Wissen Newsletter: Experten-Tipp von Hajo Schumacher.
5. Juni 2022
Pizza ohne Dessert: Vor Kurzem hat sich bei Hajo Schumacher eine “tückische kleine Psychose” eingestellt. Der Journalist, Autor und Podcaster ertappte sich dabei, wie er jede Stunde seines Lebens auf selbstmarketingtaugliche Filmchen, Fotos, Sentenzen hin überprüfte – er war ständig auf der Suche nach spannendem Stoff für seinen Newsletter. Wirtschaftlich gelohnt hat sich der ständige Druck für ihn nicht: Er hatte nur eine Handvoll zahlende Abonnenten, monatlich sprang eine Runde Pizza für die Familie Schumacher heraus – “aber ohne Dessert”. Für turi2 hat Schumacher aufgeschrieben, warum es manchmal besser ist, einen Newsletter wieder einzustellen. Sein Experten-Tipp erscheint im Rahmen der Newsletter-Wochen zum 15. Geburtstag des turi2-Morgen-Newsletters.
Für wen lohnt sich das Newsletter-Schreiben nicht, Hajo Schumacher?
Die gefährlichsten Worte für einen freien Journalisten lauten “mal eben schnell” oder “im Handumdrehen”. Rasch eine Insta-Story posten, ganz nebenbei einen originellen Tweet absetzen, im Handumdrehen einen Podcast hochziehen oder mal eben schnell einen wöchentlichen Newsletter komponieren. Kann man machen, wird aber halbgares Zeug. Qualität braucht Zeit.
Neulich erklärte mir ein junger Kollege, dass Qualität nicht gar so wichtig sei. Anstatt final an Texten zu feilen, möge ich doch mal “neu denken”, was die Vorstufe von “neu erfinden” ist und damit unter verschärftem Bullshitbingo-Verdacht steht. Der junge Kollege erklärte: Ein 70-Prozent-Text (alles über 50 Prozent läßt sich ohne größere Schäden veröffentlichen) plus eine Stunde Selbstmarketing sei doch schlauer investierte Zeit als ein 90-Prozent-Text, der deutlich mehr Arbeit und Zeit koste, ohne Selbstmarketing. Was nütze die Feinarbeit für den besseren Text, wenn der nicht gefunden und folglich kaum gelesen werde. Ein mäßiger Text dagegen, analyticsschlau beworben, transportiere die Botschaft auch, aber deutlich breiter. Verstehe: Weniger Energie ins Produkt, dafür mehr in die Reklame. Red-Bull-Journalismus. Kann man machen. Fühlt sich aber nicht gut an.
Es mag an meiner Boomer-Sturheit liegen, aber neues Denken fällt mir schwer. Das alte ist schon anstrengend genug. Wenn ich nicht gerade schreibe oder rede, dann lese, höre, gucke ich gern und nenne es Recherche. Mein Marketing beschränkt sich auf gelegentliche Tweets für 25.000 Follower. Ich stelle mir eine sehr ausverkaufte Alte Försterei vor. Twitter ist die Wette auf eine Unternehmenszukunft ohne Herrn Musk, der eine grundsätzlich andere Idee von demokratischen Medien verfolgt. Kleines Rechenbeispiel am Rande: Wenn jeder meiner gut 10.000 Posts nur eine Minute gebraucht hat (massiv untertrieben), dann hätte ich dem Unternehmen etwa 160 Arbeitsstunden geschenkt; macht bei 12 Euro Mindestlohn inflationsverunreinigt etwa 2000 Euro Marketing-Investition. Die Operation Twitter hat sich über zehn Jahre hingezogen, von wegen: im Handumdrehen. Ja klar, beim Angeln muss man auch anfüttern, also Leckereien kostenlos ins Wasser werfen, um einen dicken Fisch an den Haken zu kriegen. In deutschen Mediengewässern aber sieht man vor lauter Anfutter die Würmer kaum noch.
Weil Optimieren wirklich lästig ist, fange ich liebes etwas Neues an. Ein Newsletter – das wär´s. Machen ja jetzt alle. Der Newsletter ist die Vinylschallplatte des Selbstmarketings. Classico. Kommt immer wieder. In Amerika, erklärte mir der junge Kollege, ja in Amerika, da leben die JournalistInnen schon von Ihren Newslettern. Substack und so, great writers, great readers. Neben wenigen Großen wird da allerdings auch ganz schön viel Kleinkram geboten. Ja, man mag von Newslettern leben können, wenn man etwa bereit ist, jeden Tag eine Liste zu erstellen: die fünf bequemsten Sexstellungen, vier völlig unterschätzte Linienrichter, die drei gefährlichsten Gelbtöne beim Morgenurin. Kann man machen. Muss man aber nicht.
Weil ich Experimenten gegenüber gleichwohl aufgeschlossen bin, habe ich während der Pandemie ein Jahr lang meinen Newsletter gemacht, bei Steady, wie viele KollegInnen. Freitags, in den drei Stunden zwischen meinem Morgenkommentar bei Radioeins und vor der Podcast-Aufzeichnung fürs Wochenende (incl. Schnitt und Produktion) habe ich “Schumachers Woche” gebastelt, sieben mehr oder weniger kluge kleine Beiträge, die auf andere Beiträge von mir hinwiesen, dazu alte Bücher verlost, unter anderem von Mitgliedern des ehemaligen Anden-Pakts, was mir ein paar Lacher einbrachte. Zwei, drei gute Bekannte mit Tagesfreizeit reagierten jedes Mal sehr freundlich, alle weiteren Zuschriften galten den Fehlerchen, die in der Eile und ohne Schlussredaktion nahezu unvermeidlich sind.
Mit großer Bewunderung las ich den Trending-Newsletter von Jens Schröder und wunderte mich, wie dieser Mann es fertig bringt, wochentagtäglich bis sechs Uhr morgens alle wichtigen Quoten, Klicks, Aufrufe deutscher Medienangebote zusammenzutragen. Eines Tages stoppte Schröder seinen täglichen Umsonst-Service. Ich oder der Newsletter, so lautete seine einfache Erklärung. Jetzt sendet er wöchentlich, was völlig okay und obendrein deutlich gesünder ist.
Einige wenige freie KollegInnen mögen sich mit ihren Newsletter-Einkünften den dritten Tesla finanzieren, andere lassen einen Stab von Zuarbeitenden im Hintergrund rackern. Alles prima. In meinem Fall allerdings stellte sich mit der Zeit eine tückische kleine Pychose ein, die ich von übermäßigem Social-Media-Missbrauch schon kannte. Unter dauerndem Newsletterdruck neige ich dazu, jede Stunde meines Lebens auf selbstmarketingtaugliche Filmchen, Fotos, Sentenzen hin zu überprüfen. Dieses ständige Verwertungsdenken führt wiederum zu einem merkwürdig darstellenden Leben; manchmal habe ich Dinge gemacht, Veranstaltungen besucht, dummes Zeug geredet, nur um mein Newsletter-Ich zu bedienen.
Meine Bilanz nach einem Jahr Newsgelettere: gute Öffnungsrate, immerhin einige tausend jede Woche, aber nur eine Handvoll Abonnenten, die monatlich netto eine Runde Pizza für die Familie einbrachten, ohne Dessert. Grundsatzfrage: Das Leben ändern, wie Peter Sloterdijk rät, Twitter reduzieren, mehr Analytics, rumoptimieren, Freitage noch voller packen? Oder radikal schrödern und einfach aufhören? Ich wählte Option zwei.
Die erste gute Nachricht: Newsletter kann man jederzeit einstellen. Die zweite, noch bessere: Die wenigen wunderbaren Menschen, die mich mit einer Jahresspende unterstützt haben, wollten ihr Geld nicht zurück, sondern waren einverstanden mit meinem Vorschlag, die Einnahmen zu spenden, an ukrainische Kollegen, die weitaus Relevanteres produzieren als mäßig unterhaltsame Schnipsel. Kann sein, dass ich wieder mal einen Trend verpasst habe. Dafür habe ich Freiheit gewonnen. Guter Deal.
Seinen Newsletter hat Hajo Schumacher eingestellt, aber als Podcaster ist er weiterhin sehr aktiv: Für die “Berliner Morgenpost” macht er den Mutmacher-Podcast (mit seiner Frau Suse) und für das “Hamburger Abendblatt” den Sex-Podcast für Erwachsene (mit der Sexualtherapeutin Katrin Hinrichs).