Wie verführe ich Hörerinnen mit Storytelling-Podcasts zum binge-listening? – Johanna Steiner über Geschichten, die einen nicht loslassen.
18. September 2022
Akustisch fesselnd: Storytelling-Podcasts verbinden “eine gute Geschichte mit einer darunterliegenden Dimension oder Tiefe – und einer durchdachten akustischen Ästhetik”, schreibt Johanna Steiner in ihrem Gastbeitrag für die turi2 Podcast-Wochen. Als Redakteurin, Autorin und Regisseurin entwickelt sie Geschichten für die Wake Word Studios. Wichtig sei, nach einer ersten Idee zu überlegen, ob sich die Geschichte für eine mehrstündige Podcast-Aufarbeitung überhaupt eignet und wenn ja, warum: “Warum lässt mich diese Sache nicht los? Welcher zutiefst menschliche Konflikt, welches Wunder, welche Frage steht hier eigentlich im Zentrum?” Bei der Wahl der Stilmittel gelte, “nicht einfach Schema F zu folgen”, sondern “aus dem großen Arsenal der Möglichkeiten” zu schöpfen.
“I’m not a detective or a private investigator. I’ve not even a crime reporter. But every day this year, I’ve tried to figure out the alibi of a 17-year-old boy.”
Als 2014 die erste Staffel von Serial rauskam, versetzte sie nach und nach mein komplettes Umfeld in Aufruhr. Freund*innen, Kolleg*innen, Branchenleute – alle sprachen darüber, hatten es durchgebinget, fanden es unglaublich. “Serial” war in aller Munde – und nervte mich kolossal. Ich hatte keine Lust, auch dem Hype nachzurennen und sperrte mich trotzig.
Ein Jahr später, als die Aufregung sich gelegt hatte und ich aber doch immer wieder auf “Serial”-Referenzen stieß, habe ich die erste Folge dann auch mal runtergeladen, mit einer Mischung aus Widerwillen und Resignation. Ich hörte sie während einer Seminarwoche, bei der ich absolut durchgetaktete, volle Tage hatte. Folge 1 lief erst morgens im Bad und dann abends vor dem Einschlafen.
In der Mitte der ersten Folge lud ich schon die zweite und dritte runter. Nach der dritten Folge blieb ich nachts länger auf, um weiter hören zu können – und brachte mich um dringend benötigten Schlaf. Nach drei oder vier Tagen hatte ich die gesamte Staffel trotz übervoller Seminarwoche durchgehört. Mit klopfendem Herzen hatte ich an Sarah Koenigs Lippen gehangen, so wie alle anderen ein Jahr zuvor.
Da war etwas Unwiderstehliches dran, obwohl mir als Hörspielmacherin und Feature-Fan die Form an sich nicht neu war, und ich mit Kriminalgeschichten noch nie etwas anfangen konnte. Der Fall und die Art, wie er erzählt wurde, berührten mich und waren für mich in dieser Form neu.
Es geht hier nicht um “Serial”. Das war nur der erste Podcast, den ich auf diese Weise durchgesuchtet habe – viele weitere folgten.
Natürlich spielen für das Phänomen “binge-listening” viele Faktoren eine Rolle, z.B. die individuelle Rezeptionssituation wie bei mir, aber auch der Zeitpunkt der Veröffentlichung, die Marketing- und Kommunikationskampagne drumherum oder auch die Anknüpfungspunkte an aktuelle Diskurse.
Aber es gibt auch etwas innerhalb des Podcasts, das “funktionieren” muss, damit die Hörer*innen so gefesselt zuhören.
In meinen Augen verbinden Storytelling-Podcasts eine gute Geschichte mit einer darunterliegenden Dimension oder Tiefe – und einer durchdachten akustischen Ästhetik.
Für meine Begriffe beginnt alles mit dem Inhalt, der Idee, der Geschichte. Das ist der Dreh- und Angelpunkt. Es gibt unzählige Arten gute Geschichten zu finden; manchmal kommen die Ideen zu einem, manchmal muss man aktiv nach Ihnen suchen. Im ersten Moment erscheint die Idee fantastisch und man ist Feuer und Flamme.
Interessant wird es, finde ich, danach, wenn man überprüft, ob die Idee sich wirklich für eine mehrstündige Podcast-Aufarbeitung eignet. Wächst die Begeisterung, wenn ich mehr zum Thema lese und recherchiere? Oder finden sich nur lauter tote Enden und Misstöne? Wie reagieren Außenstehende, wenn ich von der Idee erzähle? Welche Aspekte wecken das Interesse besonders?
Wenn alle diese Zeichen auf “ja, weitermachen” stehen, will man eigentlich sofort losmarschieren und erste Texte schreiben oder Interviews führen. Ich persönlich nehme mir genau hier nochmal einen Moment Zeit, um die tiefere Dimension der Geschichte zu präzisieren.
Wenn die Geschichte also gut ist und trägt, warum tut sie das? Warum lässt mich diese Sache nicht los? Welcher zutiefst menschliche Konflikt, welches Wunder, welche Frage steht hier eigentlich im Zentrum?
Im Idealfall steht die Idee dann so klar und einzigartig da, dass sich die Wahl der Mittel zur Umsetzung intuitiv ergibt. Hier kann aus dem großen Arsenal der Möglichkeiten geschöpft werden, wie mit Host- oder Erzähl-Persönlichkeit(en), Sprecher*innen, Protagonist*innen, Nebenfiguren, Orten, Situationen, Geräuschen, Atmosphären und Musik umgegangen werden soll.
Eine Podcast-Idee, die mit einem ungewöhnlichen Anstrich daherkommt, könnte vielleicht auch in Sachen Host, Aufnahmeort und Musik erstaunliche Wege gehen. Eine andere Idee, die auf traditionellere Art in ihren Bann zieht, möchte vielleicht mit Hörspielsequenzen, Geräuschen oder Erzählpassagen maximale Immersion schaffen.
Hier gilt es, nicht einfach Schema F zu folgen, weil wir es so gewöhnt sind, sondern die richtigen Stilmittel für genau diese Idee zu finden.
Vielleicht kann das insgesamt als Marschrichtung für solche Projekte festgehalten werden: es muss darum gehen, genau hinzuschauen, wie Inhalt, Dimension und die akustische Erzählweise ineinandergreifen und zusammen ein unverwechselbares Gesamtkunstwerk ergeben.
Das Publikum erkennt und honoriert, wenn eine Produktion in sich stimmig und eigen, mit Haltung und Ästhetik daherkommt. Wenn man die “extra mile” gegangen ist, um an dieser Idee die Besonderheit aufzuspüren und dann auch bis ins Detail umzusetzen.
Und dann – wenn man Glück hat – berührt und fesselt man die Leute so intensiv, dass sie nicht aufhören können. Dass sie versehentlich eine Station zu weit fahren oder unvernünftigerweise eine Stunde länger wach bleiben. Bis die letzte Folge vorbei ist.
Johanna Steiner ist Redakteurin, Autorin und Regisseurin von Hörspielen und Podcasts, und seit Mai 2022 in diesen Funktionen bei den Wake Word Studios tätig. Nach einem Studium der Allgemeinen Linguistik, Komparatistik und Publizistik in Berlin, war sie von 2010 bis beim Hörspielstudio XBerg angestellt und zusätzlich freiberuflich aktiv. In dieser Zeit realisierte sie zahlreiche erfolgreiche Produktionen, darunter Hörspiele wie übernacht, die Podcast-Soap …und nebenbei Liebe oder den dokumentarischen True Crime-Podcast Drage. Für ihre Arbeiten wurde sie mehrfach mit Preisen ausgezeichnet: u.a. einer Nominierung für den Deutschen Hörbuchpreis für “übernacht”, dem “Ohrkanus” für ihre Regie bei Das Kind oder einer Nominierung für den “Young Excellence Award”.
Zum Thema Audio erscheint ein ganzes Buch: die turi2 edition #19 Audio – Erscheinungstermin: 12. Oktober 2022. Du kannst die Buchreihe turi2 edition kostenfrei lesen und als E-Paper hier kostenlos abonnieren.
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