Lorenz Maroldt: “Man muss Gegenwind aushalten können.”
28. April 2022
Ausgeschlafener Spät-ins-Bett-Geher: Mit seinem Morgen-Newsletter Checkpoint ist “Tagesspiegel”-Chefredakteur Lorenz Maroldt zum Vorbild in der Zeitungsbranche geworden. Seit 2014 berichtet er zunächst alleine, heute im Wechsel mit Kolleginnen Tag für Tag um 6 Uhr morgens kompetent, süffisant und sarkastisch über das Hauptstadtgeschehen. Im Interview erzählt Maroldt, dass er meist nachts schreibt, gerne auch bei einem Wein oder Bier. Die persönliche Ansprache im Newsletter führe bei den Leserinnen zu einem “Gefühl der persönlichen Verbundenheit mit dem Medium” und erzeuge eine viel höhere Resonanz. Maroldts Tipp für Newsletter-Neulinge: “Wer seinen Newsletter nicht leidenschaftlich macht, sollte es lieber gleich lassen.” Maroldts Interview erscheint im Rahmen der Newsletter-Wochen zum 15. Geburtstag des turi2-Morgen-Newsletters.
Wenige Monate nach dem Start des “Checkpoints” Ende 2014 sind Peter Turi deine vom nächtlichen Newsletter-Schreiben “tiefschwarzen Augenringe” aufgefallen. Haben sie sich mittlerweile wieder aufgehellt?
Lorenz Maroldt: Leider nicht. Ich habe aber den Rat von Peter Turi beherzigt, mir ein Team zuzulegen, das mich unterstützt. Es nimmt mir heute viel Arbeit ab und hat dabei geholfen, den “Checkpoint” weiterzuentwickeln.
Wie groß ist dein Team?
Das sind ungefähr ein Dutzend Leute, darunter drei, die ausschließlich für den “Checkpoint” arbeiten. Zuletzt haben wir eine Stelle für unseren neuen Nachmittags-Podcast Berliner und Pfannkuchen geschaffen, den wir bald täglich machen wollen.
Der “Checkpoint” zeichnet sich durch eine persönliche Note aus. Meckern die Leserinnen nicht, wenn die Autorinnen ständig wechseln?
Wir haben es geschafft, Leute zu finden, die eine eigene Note einbringen, ohne dass sich der Charakter des Newsletters ändert. Unsere Leserinnen und Leser sind sehr offen für ein diverses Schreiberteam aus Jungen und Alten, Männern und Frauen.
Du selbst machst den “Checkpoint” nicht mehr täglich, sondern nur noch zwei- bis dreimal pro Woche. Schreibst du lieber am späten Abend oder am frühen Morgen?
Ich schreibe fast ausschließlich abends bis tief in die Nacht. Wir haben einen Frühdienst, der um 5 Uhr die “Checkpoint”-Produktion übernimmt, und den treffe ich manchmal noch. Ich arbeite fast immer von zu Hause aus. Dabei mache ich es mir gerne mit einem Wein oder einem Bier gemütlich. Das Schreiben soll bei aller Arbeit auch ein bisschen Spaß machen.
Leiden unter den Nachtschichten nicht die sonstigen Pflichten, die man als “Tagesspiegel”-Chefredakteur so hat?
Nein, die Diversifikation unserer redaktionellen Aufgaben ist ja Teil unseres Konzepts. Vor ein paar Jahren hatten wir nur zwei Produkte, die Zeitung und den Online-Auftritt, inzwischen sind es über 50. Wir erreichen damit ganz verschiedene Menschen mit völlig unterschiedlichen Interessen. Die Aufgaben von Chefredakteuren haben sich im Laufe der Zeit sowieso verändert. Als ich beim “Tagesspiegel” angefangen habe, hat der Chefredakteur einmal am Tag gesagt hat, was gemacht werden muss. Und dann hat er noch einen Kommentar geschrieben, den er der Sekretärin zum Abtippen unter der Tür durchgeschoben hat. Heute ist ein Chefredakteur viel mehr als ein morgendlicher Impulsgeber, seine Managementaufgaben haben zugenommen. In meiner Rolle fühle ich mich sehr wohl und gemeinsam mit meinem Chefredaktions-Kollegen Christian Tretbar funktioniert das wunderbar.
Was fasziniert dich so daran, einen Morgen-Newsletter zu schreiben?
Der “Checkpoint” ist eine Art Treffpunkt, wo Menschen, die sich für Berlin interessieren oder unter der Stadt leiden, sich über ihre Verrücktheiten, Besonderheiten und Schönheiten informieren und austauschen. Das Format hat den Vorteil, dass man dort eigene Geschichten veröffentlichen, aber auch auf andere Medien verweisen kann.
Was war als Newsletter-Schreiber dein schlimmstes Erlebnis, was dein schönstes?
Mein schönstes Erlebnis war unsere erste Live-Veranstaltung im Mai 2019. Wir haben dafür eine Band gegründet und ein Programm mit Musik, Comedy und Politik gemacht. Um den “Checkpoint” herum ist eine Community entstanden, es gibt auch eine Lauf-, eine Kino- und eine Radgruppe. Die schlimmsten Momente habe ich immer morgens, wenn ich nach dem Versand im Newsletter noch Fehler von mir entdecke. Menschen machen Fehler, und müde Menschen machen mehr Fehler.
Der “Checkpoint” berichtet gerne über Wohnungsmarktwahnsinn, Verkehrs- oder Behördenchaos in Berlin. Was ist deine “Checkpoint”-Lieblingsgeschichte?
Es gibt hunderte. Wir haben zwei Bücher mit Checkpoint-Anekdoten gefüllt, “Berlin in 100 Kapiteln” und “Klassenkampf”. In den ersten Jahren haben wir die Tage der Nicht-Eröffnung des Berliner Flughafens BER gezählt – das ist unser Gründungsmythos. Vor Kurzem sind wir auf eine Stellenausschreibung gestoßen, in der die selbsternannte Digital-Hauptstadt Berlin “Vervielfältiger” für Schulen gesucht hat, also Menschen, die dafür bezahlt werden, am Kopierer zu stehen. So etwas lieben wir beim “Checkpoint” natürlich.
Offiziell finden selbst Berliner Politiker den Newsletter toll. Hat er in der Stadt etwas zum Besseren verändert?
In der Politik werden wir wahrgenommen. Der frühere Regierende Bürgermeister Michael Müller hat zwar einmal behauptet, er lese den “Checkpoint” nicht, er hat ihn sich aber sehr wohl morgens vortragen lassen. Als Journalist sollte man sich nicht überheben und meinen, man könnte die Welt verändern. Manchmal haben wir aber dazu beigetragen, dass die Politik sich intensiver mit einem Problem beschäftigt. Ein Beispiel dafür ist das Dauerfeuer zum Thema marode Schulen, das vom “Checkpoint” ausging und das andere Medien aufgegriffen haben.
Liest die aktuelle regierende Bürgermeisterin Franziska Giffey den Checkpoint auch?
Ich vermute, dass sie das tut. Sie ist schon bei unseren Veranstaltungen und Podcasts aufgetreten und war immer sehr gut über unsere Berichterstattung informiert.
Wann ist ein “Checkpoint” für dich ein gelungener “Checkpoint”?
Wenn die Themenmischung stimmt und es gelingt, trotz aller Probleme einen Ton zu finden, der die Leserinnen und Leser nicht deprimiert in den Tag starten lässt. Natürlich hat man schon einmal eine matschige Tomate in der Hand, das lässt sich nicht vermeiden. Wir versuchen aber immer, die Leute morgens auch zum Schmunzeln zu bringen.
Was hast du seit dem Start des “Checkpoints” übers Newsletter-Machen gelernt?
Die wichtigste Erkenntnis ist banal: Die persönliche Ansprache in einem Newsletter führt bei den Leserinnen und Lesern zu einem Gefühl der persönlichen Verbundenheit mit dem Medium und erzeugt dadurch eine viel höhere Resonanz. Die Zahl der Reaktionen und Hinweise, die wir bekommen, ist enorm. Der Newsletter ist ein Instrument, mit dem man sich ganz konkret für die Interessen der Leserinnen und Leser einsetzen kann.
– Anzeige – Was wäre das E-Mail-Postfach ohne die morgendlichen News von Gabor Steingart, Michael Bröcker & Gordon Repinski und Peter Turi?
Für uns gehört dieses Newsletter-Trio zum perfekten Start in den Tag, wie das Medienschiff Pioneer One zum Regierungsviertel. Die ganze Crew von The Pioneer gratuliert daher herzlich zu 15 Jahren turi2! Und falls jemand unsere exklusive Briefings noch nicht abonniert hat, kann sie oder er das vertrauensvoll hier tun: ThePioneer.de/briefings
Würde ein Newsletter wie der “Checkpoint” auch in anderen Städten funktionieren?
In Städten wie Köln, München, Hamburg oder Frankfurt wäre das möglich. Ich weiß nicht, warum es in der Form noch niemand richtig versucht hat – wahrscheinlich weil es wahnsinnig viel Arbeit ist. Und man muss auch Gegenwind aushalten können.
Der “Checkpoint” ist nur einer von vielen “Tagesspiegel”-Newslettern. Ihr habt auch einen weiteren Morgen- und einen Abend-Newsletter, wöchentliche Newsletter für alle zwölf Berliner Bezirke und kostenpflichtige Fach-Newsletter, die sogenannten Backgrounds. Wie viele Leute sind beim “Tagesspiegel” insgesamt mit Newslettern befasst?
Das dürften insgesamt mehr als 100 Leute sein.
Warum betreibt Ihr einen so großen Aufwand?
Weil wir mit Newslettern unfassbar viel mehr Menschen erreichen, als wir es zuvor je konnten. Allein die Bezirks-Newsletter haben mehr als eine Viertelmillionen Abonnentinnen und Abonnenten. Das ist eine gigantische Zahl für ein Lokalmedium. Die Newsletter erlauben uns auch einen Imagetransfer: Niemand in Berlin würde noch auf die Idee kommen, dass der “Tagesspiegel” nur eine Zeitung ist. Wir sind eine extrem diverse Marke, zu der eben auch Newsletter gehören. Mit ihrer Hilfe können wir auch erfolgreicher auf neue Produkte des Hauses aufmerksam machen, als wir es mit irgendeiner Werbekampagne könnten. Und nicht zuletzt sind unsere Newsletter auch finanziell ein Riesenerfolg.
Rechnet sich wirklich jeder einzelne dieser Newsletter?
Wenn wir etwas Neues starten, geben wir ihm etwas Zeit. Wir halten aber nicht dauerhaft an etwas fest, das wirtschaftlich nicht funktioniert. Der Erfolg eines Newsletters kann aber auch darin bestehen, Menschen zu erreichen, die wir sonst nicht erreichen würden. Unser Queerspiegel-Newsletter ist zum Beispiel weit über Berlin hinaus in der Queer-Community bekannt. Dieser Community können wir auch andere “Tagesspiegel”-Produkte anbieten. Beim “Checkpoint” kombinieren wir die Anzeigenvermarktung mit einem Bezahlmodell. Wer die Vollversion lesen will, muss ein Tagesspiegel-Plus-Abo abschließen, das fast 15 Euro pro Monat kostet. Das ist ein gigantischer Hebel.
Mal unter uns: Ein Abo der “Kurzstrecke”, der kostenlosen Fassung, reicht doch vollkommen aus, weil da fast alles drinsteht.
Mit der “Kurzstrecke” verpasst man zwar in der Regel keine wesentlichen Dinge, aber verlassen kann man sich darauf nicht, und manches reißen wir auch nur an. Tipps zur Stadt und den hervorragenden Berlin-Comic von Naomi Fearn gibt es zum Beispiel nur in der “Langstrecke”.
Lässt sich belegen, dass der Wunsch nach der Langfassung, die Leute dazu animiert, ein Abo abzuschließen?
Ich kann sagen, dass mehr als die Hälfte der Plus-Abonnenten, die wir über den “Checkpoint” gewinnen, nach dem Probemonat dabeibleiben. Das ist eine gigantische Zahl. Das Wärmegefühl, das vom Checkpoint ausgeht, überträgt sich auf das übrige Produkt.
Welche weiteren Newsletter-Ideen habt Ihr?
Unser “Checkpoint”-Podcast “Berliner & Pfannkuchen” ist gerade herausgekommen. Wenn die Pandemie es erlaubt, machen wir mit der Marke demnächst wieder Veranstaltungen. Möglicherweise verbessern wir auch unsere wöchentlichen Bezirks-Newsletter. Es kann zum Beispiel sein, dass wir auch sie in ein Abo-Modell integrieren oder für sehr unterschiedliche Teile von Bezirken verschiedene Newsletter anbieten. Mit unseren beiden Newslettern Morgen- und Abendlage verfolgen wir bereits einen überregionalen Ansatz. Diesen wollen wir weiter ausbauen und haben das mit einem “Pop-Up”-Newsletter zu Großlagen wie dem Ukraine-Krieg schon begonnen. Auch überlegen wir, weitere neue Newsletter zu schaffen, die nur für unsere Abonnenten zugänglich sind.
Was sollten Medien beherzigen, die erst jetzt richtig mit Newslettern anfangen?
Mein wichtigster Rat ist: Wer seinen Newsletter nicht leidenschaftlich macht, sollte es lieber gleich lassen.
Welche anderen Morgen-Newsletter kannst du empfehlen?
Ich lese nach wie vor das Morning Briefing von Gabor Steingart sehr gerne. Er hat als einer der ersten verstanden, wie viel Kraft im Newsletter steckt. Und turi2 natürlich, der ist für mich unverzichtbar und für die Medienbranche ein Muss. Auch vom Abend-Newsletter des “Hamburger Abendblatts” fühle ich mich auf unterhaltsame Art und Weise informiert. Ich lese quer durch den Gemüsegarten, und je persönlicher und pointierter ein Newsletter geschrieben ist, desto lieber lese ich ihn.