Sebastian Turner: “Wir suchen die Themen mit der größten Informationsasymmetrie.”
15. Mai 2022
Newsletter-Visionär: Als “Tagesspiegel”-Herausgeber und -Gesellschafter hat Sebastian Turner voll auf Newsletter gesetzt und war damit erfolgreich. Dieser Strategie ist er auch als Solo-Unternehmer treu geblieben: Mit seiner Firma Table.Media macht Turner Fach-Newsletter über China, Bildung und Europa. Er sucht “weiße Flächen im publizistischen Angebot” von Medien. Dafür stellt er noch Journalistinnen ein. Das Interview mit Turner erscheint im Rahmen der Newsletter-Wochen zum 15. Geburtstag des turi2-Morgen-Newsletters.
Du bist 2014 Herausgeber und Mitgesellschafter des “Tagesspiegels” geworden. Und hast gleich mächtig Gas gegeben mit Newslettern. Warum?
Newsletter sind ein sehr gutes Nahrungsergänzungsmittel für eine Tageszeitung in einer Millionenstadt. Die Stadtgesellschaft fragmentiert sich immer stärker, aber Druck und Vertrieb machen herkömmliche Unterausgaben unerschwinglich, bei Newslettern ist das dagegen tragbar.
War dir damals schon klar, dass Newsletter der wichtigste Hebel für den Turnaround dort sein würden?
Klar war es nicht, aber naheliegend. Im Mittelpunkt des Turnaround stand und steht die inhaltliche Qualität und Relevanz, die natürlich bei über drei Millionen Einwohnern und 90 Stadtteilen nicht für jeden gleich ist. Newsletter erlauben, Breite und Tiefe auszubauen. Das ist ideal für ein Qualitätsmedium wie den “Tagesspiegel” in einer 3,7-Millionenstadt wie Berlin.
Wie seid Ihr damals vorgegangen?
Die Redaktion hat es ausgerollt. Die Idee ist ansteckend. Sie wurde von der Redaktion aufgegriffen und verbessert. Auf einmal gab es den “Tagesspiegel”-Checkpoint als den Agendasetzer von Berlin. Das ist das Werk von Lorenz Maroldt. Mit Markus Hesselmann hat er dann die Bezirks-Newsletter “Tagesspiegel”-Leute richtig groß gemacht. Antje Sirleschtov hat die Fachinformationen “Tagesspiegel”-Background als neuen Standard etabliert. Sie ist jetzt Mastermind von Table.Media – ich freue mich sehr, dass sie als Chefredakteurin die Table-Redaktionen aufbaut.
Mit Table.Media investierst du heute als Unternehmer selbst in Newsletter.
Ja. Mit Table.Media auf der publizistischen Seite als Gründer und bei Letterhead in den USA und Steady in Deutschland in die Technologie. Das hilft, digitale Technologie zu verstehen. Dabei helfen heute Investments in Techfirmen, so wie früher in Druckhäuser.
Wieviel Inspiration hast du aus Peters Newsletter turi2 gezogen?
Peter war der Anstoß. Sein Newsletter hat mein Leseverhalten geändert. Wenn das mir gefällt, dann wird das auch anderen gefallen, dachte ich mir.
Auf welchen “Tagesspiegel”-Newsletter bist du richtig stolz?
Mich freut, wie ein ganzes Ökosystem aus Lokal-, Berufs- und weiteren Zielgruppenangeboten sich gegenseitig und die Zeitung befördert. Sie erreichen viele neue Gruppen und stärken zugleich die Zeitung. Wenn man auf der Website nachzählt, dann hat der “Tagesspiegel” über 50 Journalisten hinzugewonnen, die alle zusätzliche Kompetenz und Neugier mitbringen. Er hat damit auch die innerstädtischen Grenzen aufgebrochen. Der “Tagesspiegel” ist heute nicht nur doppelt so groß wie jede andere Zeitung in Berlin, er erreicht auch in jedem Stadtbezirk mehr Leser – auch überall im Ostteil. Die Newsletter sind damit ein Beitrag zum Zusammenwachsen der Stadt. Allein die Reichweite der Bezirks-Newsletter des “Tagesspiegel” ist größer als alle anderen Zeitungen.
Was hat beim “Tagesspiegel” gar nicht funktioniert?
Die erste IT. Die Redaktion musste zum Teil Stunden an unzureichender Technik herumlaborieren, mitten in der Nacht. Da kann ich mich gleich hier noch einmal für entschuldigen und für das Engagement danken.
Warum sind Newsletter für Medienhäuser so wichtig?
Ich denke immer von der anderen Seite: Was ist wichtig für die Menschen, die ich ansprechen möchte? Wenn man da etwas findet, was mit Newslettern gut oder sogar besser zu bedienen ist als mit anderen Mitteln, dann ist man auf dem richtigen Weg. Mit unserem China.Table können wir pünktlich zum Frühstück bei unseren Lesern in entlegenen Provinzen Chinas sein – auf Deutsch und auf Englisch. So ein Angebot gab es nicht, aber die Nachfrage war da – und Newsletter können es ermöglichen. Darum ist China.Table auch vom Start weg erfolgreich.
Mit Table.Media bietest du jetzt Fach-Newsletter über China, Bildung und Europa an. Warum gerade diese Themen?
Wir suchen die Themen mit der größten Informationsasymmetrie. Welche Themen sind besonders wichtig, aber redaktionell schwach besetzt? Aus Brüssel kommt ein großer Teil unserer Spielregeln, die EU ist der Anker für unseren Wohlstand, China ist die aufsteigende Weltmacht und ein Megamarkt, der Bildungssektor ist die Basis unserer Zukunft. Wenn man dann ansieht, wie wenige Journalisten sich um die Themen kümmern können, dann sieht man Marktchancen.
Wie groß sind die Teams?
Die täglichen Angebote China.Table und Europe.Table haben jeweils ein zwölfköpfiges Redaktionsteam, verteilt auf China, Brüssel und Deutschland. Bildung.Table erscheint wöchentlich und ist entsprechend kleiner.
Was für ein Profil haben deine Redakteurinnen?
Da treffen sich zwei Interessen, bei den Machern und bei den Lesern. Gerade gestandene Journalisten finden es gut, wenn sie sich voll und ganz auf Tiefe und Substanz bei ihren Kompetenzthemen konzentrieren können und nicht im Schichtdienst oberflächlich quer durch den Gemüsegarten posten und redigieren. Bei den Lesern gilt das spiegelbildlich. Die haben nur Interesse an wirklich fundierten, fachlich exzellenten Analysen und Hintergründen, Zeit ist für sie knapper als Geld. Das Ganze kommt ganz gut zusammen in unserem Claim “For better informed decisions”. Das ist für Redaktion und Publikum ein attraktives Versprechen.
Ihr habt Kooperationen mit der “Zeit” und der “FAZ”. Warum?
Wir freuen uns, dass zwei so angesehene Leitmedien mit uns kooperieren. Sie haben Zugriff auf Texte von uns. Das ergänzt deren Berichterstattung und gibt uns weitere Sichtbarkeit. Ein Aspekt unseres Geschäftsmodells ist, wie eine Nachrichtenagentur für Dritte zur Verfügung zu stehen. Wer seine China-, EU- oder Bildungsberichterstattung verstärken will, findet bei uns viel Exklusives.
Wie viele Abonnentinnen habt ihr?
Die kostenlose Variante bekommen deutlich über 10.000 Empfänger bei schnellem Wachstum.
Was zahlen die anderen?
Die Lizenznehmer zahlen 199 Euro im Monat für die Vollausgaben der täglichen Tables, die wöchentlichen kosten etwas weniger.
Wie viel Umsatz macht Ihr mit den Newslettern?
Das veröffentlichen wir nicht. Wir sind aber zufrieden mit der Entwicklung. Sie hat bereits Eigendynamik, die Leser empfehlen uns. Unsere Kennziffern sind bei Table bereits besser als zum vergleichbaren Zeitpunkt beim “Tagesspiegel”.
Was ist dein weiterer Plan?
Wir suchen weiter weiße Flächen im publizistischen Angebot. Wir freuen uns, wenn uns Journalisten mit ihren Ideen und Schwerpunkten ansprechen. Beim Bildung.Table haben wir sieben Wochen vom ersten Gespräch bis zum Produktstart gebraucht.
Das heißt, Ihr sucht Spezialisten, die mit Euch neue Table starten?
Genau. Kurze Mail an sebastian.turner@table.media, ich rufe zurück.
Ihr macht grundsätzlich nur Newsletter?
Sie sind ein wichtiger Kanal. Entscheidend ist die publizistische Idee, und für die nehmen wir dann die richtige Technik. Das können auch Datenbanken oder anderes sein.
Peter hat dich in einem Porträt für die erste Ausgabe der turi2 edition mal als sehr sparsamen Schwaben beschrieben. Newsletter sind sehr kostengünstig in Produktion und Distribution – bist du deshalb so ein Fan?
Die Antwort kann ich mir wohl sparen.
Warum spielt eigentlich Print kaum noch eine Rolle bei innovativen Geschäftsmodellen?
Auch hier würde ich wieder bei den Empfängern ansetzen: Was kann man ihnen mehr und besser bieten? Das ist zuerst eine inhaltliche und erst dann eine technische Frage.
Was hat für Newsletter das größere Potenzial: Anzeigen oder Paid?
Es kommt darauf an, beim “Tagesspiegel” funktioniert beides. Bei Table haben wir den Schwerpunkt auf Lesererlösen.
Welche Newsletter außer denen von Table.Media und “Tagesspiegel” liest du gerne und kannst du empfehlen? turi2, Nieman Lab, Vincent Peyregne, manches bei Steady. Am Sonntag habe ich bei Nico Lumma einen Text über die Erneuerung der ukrainischen Armee gefunden – vollkommen neu für mich.
Was sind deine drei Tipps für Medienhäuser, die bei Newslettern Gas geben wollen?
Denkt nicht an Newsletter, denkt an die Leser. Der Rest findet sich.