danach werden sie aufgefordert, ein Abo abzuschließen. Die FAZ will so “das Paradigma durchbrechen, dass Nachrichten-Newsletter grundsätzlich kostenlos sind”.
Das dürfte ein Trend werden im Rahmen der Paid-Strategien: Jahrelang wollten die Verlage mit ihren Newslettern hauptsächlich Appetit auf Bezahlprodukte wie die Zeitung oder ein Digital-Abo zu machen, jetzt sehen sie ihre Newsletter selbst als Produkt und versehen sie mit einem Preisschild.
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26. August 2021: Springer kauft für über eine halbe Milliarde Euro Politico, das mit einem Newsletter groß wurde
Axel Springer kauft Politico-Gründer Robert Allbritton für mindestens 630 Mio Euro sein Unternehmen ab – mehr Geld hat Springer nie für eine Akquisition ausgegeben, dagegen war die Beteiligung an Steingarts Media Pioneer geradezu Kleingeld. Politico ist mit dem “Playbook” und dessen Newsletter-Ablegern zu einem der wichtigsten Spieler in Washington und der US-Politik geworden.
Der Erfolg hat aber nicht einsam gemacht: Politico hat Konkurrenz durch Axios bekommen. Zu dessen Gründern zählt Mike Allen, der Mann, der 2007 für Politico den Erfolgs-Newsletter “Playbook” erfand.
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17. Januar 2022: Steingart gibt seinen Newslettern und Podcasts Bezahl-Beiboote
Gabor Steingart erweitert seine Newsletter- und Podcast-Flotte um einige Bruttoregistertonnen und kündigt an, in diesem Jahr 8 Mio Euro zusätzlich in sein Unternehmen zu investieren. Der Medien-Kapitän lässt den Bau eines weiteren Redaktionsschiffs (“Pioneer Two”) prüfen und will in diesem Jahr 25 neue Mitarbeiterinnen an Bord holen. Zum 1. März tauft er seinen Newsletter “Gabor Steingarts Morning Briefing” in ThePioneer Briefing um. Das Briefing gibt es seitdem als kostenlose “Economy-Edition” und als Bezahlvariante “ThePioneer Business Class”.
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