turi2 edition #6 Netze

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Vernetzung Herausgegeben von Uwe C. Beyer und Peter Turi


Danke! Wir danken den Partnern von turi2 für ihre nachhaltige Unterstützung unserer publizistischen Arbeit. Adobe Audimax Axel Springer SE Bauer Media Group Bertelsmann Bild Bundesverband Presse-Grosso Bunte Entertainment Büro Freihafen Hamburg Daimler Deutsche Post DHL Group Die Zeit FAZ Frankfurter Allgemeine Zeitung Flyeralarm Focus Funke Mediengruppe Gruner + Jahr Handelsblatt Media Group Heidelberger Druckmaschinen Hubert Burda Media Landau Media

Dieses Buch ist das Resultat eines Scheiterns. Eigentlich wollten wir in dieser Ausgabe der „turi2 edition“ die digitale Vernetzung beschreiben. Dann haben wir festgestellt, dass die wichtigeren Netze im Leben analog sind. Die Natur macht es uns vor: Erst im Netz, in der Verbindung und Verknüpfung, erschließt sich dem Menschen die Welt – in ihrer ganzen Schönheit und Einzigartigkeit. Die Reihe Die „turi2 edition“ ist ein gedrucktes Bekenntnis zur Kraft des Analogen – in einer Welt des Digitalen. Optik, Haptik und Tiefe machen die Buchreihe zu einem Sammlerstück. Die „turi2 edition“ liefert Inspiration für Entscheider aus der Medien- und Markenwelt. 2016 wurde sie mit dem Bayerischen Printmedienpreis für Innovation ausgezeichnet.

Die Macher Peter Turi ist Gründer des Fachverlags turi2 und Herausgeber der „turi2 edition“.

Madsack Mediengruppe Media Control Onlineprinters Otterbach dpa picture alliance rtv Sappi Schleunungdruck Score Media Spiegel-Gruppe

Uwe C. Beyer bestimmt als Co-Herausgeber die kreative und optische Linie. Tatjana Kerschbaumer verantwortet als Chefredakteurin alle Texte der „turi2 edition“. Lea-Maria Kut realisiert die Buchreihe als Art Directorin und Produktionschefin.

Superillu VDZ Verband Deutscher Zeitschriftenverleger Welt wdv Mediengruppe Wirtschaftswoche Wort & Bild Verlag

Johannes Arlt definiert als Fotochef und Erster Fotograf die Bildsprache der „turi2 edition“.



12-Sterne-Zeitung 12-Sterne-Zeitung Das Handelsblatt ist Das Handelsblatt ist * „European Newspaper the Year“. of the Year“.* „EuropeanofNewspaper

*Ausgezeichnet beim 19. European *Ausgezeichnet Newspaper Award beim 19. European Newspaper Award in der Kategorie „Beste überregionale Tageszeitung“. in der Kategorie „Beste überregionale Tageszeitung“.

Handelsblatt_1_2_3_vorne_PSOcoated_v3.indd Alle Seiten 30324_HB_ENA_3_1_turi2_PSOcoated_v3.indd 1 30324_HB_ENA_3_1_turi2_PSOcoated_v3.indd 1

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Was nicht im Netz ist, ist nicht in der Wirklichkeit. Gebhard FĂźrst, Medienbischof der Katholischen Kirche


turi2 edition Schriftenreihe für Medien & Marken Ausgabe 6, 2018, 20,- Euro ISBN 978-3-9819155-1-8 ISSN 2366-2131 Verlag: turi2 GmbH Ringstraße 89, 69190 Walldorf Telefon 06227/841 304, edition@turi2.de turi2.de/edition Herausgeber Uwe C. Beyer (Creative Director) und Peter Turi (verantwortlich) Chefredakteurin Tatjana Kerschbaumer Art Directorin Lea-Maria Kut Fotochef und Erster Fotograf Johannes Arlt Foto-Korrespondenten Frank Bauer, München; Holger Talinski, Berlin; Thies Rätzke, Hamburg Fotografen Sebastian Berger, Gaby Gerster, Markus Burke, Markus Trantow, Jens Twiehaus, Anne-Nikolin Hagemann, Daniela Hillbricht, Baschi Bender, Gundula Krause, Oliver Reetz Autoren Anne-Nikolin Hagemann, Heike Reuther, Markus Trantow, Jens Twiehaus, Anne Fischer Lektorat Anne Fischer Video-Produktion Jens Twiehaus, Markus Trantow, Björn Czieslik, Johannes Arlt, Heike Reuther Anzeigen und Vertrieb Simone Stähr, simone.staehr@turi2.de Kooperationen Carl-Eduard Meyer, carl-eduard.meyer@turi2.de Mediadaten: turi2.de/media Abonnements: turi2.de/abo Druck Schleunungdruck, Marktheidenfeld, schleunungdruck.de Lithografie Otterbach Medien, Rastatt/Hamburg, otterbach.de Vertrieb: BPV Medienvertrieb Rheinfelden, bpv-medien.de Partner für Augmented Reality wdv Mediengruppe, Bad Homburg, wdv.de


PT Peter Hello, Walldorf calling. Seid ihr alle da?

Uwe Hatte gerade eine Idee: Wollen wir uns alle nackt an die Wand stellen? So Kommune-1-mäßig?

Tatjana Servus, München ist online Lea-Maria Moin

, bin auch da

Johannes Dito

Hallo noch da? Peter Wo bleibt Uwe? Ich muss gleich zur Chorprobe. Haben wir eine Idee fürs Edi? Ich will da nicht schon wieder allein aufs Foto. Wir könnten doch zeigen, dass wir vernetzt arbeiten. Also Gruppenfoto? Was meint ihr?

Tatjana Also ich muss da nicht unbedingt drauf... Lea-Maria

Tatjana Ohne mich Peter Ich wäre dabei! Lea-Maria Wir könnten auch eine Art Bildcollage machen, in der jeder von uns ein rotes Seil in der Hand hält, das uns (und unsere Bilder) miteinander verbindet. Uwe

Ich auch nicht

Nee.

Johannes

Tatjana

Kann ich machen, wenn ihr nach Hamburg kommt Peter

Wir sind ja auch eher digital verknüpft. So via Skype, E-Mail, iChat...

Ja, aber du sollst ja mit aufs Bild!

Peter Stimmt. Warum nehmen wir nicht einfach diesen Chat fürs Edi? Sagt mehr als 1000 Selfies!

Johannes Ach so, dann bring ich meinen Selfie-Stick mit. Uwe Ahoi zusammen! Höre ich da gerade Selfie-Stick? Das hatten wir doch schon letztes Mal...

Uwe Das Nacktfoto würde viel mehr reinhauen. Menno.


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Inhalt 12

Augmented Reality: alle Videos von turi2.tv zum Buch

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Netze der Welt: Kanäle, Straßen, Fischschwärme

20 spannende Netzwerker

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Heike Straube, Deutsche Post Christian Seifert, DFL Steffi Czerny, DLD Tim Steinmetzger, hy Lukas Wick, Pilzforscher Rüdiger Weiß, Deutsche Bahn Heribert Bertram, Bauer Media Group Katharina Huber, Netzakrobatin Thomas Vollmoeller, Xing Burkhard Graßmann, Burda

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Elke Schneiderbanger, ARD Axel Wallrabenstein, MSL Germany Thomas Düffert, Madsack Frank Vogel, Gruner + Jahr Sven Thürke, Fischer Christiane Wolff, Serviceplan Christian Vollmann, nebenan.de Norbert Brandau, Amazon Thomas Feicht, Lust auf Gut Patricia Schlesinger, RBB

Vernetzung in Zahlen

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Netze in Zahlen Netzwerker in Zahlen Internet in Zahlen turi2 edition #6 · Netze


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Die Vernetzung der Welt: Wie Züge, Autos, Flugzeuge, Post und Telekommunikation uns verbinden. Eine Bildergeschichte aus den Kindertagen unserer Infrastruktur

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Interview I: Miriam Meckel über das mächtigste menschliche Netzwerk – das Gehirn

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Die Spur der Bücher: Die ersten, großen Netzwerke des Wissens waren Klöster. Wir haben zwei von ihnen besucht

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Interview II: Jörg Howe über die Vernetzung der Autoindustrie und die Schwäche der Medien

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Sharing Economy: Unsere Autorin hat sich digital vernetzt, um sich durchs Leben zu tauschen. Ein Selbstversuch

turi2 edition #6 · Netze

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In nützlichen Netzen: Zwei Spinnenforscher polieren das Image der haarigen Krabbler auf

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Interview III: Medienbischof Gebhard Fürst über Jesus als Netzwerker und YouTube-Star

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Schlussbesprechung: Warum die „turi2 edition“ geilere Themen braucht

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Heribert Bertram Seite 78

JĂśrg Howe Seite 116

Im Kloster

Seite 82

Frank Vogel Seite 136

Miriam Meckel Seite 62

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turi2 edition #6 ¡ Netze


15 spannende Videos

in der Augmented-Reality-App oder per Direktlink Sven Thürke Seite 142

Axel Wallrabenstein Seite 126 erklärt seine Netzwerk-Strategie flüsternd in einer Galerie turi2.de/edition/wallrabenstein Frank Vogel Seite 136 beantwortet den turi2-Fragebogen und wirbt für sich selbst turi2.de/edition/vogel Sven Thürke Seite 142 zeigt das Fischerleben auf Hiddensee turi2.de/edition/hiddensee Heike Straube Seite 26 bringt den Einwohnern von Blankenfelde ihre Briefe turi2.de/edition/postbotin

Im Kloster Seite 82 lagern Schätze früher Vernetzung. Wir zeigen die schönsten turi2.de/edition/kloster

Michael Thürke Seite 142 erklärt, wie man eine Aalreuse flickt turi2.de/edition/reusen

Miriam Meckel Seite 62 diskutiert mit Peter Turi über das mächtigste Netzwerk – das Gehirn turi2.de/edition/meckel

Thomas Vollmoeller Seite 108 erklärt den Hamburger Maschinenraum von Xing turi2.de/edition/xing

Christiane Wolff Seite 152 beantwortet den turi2-Fragebogen und verrät ihr verstecktes Talent turi2.de/edition/wolff

Rüdiger Weiß Seite 76 gibt Einlicke in die Netzleitzentrale der Deutschen Bahn turi2.de/edition/bahn

Burkard Graßmann Seite 112 beantwortet den turi2-Fragebogen und verrät den besten Rat seiner Mutter turi2.de/edition/grassmann

Norbert Brandau Seite 160 führt durch das Amazon-Lager in Winsen turi2.de/edition/amazon

Heribert Bertram Seite 78 beantwortet den turi2-Fragebogen und verrät seine heimliche Schwäche turi2.de/edition/bertram

Jörg Howe Seite 116 spielt Auto-Vervollständigung und beantwortet Halbsätze rund ums Auto turi2.de/edition/howe

Bischof Gebhard Fürst Seite 182 beantwortet den turi2-Fragebogen und verrät, was er als Kind werden wollte turi2.de/edition/bischof

Fotos: Johannes Arlt (4), Sebastian Berger (1), Thies Rätzke (1)

Das Plus-Zeichen führt zu den Videos

Mit der AugmentedReality-App unseres Partners, der Mediengruppe wdv, gewinnen Sie neue Einsichten. Es geht ganz einfach:

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Laden Sie sich mit Ihrem Smartphone oder Tablet die wdv-App aus dem iTunes-Store oder bei Google Play herunter – Sie finden die App unter wdv.de/viewar

2

Scannen Sie mit der App die Titelseite der „turi2 edition“. Halten Sie Ihr Smartphone mindestens 20 Zentimeter über das Buch. Laden Sie die Videos herunter

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Halten Sie Ihr Handy über eine Seite mit dem rot-schwarzen Kreuz-Symbol – in mindestens 20 Zentimetern Abstand. Das Video startet automatisch

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Die Welt besteht aus kleinen und großen Netzen, natürlichen und konstruierten, einfachen und komplexen, aber vor allem: wichtigen. Um die drei Geschäftsbezirke der chinesischen Stadt Chongqing mit den Hauptstraßen und der Flughafenautobahn zu verbinden, bauten Architekten einen Verkehrsknotenpunkt über 15 Rampen und fünf Ebenen, der in insgesamt acht verschiedene Richtungen führt. Die Überführung gilt als kompliziertestes Verkehrsnetz der Erde

Foto: (c) dpa

Huangjuewan-Überführung, Chongqing, China



Foto: © Studio Tomás Saraceno 2013 © Kunstsammlung NRW

In Orbit, Düsseldorf Immer in Bewegung, immer im Wandel: So sind Netze – auch das des Künstlers Tomás ­ Saraceno im Ausstellungsgebäude K21 der Kunstsammlung NordrheinWestfalen. Saracenos 2.500 Quadratmeter große Installation verbindet drei Ebenen, die sich verändern, wenn mehrere Menschen sie betreten. Die schwingenden Netze sollen einander bedingende ­ Kommunikation darstellen



Foto: picture alliance / Reinhard Dirscherl

Stachelmakrelenschwarm, Seychellen, Indischer Ozean Fische sind Meister im Netzwerken: Rund ein Viertel aller Arten verbringt ihr gesamtes Leben im Schwarm. Obwohl das ständige Nebeneinander-Schwimmen auch seine Schattenseiten hat – zum Beispiel größere Konkurrenz um Futter und Geschlechtspartner – überwiegen die Vorteile. Denn das Fischnetzwerk schützt die einzelnen Tiere vor Fressfeinden und trifft klügere Entscheidungen als ein FischIndividuum. Daher stammt der Begriff Schwarmintelligenz



Heute umspinnt das Netz die Welt, doch seine alten Vertreter reichen manchmal nur von Scholle zu Scholle: In der chinesischen Stadt Suqian in der Provinz Jiangsu erreichen Bauern und Fischer ihre Felder und Fanggründe über Kanäle. Schon im 7. Jahrhundert wurden dort Teile des sogenannten Kaiserkanals gebaut, der die Flüsse Jangtsekiang und Huang He verbindet – auf über 1.800 Kilometern Länge

Foto: picture alliance / ZUMA Press

Wasserstraßen, Suqian, China



Foto: iStock / Viesinsh

Honigbienen, Deutschland Bienen vertrauen auf Teamwork, nicht nur, wenn sie quasi in der Luft Brücken bauen. Die Arbeiterinnen eines Volkes haben ihre ganz eigene Art des Netzwerkens entwickelt: den sogenannten Schwänzeltanz, mit dem sie anderen Bienen mitteilen, wo lohnende Futterquellen liegen. Je mehr Pollen die Insekten sammeln, desto höher ist die Überlebenschance des Volkes im Winter. Dafür fliegt eine besonders fleißige Arbeiterbiene täglich Tausende Blüten an


Zwanzig Netzwerker Postboten und Pilzforscher, Akrobaten und Anzeigen-Jongleure: Wir haben 20 Menschen besucht, deren Leben eng mit dem Netz verknüpft ist – analog und digital

Zwanzig Netzwerker 1.) Heike Straube

Der gelbe Blitz von Blankenfelde Heike Straube ist eine von 103.000 Boten der Deutschen Post – und damit der sichtbare Teil eines komplexen Liefernetzes. Sie postiert Päckchen neben Blumenkübeln und weicht herrenlosen Hunden aus Von Jens Twiehaus und Holger Talinski (Fotos)

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umstehen gehört nicht zu Heike Straubes Spezialitäten. Wo sie ist, geht es zackig zur Sache. Straube, eine resolute Frau Mitte 50, trägt kurze Haare und spricht kurze Sätze. Sie muss schnell weiter. 500 plus 60, das sind heute ihre Zahlen des Tages. 500 Briefe plus 60 Pakete wird die Zustellerin der Deutschen Post heute unter die Leute bringen. Ihr Revier ist das brandenburgische Blankenfelde-Mahlow. Der nüchterne Ort an der südlichen Berliner Grenze passt zu der Frau in der schwarzgelben Softshell-Jacke: Eine ausgebaute Bundesstraße und startende Flieger von Berlin-Schönefeld lassen keine ländliche Ruhe aufkommen. Straube ist eine von 84.000 Briefund 19.000 Paket-Zustellern der Deutschen Post, die praktisch überall hinkommen, wo Menschen wohnen: Es gibt die Postkahn-Zustellung über Kanäle im Spreewald, eine Filiale auf der Zugspitze und einen Wattwanderer, der Briefe nach 15 Kilometern Fußmarsch auf die Nordsee-Hallig Süderoog bringt.

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Und es gibt sehr viele Heike Straubes, die dieses System von Montag bis Samstag in Gang halten. Straubes Tag beginnt, wie so vieles in der Post-Lieferkette, im Verborgenen. In einer Lagerhalle gleich hinter einem Discounter legt sie um 7.30 Uhr ihre Jacke beiseite, greift sich einen Schwung gelber Postkisten und beginnt ihre allmorgendliche Choreografie. Für Außenstehende ist kaum zu begreifen, was da passiert: Straube steckt Brief um Brief im Eiltempo in kleine Fächer. Birkenstraße, Kantstraße, „Sach mal, Bahnhofstraße bist du, oder?“, ruft es von gegenüber durchs Papierrascheln der Kollegen. „Reifendienst Müller kommt nich‘ bei Meier rin!“ Um beim Austragen den Überblick zu behalten, sortieren die Zusteller ihre Post schon vorher gemäß der Route. Die Vorarbeit erledigt meist eine Maschine, aber die letzten Schritte sind Handarbeit. Straube ist eine sogenannte Verbund-Zustellerin. Das bedeutet, sie bringt den Haushalten vom Einkaufsprospekt bis zum 31,5-Kilogramm-Paket

alles auf einer Tour. In ländlichen Gebieten ist das wirtschaftlicher für die Deutsche Post; so spart das Unternehmen täglich viele Tausend doppelte Fahrkilometer. Für Straube bedeutet VerbundZustellung allerdings: Sie muss über Hunderte verschiedene Sendungen den Überblick behalten, die in viele Dutzend Häuser gebracht werden sollen. Und ganz nebenbei ist Straube auch noch ein MOPS. Das steht für den Mobilen Postservice, denn viele Boten sind längst eine Filiale auf zwei Beinen. Das „Postamt“ alter Tage ist Geschichte; die neue, für den Konzern günstigere Lösung heißt Kiosk, Getränkemarkt oder: Heike Straube. Sie nimmt am Gartentor also auch Pakete mit oder verkauft Briefmarken. Ihr Job ist eine One-Woman-Show. Nach dem Sortieren in der neonbeleuchteten Halle schiebt sie gegen 9 Uhr die sortierten Postkisten nach draußen auf den Hof. Laut scheppernd rollt der Transportwagen über die Pflastersteine. Hier packen gerade mehrere turi2 edition #6 · Netze


Das Post-Netz in Zahlen

110.000

82 Briefkästen betreibt die Deutsche Post

230 Brief- und 34 Paketzentren sortieren die Sendungen – meist nachts

Zustellbasen und 2.800 kleine Stützpunkte bilden die Startpunkte für die Boten

84.000 Brief- und 19.000 Paket-Boten kommen zu Fuß, per Fahrrad oder mit einem von 47.000 Fahrzeugen

Zwei

84 Paar Schuhe verschleißen Postboten pro Jahr

Prozent der Briefe sind Geschäftspost. Der private Liebesbrief wird immer seltener

Fünf Boten werden pro Tag von Hunden gebissen


In der Augmented-Reality-App zur „turi2 edition“ können Sie Heike Straube auf ihrer Tour begleiten turi2.de/edition/postbotin

Kollegen ihre Autos, gleich werden sie nacheinander ausschwärmen. Schon seit einiger Zeit tritt Straube ihre Tour mit einem Elektroauto an. Der Streetscooter, hergestellt in Aachen von einer Tochter der Deutschen Post, ist speziell auf ihre Bedürfnisse abgestimmt. Kein Beifahrersitz, kein Autoradio, dafür spezielle Halterungen für Postkisten und ein Bildschirm für den Blick nach hinten. Wenn Heike Straube aufs Gaspedal drückt, saust ein gelber Blitz durch Blankenfelde. Das Auto beschleunigt trotz voller Ladung rasant und fast lautlos. Sie spricht nicht viel auf ihrer Tour, nur bei Stammkunden ist ein kurzer Plausch natürlich Pflicht. Kürzlich war ein neuer Zusteller in ihrem Bereich unterwegs – das bewegt eine ältere Dame. Sie stoppt Straube im Vorgarten. „Is dit’n Deutscher oder ’n Ausländer jewesen?“ – „Der Kollege ist Türke“, sagt Straube. Die Dame erwidert: „Der sieht aber ooch jut aus.“ Ein Lächeln, „Tschüssi“, weiter geht‘s. Über Stunden immer das Gleiche: einsteigen, nervig trötender Ton vom Auto, Bremse lösen, Stück nach vorn

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fahren, Bremse knarzend betätigen, dabei bereits in die Postkiste greifen, Tür auf, nervig trötender Ton, zum Postkasten gehen, „Hallo Herr Schulze“, zurück und alles wieder von vorn. Ein paar Meter weiter wartet die erste echte Herausforderung des Tages: Ein Hund ohne Herrchen steht auf der Straße und schaut interessiert. Straube gönnt sich zum ersten Mal eine kurze Pause und bleibt lieber im Auto. Auch die Jungs von der Baustelle gegenüber fragen sich schon, wem der Hund gehört. Nun wagt sich Straube doch nach draußen, es muss ja weitergehen. „Na, Großer?“ Hunde sind die größte Gefahr für Postboten: Jeden Tag werden in Deutschland im Schnitt fünf von Straubes Kollegen gebissen. Ihr ist das auch einmal passiert, jetzt geht sie jedes Jahr zur Hundeschulung, um sich das nötige Selbstbewusstsein anzutrainieren. „Letzte Meile“ nennen die Logistiker Straubes Job. Es ist die letzte kurze Distanz vom abschließenden Sortieren bis zum Empfänger. Es ist auch die aufwändigste und teuerste Arbeit, denn Zustellung wird im Online-Zeitalter zum immer größeren Problem: Je mehr

die Deutschen bei Amazon, Otto und Zalando ordern, desto mehr Pakete passen nicht einfach durch den Briefschlitz. Dass Roboter oder Drohnen bald ihre Arbeit erledigen, kann sich Straube nicht vorstellen. Was’n dit für ne Frage? Postboten bringen Gegenstände in allen erdenklichen Formen an alle erdenklichen Orte – wie soll das automatisiert funktionieren? Straube ist schon froh, bei vielen ihrer Kunden eine Abstellgenehmigung zu haben. Bei den einen darf sie Pakete in die Garage stellen, bei den anderen neben den Blumenkübel. Wie stehen eigentlich die Männer und Frauen in Gelb zu Amazon und Co? Heike Straube sieht es pragmatisch: „Ich bestelle ja auch Sachen im Internet“, sagt die Frau, die früher einmal Verkäuferin war. Kurz darauf wuchtet sie ohne Klage ein Paket vom Format einer Zimmertür aus ihrem E-Auto. Was drin ist, wird sie nicht erfahren; und bis zum Dienstende wird sie das Paket vergessen haben. Morgen beginnt das ganze Spiel von vorn: mit neuen Umschlägen und neuen Paketen.

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Ob im Hinterzimmer bei Verhandlungen über Medienverträge oder als Gesicht der Bundesliga – Liga-Boss Christian Seifert macht immer bella figura. Auch im Schmutzraum der Eintracht Frankfurt


Zwanzig Netzwerker 2.) Christian Seifert

Der Liga-Boss als Ballaufpumper und liebstes Feindbild der Fußball-Romantiker Christian Seifert knüpft als Geschäftsführer der Deutschen Fußball-Liga (DFL) geschickt seine Vermarktungs-Netze. Und beschafft den Bundesligisten den Stoff, den sie am dringendsten brauchen: Geld Von Peter Turi und Gaby Gerster (Fotos)

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o einen Auftrieb hat der kleine Schmutzraum im Kabinentrakt der Eintracht Frankfurt im alten Waldstadion – Pardon: in der Commerzbank-Arena – selten gesehen: An den riesigen Waschmaschinen stopft Zeugwart Franco Lionti verschwitzte Eintracht-Trikots in die überdimensionierten Trommeln, vorne übt sich Christian Seifert, der Geschäftsführer der DFL, als Ballaufpumper. Hinter dem Rücken von Fotografin Gaby Gerster drängt sich eine Handvoll kichernder Bundesligaprofis, um die kuriose Szene mit dem mächtigen Liga-Boss an der Pumpe mit ihren Smartphones festzuhalten. Christian Seifert bleibt in dem Trubel seelenruhig und setzt routiniert sein

schönstes Lächeln auf. Dabei malt er sich, halblaut, negative Bildunterschriften zu den Fotos aus, die gerade entstehen: „Seifert, die Luftpumpe“, sagt er, „Seifert wäscht bei Eintracht schmutzige Wäsche“ und, als er einen Ball aufditschen lassen soll, „Seifert entgleiten die Dinge“. Kritik von Medien und Fans ist Seifert gewohnt, als Liga-Boss kann er es nie allen recht machen. Wenn Seifert übers Wasser laufen könnte, würden seine Kritiker sagen: Nicht mal schwimmen kann er. Das Setting für das Fotoshooting hat Seifert selbst gewählt: Der Liga-Boss als Ballaufpumper, ein schönes Bild. So möchte Seifert gesehen werden: als stiller Arbeiter, der im Hintergrund dafür sorgt, dass den Stars auf dem Rasen

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Christian, der Libero: Der Ball ist rund und Christian Seifert hat ihn stets im Blick. Seifert hat beim SV Rastatt 04 einst Landesliga gespielt, stets in der Mitte des Felds, nie am Rand

nicht die Luft ausgeht. Seifert beschafft das, was der Profifußball am dringendsten braucht – Geld. Immer mehr Geld. Mediengelder sind bei den 36 Vereinen der 1. und 2. Bundesliga, die sich zur Deutschen Fußball-Liga zusammengeschlossen haben, die wichtigste Geldquelle – noch vor Ticketund Werbeeinnahmen. Die zentrale Medienvermarktung bringt pro Jahr 1,16 Milliarden Euro, vor allem vom Pay-TV-Sender Sky, aber auch von ARD, ZDF, Eurosport, Amazon und DAZN. Für die Profivereine macht das 30 bis 50 Prozent ihrer Etats aus. Seifert ist Medienprofi im doppelten Sinn: Er weiß im Stillen zu wirken, virtuos seine Netze zu knüpfen, bei den Medienanbietern holt er immer mehr

raus für das Premium-Produkt Bundesliga. Seifert weiß aber auch die Bühne zu nutzen. „Wer sich mit Zweitklassigkeit abfindet, findet sich bald in der Drittklassigkeit wieder“, sagt er beim Neujahrsempfang in Frankfurt zwischen Schnittchen, Sekt und versammelter Fußball-Prominenz – mit Blick auf das schlechte Abschneiden in den Europawettbewerben. Die Club-Bosse gucken anschließend ziemlich sparsam. Seifert füllt viele Rollen. In der EJugend des FV Ottersdorf begann er als Mittelstürmer, wurde später Libero, rückte ins zentrale Mittelfeld, spielte für den SV Rastatt 04 in der Landesliga – und immer agierte Seifert in der Mitte des Spielfeldes. So ist es auch heute: Für die Bundesliga-Manager ist er smarter

Nie kann er es allen recht machen. Wenn Seifert übers Wasser laufen könnte, würden seine Kritiker sagen: Nicht mal schwimmen kann er 32

Vermarkter, für die Medien ein harter, aber respektierter Verhandlungspartner. Und für Traditionsfans das liebste Feindbild. Philipp Köster, als Chefredakteur von „11 Freunde“ so etwas wie ein Klassensprecher der Fußball-Romantiker, nennt Seifert einen „Geschäftemacher“, der „eindimensional und kulturvergessen“ der „Profitmaximierung“ hinterherjage. Da tat es gut, dass Seifert kürzlich im Aktuellen Sportstudio beim Torwandschießen eiskalt vier von sechs Schüssen versenkte. Selbst der offizielle Weltmeister im Torwand-Schießen traf im Stress der TV-Kameras nur einmal. Dass der Düpierte zufällig auch noch Philip(p) Köster hieß – geschenkt. Seifert selbst sieht sich als Teamplayer und Teil eines komplexen Netzes: „Wer so viel mit Subsystemen – Clubs, Medienpartner, Sponsoren, DFB, Fans, Politik – kommuniziert, ist automatisch ein Netzwerker.“ Dabei hat er eine ganz eigene Art des Networking entwickelt: Er hat kein rotes Büchlein und lädt nicht zur Gartenparty, in soturi2 edition #6 · Netze


Die Zukunft intelligent gestalten Die Mobilität von heute wird morgen eine ganz andere sein. Diesen Wandel gestaltet Daimler mit: durch intelligente Entwicklungen unserer Produkte in den Bereichen Digitalisierung, Elektromobilität und autonomes Fahren. Mehr Informationen unter www.daimler.com


Die Nummer 17 bei Eintracht Frankfurt trägt Kevin-Prince Boateng, Zeugwart Franco Lionti zeigt Christian Seifert, wie Name und Nummer aufs Trikot kommen. Der Vorgang nennt sich Beflockung

zialen Netzwerken ist er nur lesend und unter Pseudonym unterwegs. Seifert setzt im Networking auf Nachhaltigkeit: „Über die Jahre haben sich belastbare Kontakte ergeben, die ich auch pflege.“ Seit fast dreizehn Jahren wirkt er nun als oberster Geldbeschaffer der Liga – in derselben Zeit feuerte und engagierte der Hamburger SV neunzehn Trainer. Seifert stand nie zur Diskussion, die Zahlen sind zu gut: Die Liga hat in der abgelaufenen Saison 4,01 Milliarden Euro Umsatz gemacht – der dreizehnte Umsatzrekord in Folge. Die TV-Quoten und Social-Media-Zugriffe sind höher denn je. Pro BundesligaSpieltag pilgern 360.000 Menschen ins Stadion, 40.000 pro Spiel. Mit rund 300 Mitarbeitern ist die DFL selbst ein beachtlicher Mittelständler geworden, 120 Personen kümmern sich ums Kerngeschäft der nationalen und internationalen Vermarktung, Markenpflege, Lizenzierung, Spielplangestaltung und Fan-Belange. Rund 180

Mitarbeiter produzieren bei Tochterunternehmen Bewegtbild für TV und Content für Social Media. Sie betreiben das weltweit größte digitale Sportarchiv; erheben Spieldaten bei über 600 Spielen pro Jahr. „Marken werden Medien“, glaubt Seifert und geht selbst voran: Die DFL war 2006 weltweit die erste Liga, die ihre Spiele im TV selbst produzierte. Die Marke Bundesliga füttert Facebook, Twitter, Instagram und Co mit digitalen Clips. Globales Content-Marketing. Die Digitalisierung ist im Bundesliga-Fußball voll angekommen. Ohne Digitalisierung gäbe es kein Pay-TV und keine globalen Märkte, glaubt Seifert. TV-Produktion, Social Media, Spieldaten, Scouting, Tracking, Leistungskontrolle – alles ist digital geworden. Big Football Data. „Der Profisport ist ein Musterbeispiel für die Digitalisierung auf jeder Stufe der Wertschöpfung“, sagt Seifert. Alle vier Jahre kommt für Seifert und sein Team der Moment der Wahrheit –

CHRISTIAN SEIFERT hat als Fußballer in der 4. Liga für den SV Rastatt 04 gekickt. „Aber der liebe Gott hat mir Grenzen gesetzt“, sagt er. Linker Fuß und Kopfballspiel waren zu schwach für eine Profikarriere. Also studierte Seifert Kommunikationswissenschaft, Marketing und Soziologie. Über ProSieben, MTV und Karstadt-Quelle kam er 2005 als Geschäftsführer zur DFL. Privat ist Seifert Gladbach-Fan, er spielt Tennis und läuft. Er verbringt möglichst viel Zeit mit seiner Frau und den beiden Töchtern, Fußball ist dabei kein großes Thema. Beim DFL-Betriebskick sieht man ihn selten: „Es ist das räudigste Gefühl von allen, wenn man spürt, die Jüngeren langen beim Chef nicht richtig hin“ 34

wie für einen Olympiakämpfer. Dann steht die Rechtevergabe an und für die Liga geht‘s um Gold, Silber und Bronze. Das nächste Mal wird 2021 sein. Dann könnten Apple, Google, Facebook und Netflix mitbieten und die Preise weiter nach oben treiben, hofft Karl-Heinz Rummenigge, der Vorstandsvorsitzende der FC Bayern München AG. Seifert ist da vorsichtiger: „Noch steht Netflix für serielles Drama und nicht für Livesport.“ Zumindest nicht für die Art von seriellem Drama, das sich Woche für Woche in der Bundesliga abspielt. Erstickt die Fußball-Bundesliga an einer Überkommerzialisierung? Seifert antwortet betont höflich: „Ich lasse jedem seine Meinung. In der Fläche gibt es aber keinerlei Indizien, dass größere Menschenmengen sich von der Bundesliga abwenden, weil sie finden, die sei überkommerzialisiert.“ Er sieht eine andere Gefahr: „Die Zuschauer müssen das Gefühl haben, sie erleben großartigen Sport. Diese Qualitätserwartung müssen wir dauerhaft erfüllen.“ Wenn Bundesligisten reihenweise in der Europa League gegen international drittklassige Gegner verlieren, macht das die Vermarktung für Seifert nicht einfacher. Den Fußball sieht Seifert als „das größte Netzwerk Deutschlands“ und „vielleicht das letzte große Lagerfeuer.“ 40 Millionen Menschen in Deutschland interessieren sich für die Bundesliga – „der höchste Wert, den wir je gemessen haben.“ Woche für Woche bewegt die Liga die Hälfte der Deutschen und gibt ihnen Gesprächsstoff. Die Bundesliga ist Business und Kultur zugleich. Für sie begeistert sich der Topbanker wie der Pförtner, beide können sich montags über den Stadionbesuch am Samstag unterhalten. Nur dass sie nebeneinander stehen, ist unwahrscheinlich. Für den Pförtner gibt’s günstige Plastiksitze und Currywurst, für den Banker die gepolsterten VIPSessel und Trüffelpasta. „Wir brauchen beides“, sagt Seifert. Mit den teuren VIP-Sitzen erzielen die Vereine bis zu 40 Prozent ihrer Ticket-Einnahmen. Eines ist Seifert wichtig: Die Bundesliga habe sich eben nicht zu einem gnadenlosen Hochpreis-Produkt entwickelt. Borussia Dortmund habe genauso viele Zuschauer wie Manchester United, mache mit ihren deutlich geringeren Eintrittspreisen aber 70 Millionen Euro weniger Umsatz. Einfach, weil Fußball in Deutschland Volkssport bleiben soll. Und dann sagt Seifert einen Satz, der sein Wollen auf den Punkt bringt: „Bei objektiver Draufsicht und im internationalen Kontext würde es mir schwerfallen zu sehen, wo die Bundesliga gravierende Fehler gemacht hat.“ turi2 edition #6 · Netze


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Netze in Zahlen von Tatjana Kerschbaumer

12.996 1490

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Kanäle treffen im Dattelner Meer zusammen. Das Kanalkreuz im nördlichen Ruhrgebiet ist der weltweit größte Knotenpunkt von künstlichen Wasserstraßen

56 der 74 deutschen Großstadtregionen haben einen Wasserstraßenanschluss. 75 Prozent davon entfallen auf natürliche Flüsse, 25 Prozent auf künstlich angelegte Kanäle

75.000

33.200 Kilometer lang ist das Schienennetz der Deutschen Bahn. Täglich werden mehr als 300 deutsche Bahnhöfe angefahren. Manchmal sogar Wolfsburg

220 Kilometer lang ist das längste Stollensystem Deutschlands. Der Marx-Semler-Stolln liegt im Erzgebirge und wurde im 15. Jahrhundert zur Entwässerung eines Bergwerks angelegt. Heute ist er offen für Besucher

Siebenundzwanzig

320 Kilometer lang ist das Netz der deutschen Radfernwege. Darunter fallen alle Radwege, die länger als 100 Kilometer sind

Flüge der Lufthansa CityLine bringen Passagiere täglich in mehr als 80 verschiedene Städte. Angeflogen werden unter anderem das albanische Tirana und das moldawische Chisinau

220 weltweite U-Bahn-Netze visualisierte der US-Grafikdesigner Peter Dovak. Am leichtesten fiel ihm sein Projekt im nordkoreanischen Pjöngjang – mit gerade einmal zwei Linien 36

Paar hüfthohe Fischerstiefel kaufen die Berliner Wasserbetriebe jährlich für ihre Mitarbeiter, die das 9.606 Kilometer lange Kanalnetz der Hauptstadt in Schuss halten

14.510 Tankstellen versorgen die deutschen Fahrer mit Sprit. 1965 waren es alleine in Westdeutschland noch über 40.000. Pächter einer Tankstelle machen heute nur noch rund 18 Prozent ihres Gewinns durch Kraftstoff-Verkauf – den Rest erwirtschaften Süßigkeiten und Autowäschen

1.750 Kilometer neue Stromkabel sollen laut Bundesnetzagentur bis 2024 verlegt werden

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Quellen: adac.de, ADFC, archdaily.com, bergbaufreunde-sachsen.de, Berliner Wasserbetriebe, Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung, Deutsche Bahn, lufthansacityline.com, merkur.de, statista.com, taspo.de, taz.de, wikipedia.de

richten Janetto und Francesco von Taxis für die Habsburger die erste zentral organisierte Postverbindung zwischen Innsbruck und den Niederlanden ein. Boten zu Pferde bringen eine versiegelte Tasche im Galopp zum nächsten, wartenden Boten – und wechseln dabei alle 37 Kilometer das Pferd

Kilometer weit können Fahrer auf deutschen Autobahnen brettern. Innerhalb Europas hat nur Spanien ein längeres Schnellstraßennetz


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Foto: Lufthansa

Der Winterflugplan der Deutschen Lufthansa 1937 zeigt die Reichshauptstadt Berlin im Zentrum. Frankfurt ist nur Nebenschauplatz


DIE VERNETZUNG DER WELT Flugzeuge, Autos, Zßge, Post, Telefon und Internet verbinden uns mit nahen Verwandten und fernen Ländern. Eine Bildergeschichte aus den Kindertagen unserer Infrastruktur-Netze VO N TAT JA N A K E R S C HBAU M E R


Flieg, Kranich, flieg Am 6. April 1926 nimmt die „Deutsche Luft Hansa Aktiengesellschaft“ mit Hauptsitz Berlin den Betrieb auf. Sie entsteht aus dem Zusammenschluss der Fluggesellschaften „Deutsche Aero Lloyd AG“ und „Junkers Luftverkehr AG.“ Ab 1933 schreibt sich der Name Lufthansa zusammen. Er ist eine Referenz an das mittelalterliche Wirtschaftsbündnis der Hanse

Fotos: Lufthansa (5)

In den 50ern fliegt die Douglas DC3 unter anderem von Bremen ab. Zwei Jahrzehnte später sitzen Piloten bereits im Cockpit einer Boeing 707

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Anfangs bedienen nur eine Handvoll Stewardessen die Gäste, darunter Elisa Kauffeld, eine der ersten fünf Flugbegleiterinnen der Lufthansa (links). Schon damals besonders wichtig: der perfekte Sitz der Uniform und ein strahlendes Lächeln

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Das Auto bahnt sich seinen Weg Am 6. August 1932 eröffnet der Kölner Oberbürgermeister – und spätere Bundeskanzler – Konrad Adenauer Deutschlands erste Autobahn. Die 20 Kilometer lange Strecke verbindet Köln mit Bonn. Während der Nazizeit beginnt der Bau der sogenannten Reichsautobahnen, der vor allem Propagandazwecken dient. Trotzdem bilden sie den Grundstein des Bundesautobahnnetzes, heute viertlängstes Schnellstraßennetz der Welt Die Autobahn Köln-Bonn ist nicht nur Deutschlands erste

In den 60ern floriert die Wirtschaft – und VW-Käfer-Fahrer, die mit Sack und Pack zum ersten Adria-Urlaub aufbrechen, stehen an den Grenzübergängen zu Österreich erst einmal im Stau 42

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Fotos: Picture Alliance (4)

Schnellstraße ohne Kreuzungen und Gegenverkehr, sondern macht auch das Städtchen Wesseling berühmt: Dort liegt Europas erste Autobahnanschlussstelle


Netzsperre: Aufgrund der Ölkrise ruft die Bundesregierung am 25. November 1973 zum ersten Mal ein Sonntags-Fahrverbot aus. Polizisten kontrollieren einen Autofahrer, der nur mit Sondergenehmigung unterwegs sein darf

Weiter geht‘s! Schon Ende 1973 sind die sonntäglichen Fahrverbote vom Tisch – danach können die Deutschen wieder ungestört dahinbrettern. Oder ein Sonnenpäuschen am Rastplatz einlegen turi2 edition #6 · Netze

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Fotos: ADAC, Picture Alliance

Na, wo fehlt‘s denn? Bereits in den 50ern verlassen sich mehr als 200.000 Deutsche bei streikenden Motoren auf den ADAC, der mit gelben „Straßenwacht“-Flitzern zum Pannenort eilt. 20 Jahre später kommt das Trampen auf. Ein Pärchen wartet an der Auffahrt der A3 auf einen hippiefreundlichen Fahrer

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Auf Schienen aus Eisen

Fotos: Picture Alliance (2), Deutsche Bahn

Am 7. Dezember 1835 transportiert in Deutschland eine Eisenbahn zum ersten Mal Personen. Überlieferungen zufolge ist die Fahrt unkomfortabel, was sich die Bahn spätestens 1957 in Flensburg nicht mehr nachsagen lässt: Ein Buffetwagen versorgt die Reisenden mit Brötchen und Bommerlunder

Die Bahn kommt: Zum Beispiel ins 3.000-Einwohner-Örtchen Michelbach an der Bilz in Baden-Württemberg, wo manchmal nur ein paar Hausfrauen einsteigen

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Auf geht‘s zum Wintersport: Bei Schneegestöber werden Fahrgäste schon mal mit dem Pferdeschlitten vom Bahnsteig abgeholt

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Fotos: Deutsche Bahn (3)

Waschen, legen, schneiden, brutzeln: Auf die Idee, ihre Fahrgäste zu verwöhnen, kommt die Deutsche Bundesbahn schon vor über 40 Jahren. An Bord von Fernzügen gibt es – zumindest zeitweise – Friseursalons und Duschen. Und im Speisewagen wird richtig gekocht

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Regional erfolgreich in einem starken Verbund Die MADSACK Mediengruppe setzt auf das Zukunftspotenzial regionaler und lokaler Medien. Zum Portfolio zählen 15 Zeitungstitel, reichweitenstarke Digital-Angebote sowie 28 Anzeigenblätter und zahlreiche Verlagsdienstleistungen. Mit dem RedaktionsNetzwerkDeutschland (RND) erhalten über 40 Tageszeitungen mit einer Reichweite von rund 4 Millionen Lesern überregionalen Qualitätsjournalismus. Dazu kommen Beteiligungen aus den Bereichen Digitalgeschäft, Post und Logistik, Film- und Fernsehproduktion sowie Corporate Publishing.

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Auf nach Ăœbersee: 1957 verladen Arbeiter in Kiel Schiffspost mithilfe eines Krans


Die Post geht ab

Fotos: Museumsstiftung Post und Telekommunikation (3)

1947, zwei Jahre nach Kriegsende, wird die Deutsche Bundespost gegründet. Sie heißt zunächst Deutsche Post, benennt sich aber 1950 um, um nicht mit der DDR-Konkurrenz verwechselt zu werden. Damals wie heute ist sie einer der größten Arbeitgeber Deutschlands: Mehr als eine halbe Million Mitarbeiter sorgen dafür, dass Pakete, Briefe und Nachrichten ihr Ziel erreichen

Die Post bringt lange Zeit nicht nur Briefe, sondern kümmert sich auch um Telekommunikation. Ferngespräche werden in den 50ern und 60ern noch handvermittelt turi2 edition #6 · Netze

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Besser haben es ab 1960 Autofahrer: Für sie führt die Post Briefkästen ein, an denen man seine Sendungen per „drive through“ einwerfen kann. Zeitgleich gibt es die ersten Autotelefone

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Fotos: Museumsstiftung Post und Telekommunikation (3), Picture Alliance

Wenn der Postmann zweimal tingelt: Im Winter nimmt der Zusteller schonmal die Seilbahn und gondelt mit Briefen auf den Berg – und ohne wieder herunter

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Nur manchmal bringt das Wetter das umfangreiche Postnetz fast zum Erliegen – wie hier im Winter 1963 in der Nähe von Kiel. Eine Hallig wird „postnotversorgt“. Es hilft: das Schienennetz der Bahn


Fotos: Picture Alliance (3)

1941 entwickelt Konrad Zuse mit dem Z3 den ersten funktionsfähigen Computer der Welt – der Startschuss für digitale Vernetzung. Durchschnittsdeutsche stehen aber noch Jahre später in Telefonzellen oder freuen sich über TV-Kabelanschluss durch Postminister Christian Schwarz-Schilling

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dass wir auch immer Kunst, Architektur und Musik dabei haben. Eine Band, die für Stimmung sorgt“, sagt sie. Klar, Daten halten die Welt zusammen – aber Czerny und ihr DLD möchten dann doch mehr sein als ein Treffen, das sich nur um Algorithmen dreht. Trendsetter, Ideengeber, sogar Kuppler: Zwischen Laptop und Lunch haben sich zum Beispiel Soundcloud-Gründer Eric Wahlforss und seine jetzige Frau kennen gelernt. Auch DLD-Babies soll es schon geben. Begonnen hat alles beim Skifahren, eine Geschichte, die Steffi Czerny schon gefühlt jedem Wirtschaftsmagazin erzählen musste. In einer Gondel am Tegernseer Wallberg lernte sie 1995 Hubert Burda kennen, der damals

schon glaubte: „Das mit dem Internet wird vielleicht mal was“. Der Verleger sah seine digitalen Ambitionen eher als eine Expedition – und meinte: „Ich brauche jemanden, der gerne bergsteigt.“ Czerny verstand am Anfang nicht allzu viel von dieser neuen, recht rätselhaften Domäne Internet – aber bergsteigen kann sie. Die internationalen Gäste, die sie manchmal nach Kreuth einlädt, scheucht sie auf so manchen Gipfel. Ihre Bergschuhe lässt sie sich ganz rustikal in einem kleinen Geschäft in der Tegernseer Bahnhofstraße machen. Seit Hubert Burda sie als obersten Digital-Sherpa verpflichtet hat, sucht Czerny auf der ganzen Welt nach spannenden Menschen, die sie zusam-

menbringen kann. Das Silicon Valley ist Anlaufstelle Nummer eins, aber auch Israel und China hat sie immer im Blick. „Wir hatten ja ganz früh zum Beispiel Ai Weiwei bei uns“, erinnert sie sich – die Kunstszene interessiert sie auch persönlich, denn sie schrieb lange für die Zeitschrift „Architektur und Wohnen“. Czerny sieht Künstler aber gleichzeitig als „Seismograph“ für Themen, die wichtig werden könnten. Ihr anderer Trick: sich die Leute angeln, bevor sie mit ihren Ideen und Unternehmen richtig durchstarten. „Je erfolgreicher jemand ist, desto abgeschirmter ist er oft“, sagt Czerny. Da hatte sie Glück, dass sie FacebookGründer Mark Zuckerberg schon 2009 auf den DLD nach München einlud.

Vernetzung braucht Durchblick.

Burdas erste Reihe: Beim DLD sitzt KonferenzGründerin Czerny neben Verleger Hubert Burda

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Ü

ber den Köpfen von Hubert Burda und Philipp Welte hängt ein unbekanntes Flugobjekt, das sich bei näherem Hinsehen als „Volocopter“ entpuppt. Ein elektrisch betriebener Senkrechtstarter, den die Deutschen in Zukunft ohne Hubschrauberlizenz fliegen sollen. Zukunft. Urbanes Leben. Neue Mobilität. Darum geht es heute auf dem DLD in der alten Bayerischen Staatsbank, ausgeschrieben: DigitalLife-Design, eine der einflussreichsten Digitalkonferenzen der Welt. Als Steffi Czerny, die Gründerin der Konferenz, mit leichter Verspätung einschwebt, tut sie das allerdings nicht im Volocopter. Sondern auf knallroten Schuhen, kombiniert mit knallroter Strumpfhose.

Einmal schnell an möglichst vielen Plätzen der vollen Reihen vorbei, Händeschütteln, „schön, dass Sie gekommen sind“, „great to see you“ – Czernys Augen strahlen hinter ihrer Hornbrille. Dann im Eiltempo ab nach vorne, auf die Bühne. Der DLD will eröffnet sein. Wenige Wochen zuvor sitzt Czerny, die von sich selbst sagt, sie sei „keine Gesellschaftsnudel“, in Gesellschaft von Familie und Freunden am schweren Esstisch ihres Hauses in Wildbad Kreuth am Tegernsee. „Great to see you“ und digitale Innovationen sind weit weg, stattdessen ist gerade die traditionelle Leonhardifahrt vorbei, bei der Bauern und Reiter den Heiligen Leonhard um Segen für ihre reich geschmückten Pferde bitten. Zeit, unter

sich zu bleiben: Die Bauern und ihre schwarz gewandeten Schalkfrauen rücken beim Wirt noch auf ein, zwei Obstler zusammen. Ein paar hundert Meter Luftlinie weiter lehnt sich Czerny an ihre Stubenwand. Ein kleiner Holzofen neben dem Tisch bullert, statt Schnaps steht eine angebrochene Rotweinflasche auf dem Tisch, Tee- und Kaffeetassen. „Morgen geht‘s wieder ins G‘schirr“, sagt Steffi Czerny. Soll heißen: Morgen muss sie wieder nach München zu Burda, unter dessen Dach der DLD stattfindet. Eine Community managen. Netzwerken. Alles vorbereiten, Volocopter inklusive. Spricht man Czerny auf ihre Digitalkonferenz an, findet sie, das Wort passe nur bedingt. „Mir ist es wichtig,

Zwanzig Netzwerker 3.) Steffi Czerny

„Mein Geheimrezept? Ich versuche, möglichst wenige Arschlöcher einzuladen“ Steffi Czerny verkuppelt mit ihrer Konferenz DLD weltweit Vordenker und Visionäre. Zu Hause steht dafür ein traditioneller Holzofen Von Tatjana Kerschbaumer und Frank Bauer (Fotos)

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dass wir auch immer Kunst, Architektur und Musik dabei haben. Eine Band, die für Stimmung sorgt“, sagt sie. Klar, Daten halten die Welt zusammen – aber Czerny und ihr DLD möchten dann doch mehr sein als ein Treffen, das sich nur um Algorithmen dreht. Trendsetter, Ideengeber, sogar Kuppler: Zwischen Laptop und Lunch haben sich zum Beispiel Soundcloud-Gründer Eric Wahlforss und seine jetzige Frau kennen gelernt. Auch DLD-Babies soll es schon geben. Begonnen hat alles beim Skifahren, eine Geschichte, die Steffi Czerny schon gefühlt jedem Wirtschaftsmagazin erzählen musste. In einer Gondel am Tegernseer Wallberg lernte sie 1995 Hubert Burda kennen, der damals

schon glaubte: „Das mit dem Internet wird vielleicht mal was“. Der Verleger sah seine digitalen Ambitionen eher als eine Expedition – und meinte: „Ich brauche jemanden, der gerne bergsteigt.“ Czerny verstand am Anfang nicht allzu viel von dieser neuen, recht rätselhaften Domäne Internet – aber bergsteigen kann sie. Die internationalen Gäste, die sie manchmal nach Kreuth einlädt, scheucht sie auf so manchen Gipfel. Ihre Bergschuhe lässt sie sich ganz rustikal in einem kleinen Geschäft in der Tegernseer Bahnhofstraße machen. Seit Hubert Burda sie als obersten Digital-Sherpa verpflichtet hat, sucht Czerny auf der ganzen Welt nach spannenden Menschen, die sie zusam-

menbringen kann. Das Silicon Valley ist Anlaufstelle Nummer eins, aber auch Israel und China hat sie immer im Blick. „Wir hatten ja ganz früh zum Beispiel Ai Weiwei bei uns“, erinnert sie sich – die Kunstszene interessiert sie auch persönlich, denn sie schrieb lange für die Zeitschrift „Architektur und Wohnen“. Czerny sieht Künstler aber gleichzeitig als „Seismograph“ für Themen, die wichtig werden könnten. Ihr anderer Trick: sich die Leute angeln, bevor sie mit ihren Ideen und Unternehmen richtig durchstarten. „Je erfolgreicher jemand ist, desto abgeschirmter ist er oft“, sagt Czerny. Da hatte sie Glück, dass sie FacebookGründer Mark Zuckerberg schon 2009 auf den DLD nach München einlud.

Burdas erste Reihe: Beim DLD sitzt KonferenzGründerin Czerny neben Verleger Hubert Burda

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STEFFI CZERNY Jahrgang 1954, studierte Politikwissenschaft und besuchte die Deutsche Journalistenschule in München. Später arbeitete sie unter anderem für die US-Ausgabe des „Playboy“ und als Autorin für „Architektur und Wohnen“. 1995 lernte sie Hubert Burda kennen und entwickelte für ihn den DLD, dessen Mitgründerin sie ist. Die Digitalkonferenz gilt heute als eine der einflussreichsten der Welt Damals stand das soziale Netzwerk zumindest in Deutschland ziemlich am Anfang. Nur richtige Nerds hatten schon einen Account. Zuckerberg kam zum DLD, introvertiert, mit schlechter Haut und schlechten Tischmanieren. So hat ihn Czerny zumindest in Erinnerung. Zuckerberg, Ai Weiwei, Uber-Gründer Travis Kalanick: Steffi Czernys Adressbuch – beziehungsweise ihr iPhone – muss überquellen vor spannenden Kontaktdaten, für die viele Journalisten mindestens einen Arm lassen würden. Denkt zumindest die Branche, wird oft so geschrieben. Czerny lacht, ihr silberner Bob wippt, sie greift ihr Telefon vom Küchentisch und guckt probeweise hinein. „Ich stehe gar nicht mit sonderlich vielen Leuten in Kontakt“. 50 wirklich wichtige Nummern hat sie in etwa eingespeichert, behauptet sie. Die reichen. Das System Netzwerk greift auch bei kleinen Zahlen: Czerny ruft einfach jemanden an, der jemanden kennt, der jemanden kennt, der jemanden empfiehlt. Okay, im Münchner Büro fällt die Datenbank etwas größer aus. In ihre eigenen vier Wände schleppt sie sie nicht mit. Umso disziplinierter geht es direkt im Vorfeld eines DLD zu. Wenn die Gästeliste steht und alle Karten für die Konferenz vergeben sind – die Teilnah-

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me kostet bis zu 3.800 Euro – rutscht Czerny manchmal in die Rolle der Lehrerin. Im Münchner Büro hängen dann Porträts aller Speaker und wichtigen Gäste an Stellwänden, und Frau Czerny fragt ab: Wer ist das? Was macht der? Acht Mitarbeiter hat ihr Team, „und wenn jemand das ein paar Tage vor der Konferenz nicht drauf hat: Da kann ich richtig fuchsig werden“. Bei rund 150 Rednern und mehr als 1.000 Gästen pro Konferenz muss der Überblick behalten werden. „Ich will ja auch, dass sich die richtigen Leute kennen lernen und miteinander reden“. Klappt das vor Ort vielleicht doch nicht auf Anhieb, spielt die Chefin gern ein bisschen Digital-Amor. Beim DLD sieht das dann so aus: Czerny, die natürlich einen Platz in der ersten Reihe hat, wuselt von rechts nach links und umgekehrt, verschwindet manchmal in der Lufthansa-Lounge, begrüßt, stellt vor, schiebt zusammen – und ist ganz schnell wieder verschwunden, wenn ein Gespräch läuft. Viele Gäste loben, dass sie sich selbst nicht in den Mittelpunkt stellt. Sie selbst glaubt, es gefalle den Teilnehmern, dass sie gerade nicht dem Bild einer hypererfolgreichen Size-Zero-Startup-Gründerin entspricht. „Die finden das ganz gut, dass eine bodenständige, etwas rundliche Hausfrau das Ganze moderiert“. Ihr PR-Stab hört

diese Ausführungen gar nicht gerne, aber die 63-jährige Czerny winkt ab. „Ist doch so.“ Wobei: Wer eine weltweit angesehene Konferenz managt, braucht ohnehin keine Schlankheitskur. „Manche machen die Atkins-Diät, ich mach‘ die DLD-Diät“, sagt Czerny und lacht. Die Konferenztage sind so lang, dass sie manchmal danach nicht wie gewohnt nach Hause an den Tegernsee fährt, sondern in ihrer Münchner Stadtwohnung bleibt, die ansonsten nur sporadisch von ihr und ihren vier Kindern bewohnt wird. Drei, vier Kilo nimmt sie in den DLD-Tagen ab – obwohl Burda niemanden verhungern lässt, der Lunch mit indischem Curry und Pasta Bolognese ist fest eingeplant und steht sogar im Programm. Doch Netzwerken auf Hochtouren kostet nicht nur Nerven, sondern eben auch Kalorien. Und es wird nicht weniger. Weil der DLD mittlerweile als „Trendscout fürs ganze Haus“ – sprich Burda – gilt, hat er viele Seitenarme getrieben. Alle zwei Jahre veranstaltet Burda eine interne DLD-Konferenz im Haus der Kunst München, bei der nur Verlagsangestellte zugelassen sind. Im Juni 2017 fand an der Uni Bayreuth zum ersten Mal DLD Campus statt, eine Reihe, die das Community-Konzept an Hochschulen bringen soll. Die Uni Karlsruhe steht für Sommer 2018 ebenfalls auf Czernys Liste. Ganz nebenbei erzählt sie, dass sie demnächst in New York zum Frühstück mit 250 geladenen Gästen muss. Auch dort gibt es einen Ableger der Konferenz, für den schon einmal die wichtigen Kontakte zwischen Brot und Butter ausgespäht werden müssen. Ansonsten tummelt sich Czerny auch noch in Tel Aviv und Brüssel. Kein Wunder, dass sie abends nicht übermäßig gerne ausgeht, sondern Holzofen und Hund einem Restaurant vorzieht. So wirbelig sie auf dem DLD ist, so ruhig mag sie es zu Hause. Aber Urlaub, Urlaub wird doch mal drin sein? Den hält Czerny fast für überbewertet. Ein paar Tage in Südtirol zum Beispiel, die seien schon immer schön. „Aber ich kann nicht nicht an den DLD denken. Ob ich dann noch schnell ein paar E-Mails schicke oder nicht – das ist ja nicht so richtig Arbeit“. Steffi Czerny managt den DLD nicht nur, sie inkarniert ihn. Vielleicht muss man ein bisschen so sein, wenn man eine so erfolgreiche Community aufbauen will. Ansonsten hat Steffi Czerny, die sich auf dem DLD meist unter netten Menschen wähnt, vor allem ein Rezept für erfolgreiches Netzwerken: „Ich versuche, möglichst wenige Arschlöcher einzuladen.“

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Zwanzig Netzwerker 4.) Tim Steinmetzger

Von Beruf: Händchenhalter Keiner kennt die Berliner Startup-Szene besser als Tim Steinmetzger. Für die SpringerTochter Hy knüpft er die Netze zwischen Gründern und Etablierten Von Tatjana Kerschbaumer und Holger Talinski (Foto)

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ir wollen mal ein paar Startups kennenlernen“: Diesen Satz hört Tim Steinmetzger öfter, wenn mittelständische Unternehmen mit ihm Kontakt aufnehmen. Denn der Mittelstand und die Startups, das ist so ein Thema: „Viele Firmen hatten bis jetzt nicht den Bedarf, mit jungen Gründern zusammenzuarbeiten“, sagt Steinmetzger – gebürtig aus Vaterstetten bei München und selbst erst 28 Jahre alt. Studiert hat er Medienmanagement in Wien und Berlin, er war „Bild“-Praktikant im Bereich Merchandising und legte einen Stopp in der Presseabteilung von Universal ein. Bis er merkte: Startups verdrahten macht mehr Spaß. Und es ist bitter nötig. Inzwischen merken auch kleine und mittlere Betriebe, dass „dieses Internet“ und alles drumherum nicht wieder weggehen wird. Dass es Sinn macht, sich junge, technisch versierte Mitstreiter zu suchen: Startups. Tim Steinmetzger trifft sie alle: Unternehmer, die schon viel gelesen haben, aber trotzdem ratlos im deutschen Startup-Dschungel stehen. Firmenpatriarchen, die sich zum ersten Mal auf Digitalisierungs-Gebiet wagen. Auch Manager von Großkonzernen wie Audi, die ganz spezielle Vorstellungen haben von dem, was sie suchen. Zum Beispiel innovative Startups aus dem Bereich Autonomes Fahren. „Die anspruchsvollsten Kunden sind die, die sich schon genau mit Startups beschäftigt haben“, sagt er. „Sehr spannend sind die, die ganz am Anfang stehen“. Steinmetzger, Hemd unter Pullover, Brille, verdient sein Geld genau genommen mit Händchenhalten. Einerseits kümmert er sich um die Startups: sucht neue, fördert sie, lotst sie in Springers

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Förderprogramme und findet im Optimalfall ein oder mehrere Unternehmen, mit dem die Gründer zusammenarbeiten könnten. Auf der anderen Seite betreut er die Unternehmen, die sich mit ihren Wünschen, Vorstellungen – oder auch völlig ahnungslos – an Springers Digitalberatungstochter Hy wenden. Zusammengefasst ergibt das den Beruf Projektmanager. Hy ist etwa 30 Personen stark und sitzt in der Nähe des Springer-Haupthauses in Berlin-Mitte. Doch Steinmetzgers Arbeitsplatz ist weit weniger repräsentativ. Graue Außenfassade, ein Hostel mit Partytouristen und eine Autovermietung sind nebenan. Naja – er ist sowieso viel unterwegs, denn digitale Vordenker wollen erst einmal gefunden werden. Steinmetzger sucht sie auf Konferenzen, in CoworkingBüros, auf Tagungen wie Burdas DLD. „Das Wichtigste sind die Gründer“, sagt er und meint damit: Eigenbrötler haben es im Startup-Geschäft schwer, Teamwork ist gefragt – dann ist der fachliche Hintergrund eventuell gar nicht so wichtig. Außerdem achtet Steinmetzger darauf, ob schon jemand in das Startup investiert hat, ob es bereits Kooperationen gibt – und ob die Geschäftsidee disruptiv ist. Das mit der Disruption hat er von seinem Chef Christoph Keese, der Althergebrachtes lieber erstmal zerlegt, bevor er darauf etwas Neues aufbaut. Hat Steinmetzger ein spannendes Startup gefunden, rutscht es oft in Springers Förderprogramm Plug and Play, sozusagen ein Gründer-Sorglospaket: Für drei bis sechs Monate spendiert der Konzern Geld, Arbeitsplätze und Kontakte. Eine Garantie für Erfolg ist das zwar nicht, aber wenn Steinmetzger die Liste der von ihm geförderten Startups anschaut, kann er immerhin

sagen: Die meisten davon existieren noch. Und dann kommen die Firmen. Steinmetzger arbeitet bei Hy vor allem daran, die geförderten Gründer mit den richtigen Unternehmen zu vernetzen. Das können Großkonzerne sein – oder eben der Mittelstand. Wenn dann der Satz mit dem „Startup kennenlernen“ fällt, bedeutet das: Ein Termin steht an, meistens in Berlin, denn dort sitzen deutschlandweit die meisten Startups. Manchmal finden die Treffen bei Hy statt, manchmal in den Büros der Gründer. Wichtig ist nur, dass Steinmetzger oder einer seiner Kollegen dabei ist. „Wir achten darauf, dass Unternehmer und Gründer nicht aneinander vorbeireden“. Sprich: Manchmal rückt ein ganzes Vorstandsteam an, für das die Digitalisierung ein schwarzes Loch ist. Dann gibt Steinmetzger den Übersetzer, damit die Gründer ihre potentiellen Auftraggeber nicht mit zu viel IT-Vokabular überschütten. Händchen halten. Wie viele Deals so eingetütet werden, wie viel Geld dabei fließt – darüber sprechen weder Steinmetzger noch Springer gerne. Zahlen werden unter Verschluss gehalten, aber: Es funktioniert. Hat Steinmetzger ein Startup und ein Unternehmen erfolgreich verdrahtet, zieht sich Hy manchmal zurück, manchmal nicht. Was er am meisten an seinem Job mag? „Ich habe mit superspannenden Leuten zu tun, die selber etwas aufbauen wollen“, sagt Steinmetzger und lacht. Er selbst könnte sich auch vorstellen, in den kommenden Jahren noch unter die Gründer zu gehen – am liebsten im journalistischen Bereich. Erfahrung bringt er von Hy ja mit, und vielleicht funkt es unter Wasser: „Ich habe viele gute Ideen beim Schwimmen.“ turi2 edition #6 · Netze


Scout mit Mac: Bei Springers Tochter Hy sucht Tim Steinmetzger nach spannenden Startups


„Poesie entsteht in der Lücke, die der Teufel der Effizienz uns lässt“ Miriam Meckel gibt die „Wirtschaftswoche“ heraus und gilt als Vordenkerin in Sachen Digitalisierung und Vernetzung. Ein Gespräch über unser Gehirn – das Netz der Netze, der Ort, an dem unsere Wirklichkeit entsteht Von Peter Turi und Thies Rätzke (Fotos)

Miriam Meckel hat sich im Kellerlabor eines Schweizer Forschungsinstituts 24 Stunden lang totaler Stille und absoluter Dunkelheit ausgesetzt. Doch ihr Hirn kam nicht zur Ruhe, im Gegenteil – es spielte verrückt



Miriam Meckel, die digitale Vernetzung beschert uns immer mehr Informationen und immer schnellere Veränderungen. Kommen Sie noch mit? Ich glaube schon, aber ich muss mich konzentrieren. Auf das, was ich wissen muss und möchte, und auch auf das, was ich nicht wissen muss oder möchte. Gelegentlich braucht es eine Pause, einen Moment des Innehaltes, um sich und die Dinge zu sortieren. Für Ihr neues Buch „Mein Kopf gehört mir“* haben Sie Ihrem Gehirn eine Pause von 24 Stunden verordnet – in einer geräuschisolierten Dunkelkammer im Keller einer Schweizer Universität. Wie war’s? Das war ein Roadtrip der Seele. Ich bin durch alle Gefühle durchgegangen, Langeweile, Frust, Angst, Beschwingung, Euphorie... Man könnte meinen, das Hirn freut sich, wenn man es mal radikal in Ruhe lässt. Nein, ganz im Gegenteil: Wenn man dem Gehirn die äußeren Reize entzieht, denkt es, hier stimmt was nicht, und sorgt sozusagen aus sich heraus für die Stimulation, die ihm fehlt. Das Gehirn wird sozusagen hyperaktiv. Es ist, als würden sich meine Synapsen in einen Rausch der Imagination hineinfeuern. Ein Rausch – nur ohne Drogen. Die sensorische Deprivation als Horrortrip? Eine Mischung aus beängstigenden und sehr lustigen Momenten. Ich habe ganze Filmsequenzen an der Wand gesehen, wo in Wahrheit außer schwarzer Dunkelheit nichts war. Der Film war in meinem Kopf. Auch Musik, Stimmen, Geräusche von ablaufendem Badewasser mitten in der Nacht im Keller einer Uni. Alles nicht da, aber doch in meinem Kopf.

Sie beschreiben eindrucksvoll, wie Ihr Hirn die „dröhnende Stille“ nicht aushält und Sie imaginieren, dass sich jemand an der Tür zu schaffen macht. „Mein Ohren starren ins Dunkle“, schreiben Sie, und: „Ich höre, wie die Tür sich lautlos öffnet.“ Das klingt ziemlich gruselig. Es stimmt schon, zwischendurch habe ich auch wirklich Angst gehabt und gedacht: Jetzt breche ich ab. Aber die Neugier auf das, was kommt, hat immer wieder über die Angst gesiegt. Irgendwann denken Sie „Mein Gehirn bringt mich um meinen Verstand“ und malen sich die Schlagzeile aus: „Probandin an der Dunkelheit erstickt“. Ausmalen ist vielleicht nicht das richtige Wort. Ich hatte nicht unter Kontrolle, was da in meinem Kopf ablief. Es war in manchen Momenten eher, als würden die Nervenzellen wie obsessiv feuern. Lana del Rey sang über Stunden „Lost but now I am found.“ Warum tun Sie sich das an? Neugier? Forscherdrang? Ich mag es, an Grenzen zu gehen und zu spüren, was dann passiert. Was haben Sie aus dem Experiment gelernt? Diese 24 Stunden haben meinen Respekt vor dem Gehirn noch einmal wachsen lassen. Und auch die Erkenntnis: Vorsicht mit Manipulation an einem so komplexen, auch eigenständigen Organ, das ja auch der Ort unseres Bewusstseins ist. Was für Manipulationen meinen Sie? Oh, das gibt es mannigfaltige Möglichkeiten: Medikamente, Stromstöße oder ein Hirnimplantat, mit dem Sie einen Roboter durch Denken steuern können, der Ihnen zuvor vielleicht den Arbeitsplatz streitig gemacht hat. Was hätten Sie denn gerne?

„Musik, ­ Stimmen, Geräusche von ablaufendem Badewasser mitten ­ in der Nacht im Keller ­ einer Uni. Alles nicht da, aber doch in meinem Kopf“ Ich: gar nix davon. Ich versuche, ganz im Gegenteil, weniger und langsamer zu denken. Dafür sorgfältiger. Und gelingt Ihnen das? Immer besser. Was definitiv hilft: Ich lebe so viel wie möglich analog. Ich lese Zeitungen, Magazine und Romane grundsätzlich nur auf Papier und spiele mindestens dreimal am Tag auf meinem Klavier aus dem Jahr 1936. Wie halten Sie’s? Da können wir uns als Duo der analogen Besinnung zusammentun. Ich lese auch analog, Romane vor allem. Und ich spiele Klavier, um zu entspannen. Das ist übrigens auch gut fürs Gehirn. Musik machen sorgt für Verschaltungen zwischen den Hirnhälften. Sie beginnen Ihr Buch mit dem wundervollen Satz: „Immer schon war ich anfällig dafür, Dinge auszuprobieren, die mir nicht guttun.“ Was haben Sie getan? Ich habe Verschiedenes ausprobiert, Reizentzug, Medikamente, Strom aufs Gehirn, weil ich wirklich verstehen wollte, was dann passiert. Nicht nur intellektuell, sondern auch von den Gefühlen her, die dann entstehen. Die Erfahrungen waren sehr zwiespältig. Zum Beispiel? In den USA gibt es für etwa 300 Dollar ein Gerät zu kaufen, mit dem man das Gehirn über ein leichtes elektrisches Feld stimulieren kann. Dazu gibt es tatsächlich auch vielversprechende Forschung. Bei mir waren die Folgen weniger schön. Ich habe nichts

mehr essen und nicht mehr schlafen können. So geht es mir, wenn ich zu viel arbeite. Genau: Beides sind Formen der Überreizung. Ein anderes Beispiel ist der Missbrauch von Medikamenten gegen ADHS oder Narkolepsie, mit denen gerade in den USA immer mehr Menschen ihre Konzentrations- und Leistungsfähigkeit verbessern wollen. Bei mir hatte auch das einen anderen Effekt. Mir war einfach alles egal. Ich habe jetzt eine Vorstellung davon, wie man sich wohl als Roboter fühlt. Wie denn? Mechanisch. Ritalin, ein Medikament gegen ADHS, hat bei mir dazu geführt, dass ich sehr konzentriert war. Stundenlang Aufräumen, Auswendiglernen, das geht. Aber versuchen Sie unter Einfluss des Medikaments mal, einen schönen Text zu schreiben. Keine Chance. Streben nach Effizienz zerstört also die Poesie? So ist es. Poesie ensteht in der Lücke, die der Teufel der Effizienz uns lässt. Wenn wir noch in der Lage sind, sie zu entdecken. Können wir uns beim Denken zusehen? Leider nein. Dahinter liegt ein philosophisches Problem. Wir können unser Gehirn nicht bei der Arbeit beobachten und es fragen, ob es ihm gerade gut geht. Es sitzt ja in unserem Kopf. Und selbst wenn man es gefahrlos herausnehmen, in den Händen wiegen und ansprechen könnte, würden wir keine

* Miriam Meckel: Mein Kopf gehört mir. Eine Reise durch die schöne neue Welt des Brainhacking. Piper Verlag. 220 Seiten, 20 Euro.

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Gemeinsam: Als Herausgeberin der „Wirtschaftswoche“ diskutiert Miriam Meckel mit ihren Mitarbeitern, wohin die Entwicklung in digitalen Zeiten geht

MIRIAM MECKEL geboren am 18. Juli 1967 in Hilden, NRW, p ­romoviert über „Fernsehen ohne Grenzen“ und arbeitet als Redakteurin und Moderatorin für WDR, Vox, RTL und n-tv, bevor sie Professorin in Münster wird. Es folgen Stationen als Staatssekretärin und Regierungssprecherin in Düsseldorf. Als sie einen Burn-out bekommt, schreibt sie darüber den Bestseller „Brief an mein Leben“. Das Buch wird 2014 verfilmt - mit Marie Bäumer in der Rolle der gestressten, zickigen Karrierefrau, die eigentlich nur die Liebe ihrer Mutter gewinnen will. Heute ist Meckel Professorin für Kommunikationsmanagement an der Universität St. Gallen und Herausgeberin der „Wirtschaftswoche“. Sie ist verheiratet mit TV-Moderatorin Anne Will

Antwort auf unsere Fragen bekommen. Wenn ich mein Gehirn frage: „Geht es dir gut?“, müsste es antworten: „Was fragst du so blöd, das weißt du doch.“ Man kann nie gleichzeitig Beobachter und Beobachtetes sein. Wie viel von dem, was in unserem Gehirn passiert, können wir eigentlich verstehen? „Wenn das Gehirn so einfach gestrickt wäre, dass wir es verstehen können, wären wir turi2 edition #6 · Netze

so einfach gestrickt, dass wir es nicht können“, sagt der Neurowissenschaftler Moran Cerf. Er hat Recht. Wir wissen immer mehr, aber immer noch unfassbar wenig. Wenn alles, was wir über das Gehirn wissen können, eine Strecke von einem Kilometer ausmacht, dann haben wir vermutlich nicht mal wenige Meter erschlossen. Ich habe dafür ein anderes Bild: Der Mensch, der

vom Planeten Erde aus die Unendlichkeit der Zeit und des Raumes, ja das Wesen der Schöpfung zu erfassen versucht, gleicht einem Goldfisch, der von seinem Aquarium aus die Welt verstehen will. Mit einem Unterschied: Der Goldfisch weiß nicht, dass da draußen viel mehr ist. Er hat kein Vorstellungsvermögen von sich selbst oder dem, was er nicht kennt. Wir Menschen haben das schon. Der Goldfisch muss warten, was

die Evolution mit ihm macht. Wir können an Gott glauben und Dinge schaffen, die wir selbst für unmöglich halten. Wird die Arbeitsweise der 86 Milliarden Neuronen im Gehirn mit Billionen von Verbindungen jemals kartiert und dann simuliert werden können? Ich kann mir das schon vorstellen, aber es wird eben noch sehr lange dauern. Die interessante Frage ist: Müssen wir das Gehirn

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„Zwischendurch habe ich wirklich Angst gehabt. Aber die Neugier auf das, was kommt, hat immer wieder gesiegt“ in allen Details verstehen können, um es künstlich zu simulieren? Auch da reicht es vielleicht, wenn besonders leistungsfähige Algorithmen in den Milliarden von Nervensignalen die Muster erkennen und nachahmen können. Was wird künstliche Intelligenz niemals haben? Humor? Liebe? Poesie? Nichts von alledem wird sie haben. Aber wir werden ihr irgendwann alles zugestehen, wenn sie gut genug im Simulieren ist. Menschen weisen Maschinen menschliche Eigenschaften zu. Als der IBM-Supercomputer Watson 2010 in der Fernsehshow „Jeopardy“ gegen die besten Spieler gewonnen hat, wusste er an einer Stelle die Antwort nicht und zeigte eine Reihe von Fragezeichen auf seinem Bidschirm. Und die Menschen? Brachen in Begeisterung aus und riefen „Schau, der Computer zweifelt!“ Er aber hatte schlicht keine ausreichenden Daten für die Berechnung. Ich glaube übrigens nicht daran, dass es je eine Maschine geben wird, die Bewusstsein hat. Aber es wird eine „schöne neue Welt des Brainhacking“ geben, schreiben Sie. Was kommt da auf uns zu? Eine neue technologische Revolution. Die Dampfmaschine hat uns von der Agrar- in die urbane Gesellschaft befördert, die Elektrizität ins Zeitalter der Massenproduktion und Konsumentenkultur. Der Computer hat die Industrie- in die Dienstleistungsgesellschaft erweitert, und das Internet vernetzt beides immer stärker. Jetzt beginnen wir, das Gehirn als letzte ungehobene Ressource an dieses Netzwerk anzu-

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schließen. Auf uns wartet eine Zeit, in der menschliche und künstliche Intelligenz eine untrennbare Verbindung eingehen werden. Die Frage ist, ob das eher ein Wettbewerb oder eine wohlwollende Ergänzung sein wird. Jedenfalls kommen die ersten Produkte auf den Markt, die das Gehirn schneller, besser und effizienter machen sollen, damit es den Kampf nicht verliert. Und das Silicon Valley ist mittendrin? Wollen Google und Facebook jetzt unser Gehirn erobern? Ja, logisch. Die ganze Entwicklung der künstlichen Intelligenz läuft darauf hinaus, die Rolle der menschlichen Intelligenz im Zusamenspiel mit dem Computer neu auszuloten. Googles „Deep Mind“ hat mit „Alpha Go“ und „Alpha Go Zero“ schon beachtlich vorgelegt. Eine Software lernt innerhalb von 72 Stunden das schwierigste Spiel der Welt und schlägt ihre Vorgängerversion 100:0, und zwar ohne, dass sie noch mit Daten trainieren musste. Da können wir Menschen uns schon mal besorgt umgucken. Das Vorspiel wäre dabei, dass Apple und Co uns und unsere Kinder abhängig vom Smartphone machen? Ich bin keine Verschwörungstheoretikerin. Aber die Tech-Unternehmen haben ein Geschäftsmodell, das darauf basiert, dass die Nutzerinnen und Nutzer so viel Zeit wie möglich mit ihren Produkten verbringen sollen. Deshalb wird immer mehr „Stickiness“ eingebaut. Die Autoplay-Funktion bei YouTube und Netflix ist so ein Beispiel. Wenn das eine Video zu Ende ist, läuft gleich das nächste los. Man muss

sich also aktiv losreißen, um nicht dem Bingewatching zu verfallen. Und es ist ja auch alles immer so schön bunt auf den Bildschirmen. Stellen Sie mal beim iPhone das Bildschirmdisplay auf Grautöne um. Das ist so langweilig, dass man kaum mehr drauf schauen mag. Ein guter erster Schritt im sanften Entzug.

und neu zusammensetzen. Dafür braucht das Gehirn gelegentlich Ruhe, also zum Beispiel ausreichend Schlaf. Im Schlaf organisiert es die eigene biochemische Müllabfuhr. Alles, was schadet, muss raus. Und bei der Informationsverarbeitung wird nur das, was wir wirklich brauchen, in den Langzeitspeicher übernommen.

Haben Sie es ausprobiert? Habe ich. Bin aber ganz ehrlich: Auch die Fotos sind dann grau. Hat also nicht lange gehalten.

Wie ändert sich unser Hirn unter dem Ansturm der Digitalisierung? Da gibt es ja ein paar steile Thesen zu unserer bevorstehenden „digitalen Demenz“. Das klingt knackig, stimmt aber so nicht. Richtig ist, dass sich unsere kognitiven Gewohnheiten verändern. Wenn man alles jederzeit mit ein paar Klicks im Netz nachschauen kann, schrumpft die Bereitschaft, sich Dinge zu merken. Dazu gibt es interessante Forschungsergebnisse, zum Beispiel zu den Veränderungen beim Lesen oder Erinnern. Wer weiß, dass er nachschauen kann, was er sich sonst merken müsste, merkt es sich nicht. Bewusstes Erinnern aktiviert die Verschaltungen im Gehirn, passives Nachschauen nicht. Insofern verändert sich etwas. Dafür ist aber nicht die Technik verantwortlich, sondern unser Umgang mit ihr.

Wie intelligent ist Alexa? Wie intelligent werden Spracheingabe-Systeme noch werden? Und wie relevant? Noch ist eine Unterhaltung mit Alexa, Siri oder Google Home eher funktional. Ich bestelle ein Taxi – und das klappt. Aber ich bin sicher, das wird in zehn Jahren völlig anders aussehen. Dann werden diese Geräte unsere perfekten Gesprächspartner sein, hilfreich, intelligent und wahrscheinlich sogar lustig. Und sie sprechen dann ganz authentisch mit der Stimme der Partnerin oder eines Hollywoodschauspielers, ganz nach Belieben. Kann sich unser Hirn anpassen an die neuen, digitalen Zeiten? Das menschliche Gehirn ist faszinierend leistungsfähig, es kann sich verändern und anpassen – das nennt man Neuroplastizität. Deshalb ist es schon in der Lage, mit Veränderung umzugehen. Allerdings hat sich der Input vervielfacht, den wir heute kognitiv bewältigen müssen. Das bedeutet, wir müssen auch im Geiste immer mehr auswählen, Prioritäten setzen, kombinieren

Sie schreiben, über eine Hirn-Computer-Schnittstelle könnte unser Gehirn zu einem Knotenpunkt in einem Netzwerk werden. Wie soll das gehen? Es gelingt ja schon längst, neuronale Signale im menschlichen Gehirn zu entschlüsseln, mit Hilfe von Algorithmen Muster zu erkennen und mit diesen Mustern zum Beispiel Kommunikation zwischen dem Gehirn

„Vorsicht mit der Manipulation an einem so komplexen, eigenständigen ­ Organ, das ja auch der Ort des Bewusstseins ist“ turi2 edition #6 · Netze


und dem Computer möglich zu machen. Das ist natürlich noch am Anfang, aber es funktioniert. Eine Haube mit Elektroden am Kopf reicht, um die Gehirnaktivitäten so lesen zu können, dass man per Denken schreiben kann. Auch das habe ich ausprobiert: Es geht sehr langsam, aber es geht. Wenn sich neuronale Signale schneller und genauer lesen lassen, könnte es irgendwann möglich sein, dass unsere Gehirne miteinander sprechen. Kein mühsamer Umweg mehr über Sprache, sondern ganz direkt. Aus Snapchat wird Brainchat. Einige Unternehmen weltweit verfolgen diese Idee schon. Vorne dran ist, wie so oft, Elon Musk mit seinem Startup Neuralink. Was sehen Sie positiv in der modernen Hirnforschung? Die tollen Erfolge, die neurowissenschaftliche For-

schungsprojekte in der Medizin machen. Ein Beispiel ist Braingate. Der Forschungsgruppe ist es gelungen, querschnittsgelähmte Patienten über ein Hirnimplantat mit einem Computer zu verbinden. Sie können dann durch Denken schreiben, einen Roboterarm bewegen oder Musik machen. Macht Ihnen das Angst? Nein, das macht mich froh. Die Patienten gewinnen so einen Teil Autonomie in ihrem Leben zurück. Das bedeutet für sie sehr viel. Wo Medizin heilen oder Beschwerden lindern kann, sehe ich erst einmal die positiven Seiten. Eine andere Frage ist, was passiert, wenn solche Neurotechnologien einen Massenmarkt erreichen. Was passiert dann? Naja, wir könnten auf dem Weg in eine Welt des Neurokapitalismus sein, zu einer

3 Fragen an Miriam Meckel Welches Netz hält Sie, wenn Sie fallen? In jedem Fall ein analoges. Welches Netz hält Sie gefangen? Manchmal das der Erwartungen, die von allen Seiten auf mich zukommen. Welches Netz haben Sie selbst geknüpft? Mein Freundschaftsnetzwerk. Das ist sicher das ­ wichtigste überhaupt.

neuen, ganz besonders folgenreichen sozialen Spaltung der Gesellschaft. Wenn das Gehirn Produktivkraft Nummer eins wird, und ich kann es über Neuro-Enhancement „frisieren“, dann werden viele Menschen das machen wollen. Natürlich kostet das Geld, und irgendwann haben wir dann die Oberklasse der superschlauen Hirnerweiterten auf der einen und

das Hirnprekariat auf der anderen Seite. Wie groß ist die Gefahr, dass wir mit der Künstlichen Intelligenz eine Kraft in die Welt setzen, die uns eines Tages entmündigt? KI-Forscher Marvin Minsky sagt: „Wenn wir Glück haben, behalten sie uns als Haustiere.“ Das ist auch die Sorge von

Entspannt: In ihrer Freizeit pflegt Miriam Meckel analoge Hobbies. Sie geht Bergsteigen, liest Romane auf Papier und spielt so oft es geht Klavier


„Wenn Gedankenlesen ­ technisch ­ möglich wird, wie sorgen wir dann dafür, dass Gedanken ­ weiterhin ­ privat ­ bleiben dürfen?“ Elon Musk. Oder es ist ein genialer Marketing-Schachzug, der als Sorge um unsere Zukunft verkleidet ist. Jedenfalls glaubt Musk, wir müssten unsere Gehirne miteinander vernetzen und an eine globale Cloud anschließen, damit wir nicht von der Künstlichen Intelligenz abgehängt werden. Minskys Zitat bringt das ja schön auf den Punkt: Wer künftig Herr im Haus ist, hängt auch davon ab, wer die höhere Intelligenz hat, um über den anderen zu bestimmen. Ein Gehirn ist umso leistungsfähiger, je mehr Verknüpfungspunkte es hat. Gilt das auch für ein Unternehmen? Definitiv. Verknüpfungen fördern den Informationsfluss und die Kommunikation, und davon lebt jedes moderne Unternehmen. Welche Strategie empfehlen Sie Marken und Medien im Zeitalter der Vernetzung? So viele Knotenpunkte in den unterschiedlichen Stakeholderbeziehungen zu schaffen wie möglich. Nehmen wir

die Medienbranche, in der wir beide tätig sind, als Beispiel. Früher hat ein Knotenpunkt, ein „Touchpoint“, gereicht, um über Jahrzehnte erfolgreich zu sein. Menschen haben eine gedruckte Zeitung gelesen, das war‘s. Heute ist das anders. Viele orientieren sich ständig neu. Dafür müssen wir anschlussfähig bleiben, vor allem über digitale Zusatzprodukte, Newsletter, Livestreams, Podcasts. Loyalität muss man sich heute sehr viel variantenreicher und härter erarbeiten. Wie sieht das ideale Unternehmen in digitalen Zeiten aus? Weniger Hierarchie, mehr Netzwerk. Weniger Ansage, mehr Motivation. Weniger Bestand, mehr Entwicklung. Und ein Selbstverständnis, dass es nie einen Punkt gibt, an dem Veränderung abgeschlossen ist. Wir alle sind permanent im Beta-Modus. Was meinen Sie mit dem Satz „Wir implodieren in den Möglichkeiten unserer Grenzenlosigkeit“? Eben genau das. Wenn wir

unsere Gehirne technisch optimieren können, wird das geschehen. Es geschieht ja längst. Wenn das so weit geht, wie viele durchaus seriöse Wissenschaftler voraussagen, ändert sich nicht nur das Gehirn, sondern das ganze Menschsein. In Zeiten der allumfassenden Optimierung ist nichts mehr echt, sondern immer nur der Entwurf einer Zwischenstufe auf dem Weg zu Besserem, einer endlosen Abfolge von Updates und Upgrades. Wir sind nie mehr Original, sondern immer nur die interimistische Betaversion dessen, was möglich ist. Was das für die menschliche Individualität und Freiheit bedeutet, können wir heute noch nicht absehen.

da miteinander denken, oder entsteht ein neues, übergreifendes Bewusstsein, in dem die einzelnen aufgehen?

Droht der Menschheit bei all dem Fortschritt etwas verloren zu gehen? Eben die Einzigartigkeit, die jeden Menschen ausmacht. Wenn unsere Gehirne verbunden sind und wir uns über Brainchats austauschen, wem gehört dann noch die Idee, die in diesem Gespräch entsteht? Und sind das noch zwei Menschen, die

Was kann der einzelne tun, um Mensch zu bleiben, statt Maschine zu werden? Das Gehirn für das zu nutzen, wozu es uns in großartiger Weise befähigt: eigenständig zu denken und zu entscheiden. Wir sind so frei.

Keine Ahnung. Was passiert im schlimmsten Fall? Eine Überwachungsgesellschaft, wie wir sie uns heute nicht vorstellen können. Wenn Gedankenlesen technisch möglich wird, wie sorgen wir dann dafür, dass Gedanken weiterhin privat bleiben dürfen? Was passiert im besten Fall? Eine wundersame Intelligenzvermehrung, die unsere Welt zu einer besseren macht. Weniger betrügerisch und zerstörerisch, dafür kreativer und empathischer.

In der AugmentedReality-App zur „turi2 edition“ diskutiert Miriam Meckel öffentlich mit Peter Turi über unser Gehirn in Zeiten digitaler Zumutungen – auf Einladung von Landau Media und turi2.tv turi2.de/edition/meckel

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Zwanzig Netzwerker 5.) Lukas Wick


Mord auf der Autobahn Pilzforscher Lukas Wick sucht nach neuen Mรถglichkeiten zum Schadstoff-Abbau. Und findet ein Netz aus Leben, Liebe und Verbrechen Von Anne-Nikolin Hagemann (Text und Fotos)


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enn Lukas Wick durch sein Mikroskop blickt, sieht er eine Autobahn. Mal fließt der Verkehr, mal stockt er. Mal staut es sich an Abzweigungen, mal liegt ein Verkehrsteilnehmer quer und blockiert alles. Was da wuselt und fließt und blockiert, sind Bakterien. Ihre Autobahn ist ein Pilz. Doktor Lukas Wick ist 52 Jahre alt und forscht am Department für Umwelt-Mikrobiologie des Helmholtz-Zentrums in Leipzig. Wenn er von Pilzen spricht, meint er nicht die, die wir im Wald suchen oder im Supermarkt kaufen, zu Hause braten und essen. Das sind Fruchtkörper, sie interessieren ihn vor allem auf dem Teller. Spannender ist für ihn der viel größere Teil der Lebensform Pilz unterhalb des Fruchtkörpers. Ein unterirdisches Netzwerk, ein Geflecht aus fadenförmigen Pilzzellen. Wissenschaftler nennen solche Netze Mycelien.

Pilze sind Logistiker, die alles retten oder zerstören können – mächtige Netzwerker „In einem Gramm Boden“, sagt Lukas Wick, „finden Sie bis zu einen Kilometer Pilzgeflecht. Ein Mycel kann sich über mehrere Quadratkilometer erstrecken. Damit sind Pilze die größten Lebewesen der Erde.“ Wick spricht leise und ruhig, nimmt sich vor seinen Antworten Zeit zum Nachdenken. Er stammt aus der Schweiz, sein leichter Akzent gibt seinen Sätzen eine fließende Melodie. Wenn ihn etwas begeistert, die Größe eines Pilzgeflechts zum Beispiel, wird seine Stimme schneller, aber noch ein bisschen leiser. An die Satzenden setzt er nach dem Punkt oft ein Fragezeichen: Nicht wahr? Dann lächelt er. Lukas Wick ist eigentlich Chemiker. Zur Mikrobiologie und den Pilzen ist er gekommen, weil er neue Möglichkeiten zum Schadstoff-Abbau sucht. Seit gut zehn Jahren. Weil durch die Menschen immer mehr Schadstoffe in den Boden gelangen, sind wir auch für deren Abbau verantwortlich, findet er. Bakterien können dabei helfen. Aber die kommen nicht in alle Bereiche des Bodens, selbst wenn sie sich selbstständig durch Flüssigkeiten voran bewegen können. Besonders in den oberen Erdschichten finden sich viele Luftblasen, die Bakterien nicht überwinden können. „Das ist für sie wie ein tiefer Canyon“, sagt Wick. Pilzhyphen dienen als Brücken, und in Zukunft könnten diese Pilzbrücken dabei helfen, den Schadstoffabbau im Boden zu erleichtern. Ein Forscher muss in Bildern sprechen, wenn er verstanden werden will, glaubt Wick. Und in Bildern zu denken hilft ihm selbst, seine Gedanken zu ordnen. Lukas Wick ist ein großer, schlaksiger Mann. Man sieht seinen leicht gebeugten Schultern an, dass er oft an Dinge heranrückt, um sie ganz genau zu betrachten. Tief beugt er sich über das Mikroskop und das Blatt Papier, auf dem er mit schnellen Strichen die Ausbreitung eines Pilz-Mycels skizziert. Auch an den Computerbildschirm rollt er mit seinem Bürostuhl nah heran, als er ein Video von wuselnden Mikroben zeigt: Eine mikroskopische Aufnahme eines PilzMycels, jede Hyphe umgeben von einem Wasserfilm. Darin bewegen sich die Bakterien fort. Wick nennt das: eine Pilzautobahn, mik-

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robielle Logistik. Die Nährstoffkonzentration im Boden, die die Bakterien wahrnehmen, bestimmt, in welche Richtung sie sich bewegen. „Als ob Sie auf der Straße den Duft von frisch gebackenem Brot riechen und dann die Abzweigung zur Bäckerei nehmen.“ Auch Wasser und Nährstoffe werden über die Pilzautobahn transportiert. Und die Schadstoffe, zu denen Wick forscht. Pilze sind Logistiker, die alles retten, aber auch alles durcheinanderbringen und sogar zerstören können. Netzwerker mit Macht. Bevor Wick den Schadstoff-Abbau revolutionieren kann, muss er die Pilze erst einmal verstehen. Zu lange habe die Wissenschaft sich nur für die Fähigkeiten von Pilzen bei der Zersetzung von Stoffen interessiert; sie erforscht als „geniale Zerstörungsmaschinen, die alles zerhacken, was ihnen unterkommt“. Die Pilznetze und ihre Ausbreitung, die Interaktion mit Bakterien, der Pilz als Autobahn – all das wurde erst in den letzten Jahren interessanter, als die technischen Methoden sich weiterentwickelten und die naturwissenschaftlichen Disziplinen sich besser vernetzten. Als die Biochemie nicht mehr ohne ökologisches Verständnis auskam und Chemiker wie Wick sich für Lebewesen wie Pilze begeisterten. „Sehen Sie, wie sich Kondenswasser gebildet hat?“, fragt er und hält einen runden Plastikbehälter vor die Lampe. Eine Agarplatte, ein Nährboden in der Petrischale, auf dem sich gerade ein Pilz ausbreitet. Am Plastik schimmern feine Wassertröpfchen im Gegenlicht – der Pilz atmet. Von den zig Millionen Pilzarten auf der Erde sind bislang vielleicht zehn Prozent erforscht. „Und nicht mal die verstehen wir komplett.“ Dass es da ein hochkomplexes, interagierendes Netzwerk im Boden gibt, fasziniert Wick. Was er bereits weiß, fasziniert ihn auch: dass sich große Systeme im Kleinen finden, dass er Beobachtungen aus der mikroskopischen Kleinstwelt im täglichen Leben wiederentdeckt. Wie eben die Pilzautobahn, die die Bakterienbesiedelung im Boden steuert – ähnlich wie sich Menschen in einem Land dort ansiedeln, wo es Verkehrsknotenpunkte gibt. Oder dass wir breitere Straßen bauen auf Strecken, die viele Menschen bereisen – und auch auf dickeren Pilzhyphen mehr Bakterien unterwegs sind. Ein Pilznetzwerk kann unbewegliche Bakterien in neue Habitate schieben, in denen sie plötzlich beginnen, sich zu vermehren. „Wie ein Internetanschluss Gedanken in den hintersten Fleck der Erde bringen kann, zu Menschen, die damit nie in Berührung gekommen wären“, sagt Wick, „hier wie dort bringt ein Netzwerk Dinge in Bewegung. Und das hat Folgen.“ Natürlich, sagt Wick, und klingt fast schon schuldbewusst, sind Mikroben keine Menschen. „Dieser Blick auf die Welt

LUKAS WICK wurde 1965 in der Schweiz geboren und promovierte 1994 an der Universität Basel in Organischer Chemie. Seit 2004 leitet er die Arbeitsgruppe Bioverfügbarkeit am Department für Umwelt-Mikrobiologie des Helmholtz-Zentrums in Leipzig. Wicks Forschungsschwerpunkt ist der Abbau von Schadstoffen im Boden – bei dem vor allem Pilze helfen sollen turi2 edition #6 · Netze


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Pilzen auf die Pelle rücken: Wenn Lukas Wick durch sein Mikroskop blickt, bieten ihm Myzelien und Bakterien ein Farbspektakel

Für Bakterien sind Pilze wie Schnellstraßen, auf denen sie sich entlang bewegen: Hier reisen stäbchenförmige Pseudomonas auf den Hyphen des Bodenpilzes Cunninghamella elegans

ist mit Sicherheit falsch. Aber faszinierend.“ Der Punkt klingt wieder einmal wie ein Fragezeichen. Japanische Kollegen, erzählt er, haben einmal einen Pilz auf eine Agarplatte geimpft, der sich von Haferflocken ernährt. Um den Pilz haben sie Haferflocken so angelegt wie die Vorstädte um die Stadt Tokio. Dann haben sie abgewartet, welche Pilzstränge sich bildeten und wie dick diese wurden. Das Ergebnis sah dem Nahverkehrsnetz in und um Tokio verblüffend ähnlich. Wick würde sich gerne mal mit einem Verkehrsforscher unterhalten über das, was er im Mikroskop sieht. Oder mit einem Soziologen. Wenn Bakterien auf Pilzhyphen reisen, kommen sie sich nahe, ähnlich wie Menschen in einer UBahn. Wick und seine Kollegen konnten nachweisen, dass durch den Kontakt der Bakterien ein horizontaler Gentransfer stattfindet. Informationen werden ausgetauscht, wie im Gespräch unter Menschen. Erbgut vermischt sich, wie bei der Fortpflanzung. Andererseits konnten die Wissenschaftler

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auch Bakterien beobachten, die andere Bakterien fressen – und deshalb besonders gern auf Pilzhyphen reisen, weil sie dort leichte Beute finden. Einem der Vorträge, in denen er seine Forschungsergebnisse präsentiert, hat Wick deshalb den Untertitel „Life, Love and Murder“ gegeben. Pilze sind in diesem System aus Liebe, Mord und Totschlag Überlebenskünstler. Wick glaubt, dass wir uns beim Netzwerken eine Menge von ihnen abschauen können. „Ressourcengetriebene Durchdringung“ zum Beispiel: zu wissen, wo man hin will, wo man welche Ressourcen findet, welche Ressourcen man in Reserve hat. Und zu wissen, wann man sich wieder zurückziehen sollte. Lukas Wick wird weiter versuchen, Pilze besser zu verstehen. Und mit ihrer Hilfe vielleicht irgendwann auch die Menschen. Ganz schaffen wird er beides nie. „In einer Handvoll Boden finden Sie mehr Lebewesen als Menschen auf der Erde. Verstehen Sie die Erde? Nein. Das tut niemand. Und das ist auch gut so.“ turi2 edition #6 · Netze


Niemals stillstehen.

www.menschenimfocus.de

Die Zielstrebigkeit des Satya Nadella im FOCUS.

FOCUS 05/2018

Menschen im


Zwanzig Netzwerker 6.) Rüdiger Weiß

Zug um Zug Rüdiger Weiß organisiert seit 15 Jahren das Fahrplannetz der Deutschen Bahn. Von Frankfurt am Main aus regeln er und sein Team den Fern-, Güter- und Regionalverkehr in Deutschland Von Markus Trantow (Text, Fotos und Video)

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as Herz der Deutschen Bahn schlägt fast lautlos. Keine lauten Rufe, keine klingelnden Telefone. Nur über die Computermonitore zieht sich ein Gewirr bunter Linien auf schwarzem Grund. Denn hier, in der Netzleitzentrale in Frankfurt am Main, laufen alle Fäden der Deutschen Bahn zusammen. 30 Mitarbeiter in drei Schichten überwachen den Fahrplan für Deutschland – und passen ihn an, wenn es mal wieder länger dauert. Rüdiger Weiß, Chef-Fahrplaner der Deutschen Bahn, ist dagegen überpünktlich. Sogar seine Anschlussverbindung ist schon vorgemerkt: In einer knappen Stunde geht es mit dem Taxi zum nächsten Meeting. Weiß, ein stattlicher Mann mit graubraunen Locken, hat genau genommen einen Architektenjob. Macht er einen Fehler, stürzen zwar keine Häuser ein, aber Tausende Reisende müssen warten. Wobei Weiß das Wort „Fehler“ nicht mag: „Beim Fahrplan kann es handwerklich keine Fehler geben.

Möglicherweise aber nicht immer die beste Lösung.“ So wie Ende 2017, als auf der nagelneuen Schnellfahrstrecke zwischen Berlin und München die ICEs reihenweise liegen blieben. Heute ist klar: Das waren Kinderkrankheiten, kuriert innerhalb weniger Wochen. Doch damals, Mitte Dezember, lagen auch bei Rüdiger Weiß die Nerven blank. Obwohl an der Pannenserie nicht sein Fahrplan Schuld war. „An manchen Tagen erreichen wir mit den Sprintern eine Pünktlichkeit von 100 Prozent“, schwärmt Weiß. Sprinter heißen die ICE-Züge, die in weniger als vier Stunden von Berlin nach München brettern. Der Fahrplan für die neue Strecke ist Weiß‘ ganzer Stolz. Zehn Jahre Arbeit hat er gekostet, rund 30 Prozent des gesamten Schienenverkehrs im Süden und Osten haben Weiß und sein Team neu abgestimmt. Ein Kraftakt. Der Fahrplan wurde Weiß praktisch in die Wiege gelegt. Schon sein Vater hat bei der Bahn am Fahrplan mitgearbeitet: in vordigitaler Zeit mit bunten Stiften, Lineal und Taschenrechner. Heute entstehen die Zeit-Wege-Linien in aufwändigen Computer-Simulationen. Sie zeigen an, wo welcher Zug wann sein soll. Der Fahrplan kommt praktisch

RÜDIGER WEISS wird 1962 in Diez an der Lahn nahe Frankfurt am Main geboren. Nach dem Grundwehrdienst studiert er an der Fachhochschule des Bundes für öffentliche Verwaltung. Seit Ende der 80er arbeitet er im Bereich Fahrplan der Deutschen Bahn, von 2003 bis 2018 als Fahrplanchef. Weiß ist verheiratet und hat zwei Kinder 76

fertig aus dem Rechner. Trotzdem hat er eine menschliche Komponente, sagt Weiß: „Die beste Simulation ist der laufende Betrieb.“ Erst auf der Schiene zeigt sich, ob ein Fahrplan funktioniert. Deswegen gehört neben nackten Zahlen auch ein „Gefühl für den Betrieb“ zum Job. Typische Fahrplan-Fehler sind zu stark ausgelastete Strecken: Wenn zu viele Züge kurz nacheinander die gleichen Schienen nehmen, steigt die Gefahr von „Verzögerungen im Betriebsablauf“. So heißt das dann in den Ansagen am Bahnsteig. Rüdiger Weiß kennt sein Unternehmen und seinen Fahrplan auch aus der Sicht des Kunden. Er fährt fast täglich Bahn, um zur Arbeit zu kommen. Wenn er doch einmal das Auto nimmt, ist er meist genervt. Wegen des regelmäßigen Staus auf der A3 kann er gut damit leben, wenn es bei der Bahn mal zu Verzögerungen kommt. Auf der Straße dauert es fast immer noch länger. Überhaupt ist das Schienennetz ein störungsanfälliges System – und damit auch der Fahrplan. Als Anfang 2018 das Sturmtief Friederike über Deutschland fegte, Bäume abknickte und Dachziegel von den Häusern riss, wurde im Lagezentrum der Netzleitstelle entschieden, den Fernverkehr deutschlandweit einzustellen. Der Fahrplan war einen Nachmittag und eine Nacht lang obsolet. Solche Großstörungen sind die Ausnahme, aber kleine Pannen gibt es täglich: Türstörung, Weichenstörung, Signalstörung, Oberleitungsstörung. Kritiker bezeichnen viele der Probleme als hausgemacht. Aber nicht alle gehen auf das Konto der Deutschen Bahn. Manchmal sind es Eingriffe von außen, die den Zugverkehr lahmlegen. „Notarzt-Einsatz am Gleis“ heißt es mehr als 800 Mal pro Jahr in den Zug-Durchsagen – und alle wissen, was eigentlich gemeint ist: Ein Mensch hat sich das Leben genommen. turi2 edition #6 · Netze


In der AugmentedReality-App zur „turi2 edition“ erklären Rüdiger Weiß und Achim Wolters, Chef der Netzleitzentrale, wie aus einem theoretischen Fahrplan Praxis wird turi2.de/edition/bahn

Irgendwas ist immer, bei mehr als 38.000 Fahrten pro Tag kein Wunder. Die traditionell heißeste Zeit für Rüdiger Weiß ist aber der Dezember. Denn Anfang des Weihnachtsmonats ist europaweiter Fahrplanwechsel – und wenige Tage später das halbe Land auf der Schiene oder Straße. Driving home for christmas, die jährliche Feuerprobe. „Offiziell fangen wir acht Monate vor dem Fahrplanwechsel mit dem neuen Fahrplan an“, sagt Weiß. Im April melden der Fernverkehr, die Privatbahnen und die Regionalbahnen ihre Fahrplanwünsche an. Dann rauchen in Weiß‘ Abteilung Computer und Köpfe. Insgesamt 800 Menschen arbeiten unter der Leitung des Chef-Planers; 140 von ihnen beschäftigen sich mit dem Jahresfahrplan, der ein Jahr im Voraus festlegt, wann welcher Personenzug wo abfährt. Sie planen 80.000 Verbindungen, die sich an durchschnittlich 200 Tagen pro Jahr wiederholen. Ein noch größerer Batzen ist der sogenannte Spotverkehr – im Prinzip Sonderzüge, nur weniger glamourös. Meistens handelt es sich um Güterzüge, die ihre Fahrt erst kurz vor dem Start anmelden und deshalb in keinem gedruckten Fahrplan auftauchen. Pro Jahr gibt es rund eine Million Spot-Trassen, wie es im Bahn-Jargon heißt. 260 von Weiß‘ Mitarbeitern weben diesen Spotverkehr ins vorhandene Fahrplannetz ein. In Deutschland ist das besonders aufwändig. Die meisten Schienenstrecken sind Misch-Strecken: Sie werden sowohl von schnellen ICEs als auch von langsamen Regionalbahnen genutzt. Der Güterverkehr kommt dazu – und fährt noch einmal langsamer. Damit auf den Gleisen nicht der Langsamste den Takt angibt, arbeitet ein Teil des Fahrplanteams rund um die Uhr. Ein guter Tag ist für Rüdiger Weiß, wenn in seinem Fahrplan-Netz „die Qualität stimmt“. Dass er sich über Verspätungen und verpasste Anschlüsse genauso ärgert wie die Fahrgäste, ist dem leidenschaftlichen Bahner anzusehen. Seit 33 Jahren steht er für den Konzern unter Volldampf, seit knapp 15 Jahren als Fahrplanchef. Trotzdem wird er den Posten 2018 abgeben. Künftig wird er den Verkehr im Südwesten Deutschlands dirigieren – über mehrere Landesgrenzen hinweg, als Leiter Vertrieb und Fahrplan. Der neue Job fordert nicht nur die planerischen Qualitäten von Netzwerker Weiß. Als Vertriebschef ist er dann auch erster Ansprechpartner für die Kunden der DB Netz AG. Für die eng getakteten Geschäftstermine braucht er vor allem eins: einen ausgeklügelten, persönlichen Fahrplan.

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Zwanzig Netzwerker 7.) Heribert Bertram

Ach, der Rheinländer, sagen seine Kunden und Kollegen Heribert Bertram ist beides: Faschingsprinz und Betriebswirt, Netzwerker und Verkäufer. Das rückläufige Vertriebsgeschäft bei Bauer organisiert er mit heiterer Verbissenheit Von Peter Turi und Johannes Arlt (Fotos)

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ie Märzsonne glitzt und blitzt auf der Ostfassade der Elbphilharmonie. Heribert Bertram schaut vom Konferenzraum im Meßberghof über die Willy-BrandtStraße auf Hamburgs Wahrzeichen. „Den Blick von Osten haben nicht viele“, freut er sich. „Hamburg ist wirklich die schönste Stadt der Welt.“ Sagt ausgerechnet der bekennende Rheinländer und praktizierende Karnevalist Bertram. Die Liebe zu Hamburg ließ den gestandenen Vertriebsexperten für Markenartikel im Oktober 2007 zu Bauer kommen – in eine Branche, die komplett im Defensivmodus fährt. „Früher kannte ich nur Pluszahlen“, sagt Bertram. Jetzt ist er in einer Branche gelandet, wo das Geschäft auch 2018 wieder „horrible“ läuft, mit zehn bis 12 Prozent Absatzrückgang für die Summe aller 6.000 Zeitschriften in Deutschland. Da ist Bertram schon froh, wenn Bauers Geschäfte langsamer schrumpfen als die der Konkurrenz. Seine rheinische Fröhlichkeit und seine zupackende Art schützen ihn davor, schwermütig zu werden angesichts von stetig sinkenden Verkaufszahlen für „TV Movie“, „Tina“ und Co. Vorbei die Zeit, als Bauer-Vertriebsleute bei Neueinführungen nur auf den Zeitpunkt wetteten, wann die Millionengrenze überschritten wird. Alles ist „figelinsch“ geworden – ein Hamburger Begriff, den Bertram von Yvonne Bauer gelernt hat: kniffelig kompliziert. Bertram ist eine Frohnatur. In der Karnevalskampagne 2015 tingelte er in seiner Zweitheimat Heinsberg-Rand-

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erath an der Wurm mit seiner Frau als Prinzenpaar über die Dörfer. Was bringt einen zweifachen Familienvater um die 50 dazu, 30 Narrensitzungen und -umzüge zu besuchen? Was treibt den Chef von 300 Mitarbeitern mit Verantwortung für acht Firmen und 600 Millionen Euro Umsatz dazu, von einem Prinzenwagen Kamellen zu werfen? Bertrams Anwort klingt sehr rheinländisch: „der Spass an der Froid.“ Nicht abgehoben sein, mit jedem reden, sich für nix zu schade sein, das ist das Lebensrezept von Bertram. Damit passt er gut in den Bauer-Verlag, der sich den Slogan „We think popular“ gegeben hat. „Ich sehe mich als Verkäufer, nicht als Manager – und da bin ich auch stolz drauf.“ Bertram stammt aus Euskirchen und aus einfachen Verhältnissen: Der Vater ist Kriegsheimkehrer ohne Berufsausbildung, die Mutter Hausfrau. Der eine Bruder wird Landwirt, der andere fliegt als Waffenoffizier im Tornado. Bertram macht 1987 Abitur, will Pilot werden, Tom Cruise aus „Top Gun“ ist sein Vorbild. Er studiert an der Bundeswehr-Uni in Hamburg Betriebswirtschaft. Schnell stellt sich raus, dass Bertram gut mit Menschen kann. Bei Procter & Gamble lernt er verkaufen „von der Pike auf“. Mit Windeln und Babypuppe unterm Arm fährt er durch Hamburg, erklärt Drogisten geduldig die Vorteile der neuen Klettverschlüsse. Oder baut Punica-Oasen im Getränkehandel auf. Arbeitet sich nach oben, geht zurück ins Rheinland, zuerst zu L’Oréal, dann vermarktet er für Henkel Pattex, Pritt-Stifte und Ponal – bald weltweit.

Bertram im Blätterbad: Der Bauer-Vertriebschef sorgt dafür, dass pro Jahr über eine halbe Milliarde Bauer-Hefte zum Kunden kommen. Dass ein Teil davon im Papiercontainer endet, sieht er betont entspannt



In der Augmented-Reality-App zur „turi2 edition“ beantwortet Heribert Bertram den turi2-Fragebogen – und verrät seine verborgenen Talente turi2.de/edition/bertram

Seine offene Art hilft ihm beim Aufstieg. Bertram – typisch Rheinländer – spricht mit jedem. „Wenn ein Verkäufer kein Netzwerker ist – wer dann?“ Mit den Hamburgern kommt er bestens klar. Ein Nachbar hat ihm verraten: „Wir Hamburger würden nie jemanden ansprechen, aber wir freuen uns, wenn wir angesprochen werden.“ Anfangs hat er versucht, sich den rheinischen Singsang abzugewöhnen, heute weiß er, dass sein Kölsch mit EifelEinschlag Teil seiner Persönlichkeit ist. Und Markenzeichen. Ach, der Rheinländer, sagen seine Kunden und Kollegen. Nur unterschätzen sollte man Bertram nicht. Das heitere Wesen ist nur eine Seite der Medaille, auf der anderen stehen Ehrgeiz, Fleiß und ein Schuss Verbissenheit. Bei Bauer hat er Ton und Tempo im Vertriebsgeschäft verschärft. Er agiert mit Liebe fürs Detail und macht im Kampf um Vertriebserlöse keine Gefangenen. Bertram kommt 2007 als Bereichsleiter Handel zu Bauer. Die Vertriebschefin damals heißt Yvonne Bauer und ist heute die Verlegerin. Sie versucht 2007,

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einen Augiasstall um Bauer-Manager zu säubern, die in die eigene Tasche gewirtschaftet haben. Deshalb holt sie den Marken-Vertriebsmann Bertram, weil der „maximal unbelastet“ an die Sache rangeht – er hat nie zuvor in einem Medienbetrieb gearbeitet. 2009 macht Yvonne Bauer Bertram zu ihrem Nachfolger als Vertriebschef. Seitdem bläst er zur Attacke gegen die „Trägheit des Systems“ und attackiert die satt und bequem gewordenen Monopolisten im Pressegrosso. „Manchmal komme ich mir vor wie im Mittelalter“, schimpft Bertram 2016 in einem Interview mit „kress pro“. So besäßen einige Familienstämme mehrere Grosso-Firmen – „jeder hat sozusagen eine Burg bekommen und die wird jetzt verteidigt“. Aber: „Das Land drumherum wirft immer weniger Erträge ab.“ Bertram weiß, wovon er spricht. Bauer betreibt mit dem Pressevertrieb Nord (PVN) selbst einen Grossisten und kennt daher die Margen im Pressegroßhandel genau. Anfangs gilt Bertram mit seiner Kritik als Außenseiter, inzwischen hat eine große Verlags-Allianz

aus Bauer, Burda, Springer, Gruner + Jahr, Funke, Spiegel und Klambt den Grossisten Zugeständnisse abgepresst. Aus 73 selbständigen Grossisten im Jahr 2007 sind heute weniger als 50 geworden, bald werden es nur noch 20 sein. Der „kumulierte Overhead“, den Bertram kritisiert hat, schrumpft. Aus seiner Sicht zurecht: „Die Grossisten gerieren sich als Garanten der Pressefreiheit, dabei sind das wir Verlage und die Journalisten. Die Grossisten sind nur Logistiker.“ Vertrauen ist naiv, Kontrolle besser – nach diesem Motto robben die Truppen von Commander Bertram immer näher ran an den Point of Sale für Zeitschriften. Das Pressegrosso als Puffer zwischen Verlagen und Kiosk und Einzelhandel umgeht Bertram, wo er kann. Allein zehn Mitarbeiter sind von morgens bis abends in Deutschland unterwegs und bewerten große Pressehändler mit Schulnoten. Sie fotografieren, wie die Bauer-Titel liegen, ob Vollsicht, Halbsicht oder geschuppt. Was er sieht, freut den Vertriebschef nicht immer: „Es wird ins Regal reingepresst noch und nöcher.“ Bertram kämpft „für die Sichtbarkeit meiner Produkte“. Dafür lässt er sich einiges einfallen. Weil 26 der 100 umsatzstärksten Titel im Einzelhandel von Bauer stammen, bedruckt Bertram seine Verkaufs-Raketen oben links mit dem blauen Logo „Bestseller“ und wirbt beim Händler dafür, die starken Titel besser zu positionieren. Bauer setzt auch auf Big Data: Mit selbstgestrickter Software analysiert Bertrams Truppe das Verkaufsgeschehen an 80.000 Verkaufsstellen in Deutschland. Ziel: dem Pressegrosso Fehler in der Disposition nachweisen. Wenn in einem Lidl viermal hintereinander „TV 14“ nach 100 Heften ausverkauft war, weil der Großhändler zwei Monate gebraucht hat, um die richtige Menge zu liefern, dann, verrät er, „gehe ich in die Luft wie das HB-Männchen“. Um direkten Zugriff auf die Zeitschriftenverkäufer zu bekommen, hat Bertram den Bauer Starclub gegründet – eine Art Miles & More für Pressehändler. Wer Werbeaktionen mitmacht und Bauer-Titel besser platziert, bekommt kleine Prämien. „Juristisch einwandfrei“, betont Bertram. Und doch Verdrängungswettbewerb pur. Gleichbehandlung aller Titel am Kiosk? Für Bertram ein Alptraum: „Das ist Kommunismus, das funktioniert nicht.“ So schlägt er der Konkurrenz manches Schnippchen und erhöht Jahr für Jahr den Marktanteil für Bauer – derzeit sind es 15 Prozent. Und vor allem: Bertram hält für Bauer die Renditen hoch. Mit rheinischem Singsang. turi2 edition #6 · Netze


W I L L K O M M E N B E I G E N E R A T I O N E

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Wir haben 1 Million Jahre auf das Feuer gewartet, das unsere Höhlen aus Fels erleuchtete. Dann 750 Jahrtausende auf die Schrift, die unsere Gedanken in die Zukunft trug. 48 Jahrhunderte, bis wir daraus Bücher drucken konnten. Zehn weitere, bis wir mit dem Auto zu all den Orten fahren konnten, von denen wir gelesen hatten. Acht Jahrzehnte vergingen, bis sich uns mit dem Internet die ganze Welt virtuell erschloss. Insgesamt warteten wir 1.755.880 Jahre, bis aus unserer steinernen Zuflucht ein vernetztes Zuhause wurde. Das Warten hat sich gelohnt. Und ab heute beginnt eine neue Zeitrechnung.

D I E U N D

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P L A T T F O R M

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Z U K U N F T I M

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Z E I T S C H R I F T E N H A N D E L

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Nur mit weißen Stoffhandschuhen darf Dr. Karin Zimmermann von der Universitätsbibliothek Heidelberg die Abschrift der Decem libri historiarum des Gregor von Tours anfassen. Die Handschrift ist um das Jahr 800 im Kloster Lorsch entstanden. Das Pergament ist extrem brüchig


Die Spur der Bücher Im Mittelalter waren Bücher die Quelle des Wissens und Klöster die Hüter der Schätze. Die Mönche waren analog bestens vernetzt. Jetzt versuchen Wissenschaftler und Klosterbrüder, den Schatz der Bibliotheken zu retten und digital zugänglich zu machen. Heike Reuther (Text) und Johannes Arlt (Fotos) waren auf der Suche nach den verlorenen Büchern


Hüter der verborgenen Schätze Ein Bild wie von Spitzweg: Bücherwurm Pater Gottfried hat die neunstufige Leiter im Kleinen Saal der Stiftsbibliothek von Melk erklommen. Der Bibliothekar hält drei von mehr als 100.000 Bänden in der Hand, die den Schatz des Klosters bilden – eine Quelle der Bildung und Inspiration und seit 2000 Unesco-Weltkulturerbe. Der Blick geht hinüber in den Großen Saal mit der Vitrine, in der besondere Schätze ausgestellt sind. „Ein Kloster ohne Bücher ist wie eine Burg ohne Waffen“, sagt ein mittelalterliches Sprichwort. Pater Gottfried ist demnach bis an die Zähne bewaffnet



Jäger der verlorenen Schätze Buchstäblich mit leeren Händen stand Dr. Hermann Schefers da, als er 1992 bei der Unesco-Welterbestätte Kloster Lorsch anfing. Mit nachweislich knapp 500 Handschriften war die Bibliothek des ehemaligen Klosters eine der mit Abstand umfangreichsten Büchersammlungen der Karolingerzeit – ­geblieben davon ist nichts. Ein verwaistes ­Gelände und eine Inventarliste, ­damit ist Schefers gestartet. Schritt für Schritt, Jahr um Jahr hat er sich vorgearbeitet und Lorsch zu dem gemacht, was es heute ist: ein Ort der Vernetzung und Wissensvermittlung. Das Verborgene sichtbar zu machen, ist sein Ziel. Die virtuelle Rekonstruktion der Klosterbibliothek Lorsch ist Schefers Meisterwerk. In der Ecke schläft währenddessen Grummel, eine Brandlbracke



Im Anfang war das Wort und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort. (Johannesevangelium) Der Glaube an die Macht des Wortes hat die Mönche des Mittelalters zu unermüdlichen Sammlern und Bewahrern des Wissens gemacht. Viele weltliche Schriften der Antike sind nur durch sie erhalten.

Hightech für alte Bücher Sophia Reidel vom Digitalisierungszentrum der Universitätsbibliothek Heidelberg bringt auf einer Spezial-Apparatur, dem Grazer Tisch, eine kostbare Handschrift vorsichtig in Position. Seite um Seite fotografiert sie die Abschrift der Decem libri historiarum, die „Zehn Bücher Geschichten“ des Gregor von Tours – eine Art Universalgeschichte von der Erschaffung der Welt bis in die Zeit des Autors. Gregors Schilderungen des 6. Jahrhunderts sind für die Geschichtsforschung von großem Wert, da aus dieser Epoche sonst nur wenige Quellen erhalten sind. Der Codex ist eine der ältesten Handschriften aus dem Skriptorium des Kloster Lorsch und belegt das Können der Lorscher Schreiber



Spuren im Schnee So leer wie im Februar ist der Pr채latenhof von Stift Melk selten. Im Sommer werden hier t채glich bis zu 100 Besuchergruppen 체ber die Kaiserstiege durch Marmorsaal, Stiftskirche und Stiftsbibliothek geschleust. 500.000 Besucher im Jahr sind f체r Pater Gottfried, den Mann im weiten, schwarzen Habit, Freud und Leid zugleich: Einerseits braucht das Stift die Eintrittsgelder zur Erhaltung der Bibliothek, andererseits tragen die Besucher Unruhe, Schmutz und Feuchtigkeit in die heiligen Hallen. Der emissionsfreie Tourist ist noch nicht erfunden



In der Augmented-RealityApp zur „turi2 edition“ zeigt Johannes Arlt noch mehr faszinierende Bilder von Pater Gottfried, Stift Melk, Hermann Schefers, Kloster Lorsch und der Digitalisierung der Buchschätze in Heidelberg. Heike Reuther erzählt ihre Geschichte turi2.de/edition/kloster


alt ist es im Kloster an diesem ­Februarmorgen. Und still, unglaublich still. Die Welt da draußen, sie ist einfach weg. Wir fühlen uns so klein angesichts der Pracht der Klosterbibliothek, dass uns der Atem stockt – nicht nur der Temperatur wegen. Pater Gottfried weiß um diese Wirkung. Der große Mann im schwarzen Ordensgewand, der die Stiftsbibliothek von Melk leitet, hatte gewarnt: „Ziehen Sie sich warm an, drinnen ist es frisch. Wir heizen nicht, die Bücher vertragen es nicht.“ Der Hauptsaal der barocken Stiftsbibliothek ist überwältigend schön. An die 12.000 Bände stehen in einheitlichem Rindsleder mit goldener Rückenprägung in Reih und Glied. Im Erdgeschoß wird wie auf der Galerie die Reihenfolge von den vier Fakultäten vorgegeben: von der Theologie über das kanonische und weltliche Recht und die Naturwissenschaften hin zur Philosophie. Schweift der Blick nach oben, überragt das Ganze Paul Trogers Deckenfresko von 1731/32 mit der Darstellung der Künste und Wissenschaften. Im Zentrum des Gemäldes: die Theologie. Pater Gottfried ist ein Mann wie eine Figur aus dem Roman „Der Name der Rose“: würdevoll, belesen und weltabgewandt. Im Roman von Umberto Eco kommt es in einem mittelalterlichen Kloster durch den Streit um ein verbotenes Buch zu einer Mordserie. Der Ich-Autor heißt Adson von Melk. Der Benediktiner-Novize begleitet den detektivisch begabten Franziskaner William von Baskerville bei der Spurensuche. Hat es Adson von Melk wirklich gegeben? Pater Gottfried schüttelt den Kopf: „Nie wäre ein FranziskanerMönch mit einem Benediktiner-Novizen übers Land gezogen. Der Roman ist pure Erfindung.“ Aber eine gute, wie Pater Gottfried zugibt. Deshalb war es auch für ihn ein besonderes Ereignis, als Eco die Bibliothek in Niederösterreich 1992 besuchte. Die Mönche erlaubten sich einen Streich und fälschten ein Pergament, auf dem ein „Adson von Melk“ erscheint. Eco zeigte sich beeindruckt, obwohl er den Schwindel ahnte. Für Pater Gottfried ist das Leben und Arbeiten in der Pracht des Benediktiner-Klosters Alltag. Es gehört zu seinem Leben, seitdem er mit zehn ans Stiftsgymnasium Melk kam. Nach der Matura trat er ins Stift ein, studierte Philosophie und Theologie, vertiefte sich in das Alte Testament und in Sprachen wie Aramäisch, Latein, Altgriechisch und Koptisch. 1976 erhielt er die Priesterweihe, seit 1980 leitet er die Stiftsbibliothek. Den Winter mag er besonders gern, denn mit der kalten Jahreszeit kommen weniger Besucher in die UnescoWelterbestätte. Dann hat er die Bibliothek fast für sich allein. Gibt es irgendwo eine Kammer mit verbotenen Büchern? Pater Gottfried winkt ab und lächelt mild: „Melk besitzt elf Lutherbibeln aus dem 16. Jahrhundert. Und von Philipp Melanchthon, obwohl als auctor damnatus, also als verbotener Autor gekennzeichnet, existieren 50 Bände aus dieser Zeit.“ Um die heiklen Bücher zu lesen, brauchte es jahrhundertelang die Erlaubnis des Novizenmeisters. In der Bibliotheksordnung wurde fein säuberlich festgehalten, an wen und zu welchem Zweck die Werke entliehen wurden – zum Studium der Sprachen, wie es meist hieß. Das Lesen protestantischer Schriften diente den Mönchen aber auch dazu, sich rhetorisch zu schulen und sich im Sinne der Gegenreformation das nötige intellektuelle Rüstzeug anzueignen. Das zarte Klicken beim Umdrehen des Schlüssels durchbricht die Stille für einen Moment. Pater Gottfried öffnet die Vitrine und hebt den Glasdeckel behutsam an. Auf Samt gebettet liegt ein Buch von unschätzbarem Wert, die „Melker

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Sensationsfund: Dieses Fragment einer Abschrift des Nibelungenliedes aus dem 13. Jahrhundert wurde 1998 zufällig in Melk entdeckt. Die Pergamentstreifen steckten im Einband eines Buches aus dem 15. Jahrhundert. Was für uns heute ein Schatz ist, galt im Mittelalter als Makulatur und wurde recycelt

Annalen“. 400 Jahre Klosterleben, 100 Hände haben sich darin verewigt und an den Annalen geschrieben. Pater Gottfried hütet sie wie seinen Augapfel. In ihnen wird die Historie des eigenen Hauses eins mit der Kirchen- und Weltgeschichte. Gerade zwei bis drei Zentimeter Platz pro Jahr waren für Einträge vorgesehen. Festgehalten wurden nur die bedeutenden Ereignisse. Damals gingen die Uhren anders – kein Vergleich zum heutigen News-Aufkommen. Und nicht immer waren nachfolgende Generationen mit einem Eintrag einverstanden: Da wurde nachgebessert und kommentiert. Anhand von Schriftform und Schriftgröße können auch Laien den Ursprungstext gut von den nachträgliche Notizen unterscheiden. Für Pater Gottfried sind es gerade die Randbemerkungen, die ihn in die Geschichte Melks ziehen. Nach der Regel des heiligen Benedikt versuchten die Mönche, das Ora et Labora et Lege (bete und arbeite und lerne) in Seelsorge und Bildung umzusetzen. Man vermutet, dass schon bald nach der Gründung von Stift Melk im Jahr 1089 eine Klosterschule entstanden ist. Abt Erchenfried, ­1121-1160, brachte aus Stift Admont die Schreibkultur nach Melk mit, ließ ein Skriptorium einrichten und 1123 die „Melker Annalen“ anlegen. Pater Gottfried erzählt: „Im Skriptorium von Melk arbeiteten nur wenige Mönche. Nicht jeder konnte und durfte schreiben. Ein Chronist galt als wichtiger Repräsentant des Klosters und musste über eine saubere Handschrift verfügen.“ Ein oder zwei Schreiber und ein sogenannter Illuminator für die Bildgestaltung und Verzierungen am Rand werden hier gleichzeitig tätig gewesen sein, „ab dem 15. Jahrhundert womöglich auch mehr“, schätzt er. Wissen sammeln, abschreiben, weitergeben; sich vernetzen und Wissen vermehren: Das war die Bestimmung der Bibliothekare von Melk. Sozusagen das Internet des Mittelalters. Wie aber hat die Vernetzung der Klosterbibliotheken damals funktioniert? Pater Gottfrieds Antwort: Der Fels, auf dem das Kloster oberhalb der Donau liegt, war lange Hauptburg des Markgrafengeschlechts der Babenberger. Bevor dieses seinen Sitz nach Wien verlagerte, beorderte der Markgraf 1089 zwölf Mönche aus dem oberösterreichischen Lambach nach Melk. Lambach wiederum war 1056 von Münsterschwarzach bei Würzburg aus besiedelt worden. „Filiation, lateinisch Tochter, so der Fachbegriff“, sagt Pater Gottfried. „Die Tochterklöster blieben ihrem Mutterkloster verbunden, zugleich konnten aus ihnen neue Tochterklöster entstehen.“ Der erste Schritt zu einem Netzwerk.

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Später waren es die sogenannten Visitatoren, die von Kloster zu Kloster zogen, Wissen mitbrachten und es auch mitnahmen: Nachdem 1297 bei einem verheerenden Brand in Melk Kloster, Kirche und alle Nebengebäude samt Bibliothek den Flammen zum Opfer gefallen waren, erholte sich das Stift lange nicht. Es ging ums pure Überleben, das kulturelle Leben lag brach. Die Mönche verloren jede Disziplin, was damals die allgemeine kirchliche Situation widerspiegelte. Deshalb wurde auf dem Konzil von Konstanz 1414, das das abendländische Schisma beenden sollte, auch die Reform der Benediktinerklöster beschlossen. Melk wurde als Ausgangspunkt bestimmt. Mönche mit Aufsichtsbefugnis wurden zur „Visitation“ und Bestandsaufnahme in die Klöster Österreichs und Süddeutschlands entsandt. Mönche aus anderen Klöstern reisten nach Melk, um hier die Reform kennenzulernen und in ihre Heimatklöster zu tragen. Die „Melker Reform“ wurde durch weltlichen Einfluss und die enge Vernetzung von Melk mit der Universität Wien vorangetrieben. Etliche Mönche hatten vor ihrem Eintritt ins Kloster an der Wiener Universität studiert. Aus Melk gingen wiederum Rektoren und Professoren der Universität hervor. Pater Gottfried holt die Melker Bibliothekskataloge des Spätmittelalters (1483) und der frühen Neuzeit (1517) hervor. Sie belegen den intensiven Wissenstransfer zwischen Universität und Kloster – und den rasant anwachsenden Bestand der Klosterbibliothek in dieser Zeit. „Bis ins 19. Jahrhundert hinein hat man alles gesammelt, was es zu sammeln gab.“ Selbst eine Notiz über Graf Dracula kann Pater Gottfried hervorzaubern. Schmerzlich vermisst wird dagegen eine wertvolle Gutenberg-Bibel. Die ging 1926 in den Verkauf, um eine notwendige Restaurierung der Klostergebäude zu finanzieren. Sie landete in den USA an der Yale University. Heute hat die Melker Bibliothek vorrangig archivarischen Charakter. Regelmäßig werden einzelne Werke aus dem Bestand für Ausstellungen angefragt. Wie behält der Bibliothekar da den Überblick? Pater Gottfried deutet auf den Karteikasten: „Bis 1990 wird der Bestand im analogen Zettelkatalog geführt. Für die Neuzugänge ab diesem Zeitpunkt und einen kleineren Teil der Altbestände kann der interessierte Leser nach den Werken elektronisch suchen.“ Der größte Feind der Bücher ist aber nicht die Unordnung – es ist der Bücherwurm. „Sie kommen durch die Buchregale und lieben das holzhaltige Papier.“ Vor einigen Jahren bestellten die Mönche den Kammerjäger ein. Die Bibliothek turi2 edition #6 · Netze


Magie über der Donau: Auf einem Felsen erhebt sich der barocke Prachtbau von Stift Melk. Seit 1089 leben und wirken dort die Benediktiner – ohne Unterbrechung. 2018 feiert das Stift 600 Jahre „Melker Reform“, die Erneuerungsbewegung der Benediktinerklöster in Österreich und Süddeutschland www.stiftmelk.at



wurde begast, das Ungeziefer war tot – dachten alle. Nur damit sich wenige Jahre später der Bücherwurm wieder verstärkt breitmachte. Denn die Vergasung hatte auch die natürlichen Wurmfeinde wie Spinnen getötet. Umso dringlicher wird die Frage nach der Konservierung des Melker Buchschatzes. In den Sechzigern begann man, die mittelalterlichen Handschriften auf Mikrofilm zu bannen. Doch dieses Medium erwies sich als analoge Sackgasse. Mit der Digitalisierung der Mikrofilme und weiterer Handschriften hat das Stift begonnen. Aber bei der Unzahl an Werken ist und bleibt es ein Wettlauf gegen die Zeit.

rtswechsel. Während Pater Gottfried damit beschäftigt ist, den Schatz von Melk zu hüten und zu bewahren, jagt Hermann Schefers 650 Kilometer nordwestlich im hessischen Lorsch verlorenen Schätzen hinterher. Etwas einsam steht er beim Treffen da, Dr. Hermann Schefers, Historiker und Leiter der Welterbestätte Kloster Lorsch. Doch von Kloster weit und breit keine Spur. Keine großen Bauten, keine repräsentativen Gebäude zeugen mehr von der Macht und der Bedeutung der einst so einflussreichen Abtei. Eher verloren und unbedeutend mutet der Platz der Klosteranlage an. Wie kann ein Ort Unesco-Welterbestatus erreichen, an dem es gar nichts zu sehen gibt – außer einer Torhalle aus karolingischer Zeit, deren Funktion aber nach wie vor ungeklärt ist? Hermann Schefers federt gelassen ab: „Die Begründung für den Welterbestatus sieht das Kloster als Ganzes und schließt die geistes- und kulturgeschichtliche Bedeutung mit ein.“ Schon als junger Mann nahm Schefers während seines Geschichtsstudiums in München die Spur der Bücher auf. Er saugte alles auf, was er über Karl den Großen und das Kloster Lorsch finden konnte. Das war gar nicht so einfach, denn damals speicherte man noch auf Mikrofilm – und Schefers musste für seine Recherchen von Ort zu Ort reisen. Trotzdem legte er parallel mit seiner Promotionsarbeit den Grundstein für sein Herzensprojekt: die digitale Auferstehung der Klosterbibliothek von Lorsch, die Bibliotheca Laureshamensis. Zum Glück erstellten im 9. Jahrhundert alle großen Abteien im Frankenreich Verzeichnisse ihrer Büchersammlungen, so etwa St. Gallen, die Reichenau oder Fulda. Aus Lorsch stammen gleich vier Kataloge, einer davon ist komplett erhalten. Mit dieser Inventarliste startete Schefers sein ehrgeiziges Vorhaben: die virtuelle Rekonstruktion der Lorscher Bücher – und ihre Wiedergeburt im Internet. Unterstützt von der Verwaltung der Staatlichen Schlösser und Gärten Hessen und der Heidelberger Universitätsbibliothek hat er diese Aufgabe bewältigt.

Hermann Schefers geht seinen Weg über das nahezu leere Klosterareal von Lorsch. Das Kloster erlebte seine Blütezeit unter Karl dem Großen um 800 nach Christus. Der Grundbesitz von Lorsch reichte vom Bodensee bis an die Rheinmündung. Davon kann Hermann Schefers heute nur träumen – doch mit seinen Ideen hat er den Ort zu neuem Leben erweckt www.kloster-lorsch.de

Warum tut er sich das an? Was ist so bedeutend an der Lorscher Bibliothek? „Mit ihrem mühevollen Arbeiten haben die Lorscher Schreiber nicht nur theologisches, sondern auch weltliches Wissen weitergegeben. Viele für die Überlieferung antiker, spätantiker und frühmittelalterlicher Werke bedeutender Codices wurden im Lorscher Skriptorium abgeschrieben oder gehörten zum Bestand. Vergil, Seneca, sie wären vergessen, hätte es nicht die Klöster gegeben.“ Außerdem konnte man in den Klöstern Krankheiten behandeln. Doch lange wurde medizinisches Wissen nur mündlich weitergegeben – weil Krankheiten als Strafe Gottes galten. Das um 800 angefertigte „Lorscher Arzneibuch“ ist eines der ältesten, das das medizinische Wissen des Frühmittelalters versammelt. Es zählt zum Unesco-Weltdokumentenerbe.

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Wissen für alle: Die Bibliothek von Lorsch ist als virtuelle Rekonstruktion wiederauferstanden. Jede digitalisierte Handschrift der Bibliotheca Laureshamensis ist online einsehbar. Hier kann geblättert, gezoomt und entziffert werden: www.bibliotheca-laureshamensis-digital.de

Traurig, dass von Lorsch, oder Laurissa, wie es damals hieß, so wenig übrig geblieben ist. Die Geschichte meinte es nicht gut mit dem Ort und seinem Bücherschatz. Dabei begann alles so vielversprechend: Die Abtei, um 764 gegründet und 772 an Karl den Großen übergeben, entwickelte sich bald zu einem zentralen Wirtschafts- und Verwaltungsstützpunkt am Mittel- und Oberrhein. Lorsch war Reichs- und Königskloster und profitierte von der Bildungsreform Karls

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des Großen. Er ließ ein leistungsfähiges Skriptorium und eine Bibliothek einrichten. Bis ins 10. Jahrhundert ging es dem Kloster gut, danach schrumpfte seine Bedeutung, 1232 verlor es mit der Eingliederung in das Erzbistum Mainz seine Privilegien. Die Benediktiner gaben das Kloster auf, ihnen folgten die Zisterzienser, später die Prämonstratenser. In der Reformationszeit schließlich erlosch das klösterliche Leben ganz. turi2 edition #6 · Netze


Mitte des 16. Jahrhunderts löste Kurfürst Ottheinrich von der Pfalz das Kloster mitsamt der Lorscher Büchersammlung auf. Er kassierte die kostbaren Werke für seine weltliche Bibliotheca Palatina in Heidelberg, die damals wohl berühmteste Bibliothek nördlich der Alpen. Doch die Klosterbibliothek von Lorsch blieb nicht lange in Heidelberg. 1623, während des Dreißigjährigen Krieges, eroberten katholische Truppen die kurpfälzische Residenzstadt. Die Bibliotheca Palatina wurde zur Kriegsbeute, auf dem Rücken von Mauleseln über die Alpen geschafft und dem Papst übergeben. Bis heute wird der Großteil der historischen Bestände im Vatikan aufbewahrt. Hermann Schefers Forscherdrang, seiner Unnachgiebigkeit und seinem Geschick, Kontakte zu knüpfen und Netzwerke zu spinnen, ist es zu verdanken, dass wieder zusammenkam, was zusammengehört – zumindest im Internet. Die ehemaligen Lorscher Codices liegen im Original heute verstreut über rund 70 Institutionen in Europa und den USA. Wer eine Handschrift sehen möchte, muss dafür ins Londoner Victoria and Albert Museum, nach Los Angeles ins J. Paul Getty Museum oder ins Stadtarchiv von Tulln. Mit 133 Handschriften wird das größte Kontingent der Lorscher Schriften in der Biblioteca Apostolica Vaticana in Rom aufbewahrt und ist dort für die Öffentlichkeit unsichtbar. Gemeinsam mit Dr. Karin Zimmermann, der stellvertretenden Leiterin der Abteilung Historische Sammlungen an der Universitätsbibliothek Heidelberg, ging Schefers 2010 sein Projekt an. Bei der Digitalisierung wertvoller, mittelalterlicher Manuskripte hatten die Heidelberger bereits Expertise bewiesen. „Unser Digitalisierungszentrum ist weltweit führend“, sagt Karin Zimmermann. Die zierliche Frau führt in den Keller der Universitätsbibliothek: Hier steht das Herzstück des Digitalisierungszentrums, der mit einer hochauflösenden Kamera ausgestattete „Grazer Tisch“. Er wurde speziell zur Bearbeitung von Handschriften entwickelt und ermöglicht die Digitalisierung empfindlicher Objekte, ohne sie zu berühren und sie komplett aufzuschlagen. Das täte den alten Werken nicht gut. Zuerst wird das Buch mit Hilfe eines Laserstrahls exakt in Position gebracht, dann wird die einzelne Seite durch Unterdruck fixiert. Die spezielle Konstruktion ermöglicht, dass die Kamera immer im rechten Winkel auf das Blatt gerichtet ist; Verzerrungen werden minimiert. Danach wird mit einem Bildbearbeitungsprogramm das digitale Faksimile bearbeitet, um es so weit wie möglich dem Original anzupassen. Technisch waren Schefers und Zimmer bestens vorbereitet. Die größte Herausforderung blieb, die Archive in Europa und Amerika, die im Besitz einer Lorscher Handschrift oder eines Fragments sind, für das Projekt Bibliotheca Laureshamensis digital zu gewinnen. Nicht jede Institution zeigte sich begeistert davon, ihre Schätze öffentlich und kostenfrei preiszugeben. Die Wissenschaftler mussten viel Überzeugungsarbeit leisten. Schließlich schafften sie es. Selbst der Vatikan wollte kooperieren. Doch da kam die nächste Hürde: Die wertvollen Manuskripte sollten den Vatikan nicht verlassen. „Ein Projekt mit Pioniercharakter“, erinnert sich Karin Zimmermann. „Bis wir endlich die Erlaubnis hatten, die Digitalisierung in Rom in Eigenregie durchzuführen, vergingen Monate.“ Im November 2010 richteten die Heidelberger in der Via della Conciliazione eine Außenstelle ein und entsandten ein Digitalisierungsteam nach Rom. Die Datenlieferung nach Heidelberg erfolgte per Kurier. Im Abstand von mehreren Monaten wurden die Scans auf mobile Festplatten übertragen und mit dem Flugzeug nach Heidelberg gebracht. Die Mühe hat sich gelohnt: Drei Jahre lang haben die Wissenschaftler zusammengetragen, was einst zusammengehörte. turi2 edition #6 · Netze

Seit 2014 ist die Bibliotheca Laureshamensis komplett digital. Damit stehen der Forschung völlig neue Möglichkeiten offen, denn bisher konnten nur sehr wenige Wissenschaftler die ehemaligen Lorscher Codices aufsuchen und analysieren. Rund 75.000 Seiten bündeln das komplette Wissen des karolingischen Europas. Und das Angebot wird rege genutzt: Aus 140 Ländern weltweit klicken die Menschen die Bibliothek an. Auch der Vatikan ist hochzufrieden: Er lässt jetzt auch die Bibliotheca Palatina von Karin Zimmermann und ihrem Team digitalisieren. Und wie geht es für Kloster Lorsch und Hermann Schefers weiter? Der muss bei dieser Frage nicht lange überlegen: „Viele große Religionen haben zu unterschiedlichen Zeiten vergleichbare Einrichtungen hervorgebracht. Seit 2002 arbeiten wir an Austauschprogrammen und der Zusammenführung aktiver Klöster unterschiedlicher Religionen, die auf der Welterbeliste stehen, zu einem globalen Klosternetzwerk. Das Benediktinerkloster St. Johann in Müstair in der Schweiz, das armenisch-orthodoxe Kloster Geghard, das buddhistische Kloster Haein-sa in Südkorea gehören schon dazu. In diesem Jahr wird das Heilige Dorf Bantiguel in Guinea, Westafrika, folgen.“ Der perfekte Plan, die alten Netzwerke des Wissens neu zu verknüpfen.

Kostbares im Keller: Dr. Karin Zimmermann öffnet den begehbaren Tresor der Universitätsbibliothek Heidelberg. Hier ruht ein Teil der Schätze von Kloster Lorsch – nach einer regelrechten Odyssee durch halb Europa

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Das ABC der alten Bücher Annale lateinisch annus, das Jahr. Die Mönche hielten in den Annalen die wichtigen Begebenheiten wie Naturkatastrophen und Kriege chronologisch fest – ähnlich einem Tagebuch. Die Melker Annalen geben über die Zeit von 1123 bis 1564 durchgängig Auskunft und lassen das Mittelalter wiederauferstehen Bücherwurm begeisterter Leser, Gemälde von Carl Spitzweg und zum Leidwesen von Pater Gottfried hartnäckiger Gast der Melker Stiftsbibliothek. Die Larven des Nagekäfers futtern sich durch die Regalbretter und machen vor alten Werken nicht Halt

Blätter, wurde meist später mit Bleistift nachgetragen – manchmal sogar erst im 19. und 20. Jahrhundert. Sie ist gut erkennbar in den Melker Annalen Grazer Tisch eine Vorrichtung zur Digitalisierung empfindlicher Inkunabeln und Codices. Die spezielle Konstruktion ermöglicht es, alte Bücher mit einem Öffnungswinkel von weniger als 140 Grad zu fotografieren. Der Büchertisch wurde an der Universitätsbibliothek Graz entwickelt

Codex lateinisch von caudex, „Holzblock“, ist die erste Form des Buches: Doppelblätter werden zu Lagen ineinandergelegt und zwischen ­ zwei Holzdeckel gebunden. Codices lösten seit der Einführung des Christentums die antike Schriftrolle ab. In den Skriptorien von Stift Melk und Kloster Lorsch entstanden meisterhafte Handschriften mit reicher Bebilderung Einband Bis in das 16. Jahrhundert wurden Buchdeckel üblicherweise aus Holz gefertigt. Bei Bänden, die mit Leder überzogen sind, besteht der Deckel hingegen aus Pappe oder Papiermaterialien. In Melk wurde 1998 bei der Restaurierung eines Buchdeckels ein Fragment des Nibelungenlieds aus dem 13. Jahrhundert gefunden – eine Sensation Foliierung = Seitenzählung: Die Annalen und Codices des Mittelalters wurden von den Mönchen oft ohne Seitenangaben angelegt. Eine Nummerierung, die sogenannte Foliierung der 100

Handschrift lateinisch Manuscriptum, meint alle mit der Hand geschriebenen, nicht ­ gedruckten Bücher. Die hohe Kunst des ­ Schreibens beherrschten im Mittelalter nur wenige Gelehrte und Mönche. In den Skriptorien der Klöster entwickelten sie das Schreibwesen und die Schrift weiter turi2 edition #6 · Netze


Inkunabeln sind Frühdrucke, auch WiegenDrucke genannt. Das Wort stammt vom lateinischen Ausdruck in cunabulis, in der ­ Wiege. Eine Inkunabel bezeichnet also Bücher, die in den ersten Jahren nach Erfindung des Buchdrucks gedruckt wurden, als der Buchdruck sozusagen noch in der Wiege lag Karolingische Minuskel Die Schrift hebt sich von anderen mittelalterlichen Schriften durch eine ausgeprägte Ober- und Unterlänge der Buchstaben ab und ist die Vorstufe unserer heutigen Kleinbuchstaben – der Bildungsreform Karls des Großen sei Dank. Um 800 entstanden erstmals auch Texte mit Punkt, Komma, Fragezeichen und klaren Wortabständen Lauresham ist der seit dem 9. Jahrhundert belegte, lateinische Ortsname von Lorsch. Vom Leben und Wirken der Mönche zeugt die virtuelle Rekonstruktion der Lorscher Klosterbibliothek, die Bibliotheca Lauresha­ mensis digital. Und das begehbare Freilichtlabor karolingischer Herrenhof Lauresham Mikrofilm Die Reproduktion ­ bedeutender Dokumente auf analogen Mikrofilmen war ein erster Schritt, die Bestände der Klosterbibliotheken zu sichern. Die Digitalisierung hat den Mikrofilm unnötig und die Arbeit der Wissenschaftler einfacher gemacht. Mit einem Klick lassen sich heute von überall auf der Welt die verborgenen Schätze und verlorenen Bücher sichten

Pergament war der am häufigsten verwendete Beschreibstoff des europäischen Mittelalters und wurde aus Tierhäuten gefertigt. Sein Name stammt vermutlich von der Stadt Pergamon in Kleinasien. Pergament wurde häufig mehrfach benutzt: vorhandene Schriften wurden mit Klinge, Bimsstein oder Sand abgeschabt und anschließend neu beschrieben Rubrizierung von lateinisch rubrum, rot. Zur Textgliederung markierten die Mönche Überschriften, Initialen, Paragraphen-Zeichen und Absätze in roter Farbe. Oft führte diese Arbeit ein anderer Schreiber aus als der eigentliche Autor. Dabei kontrollierte und korrigierte er auch die von seinen Kollegen geschriebenen Texte Skriptorium die mittelalterliche Buchwerkstatt. Die Kunst des Schreibens war lange Zeit Privileg der Mönche. Nur selten konnte ein Laie schreiben, auch Karl der Große war Analphabet. Im Skriptorium wurden Bücher kopiert. Ein Schreiber musste Werke in Latein, Griechisch und Hebräisch abschreiben können – egal, ob er den Text verstand Verso Bei foliierten Handschriften bezeichnet man die Seiten zur Unterscheidung mit Recto und Verso. Recto meint die Vorderseite eines Blattes, die sich beim aufgeschlagenen Buch auf der rechten Seite befindet. Verso heißt die Rückseite des Blattes, die im aufgeschlagenen Buch jeweils links liegt

Nachweis Bibliotheken versehen ihre Schätze gern mit einem einheitlichen Eigentumsnachweis. Früher wurden unter anderem Kupferoder Holzstiche als Exlibris eingeklebt. Allerdings verbinden sich mit der Kennzeichnung nicht ausschließlich schöne ­ Erinnerungen: Auch die Nazis haben ihre Spuren in Büchern der Stiftsbibliothek Melk hinterlassen

Zettelwirtschaft Die Digitalisierung macht unser Leben leichter? Kommt darauf an. Auch die Mönche des Mittelalters hatten ihre Methoden, Ordnung zu halten und den Überblick über ihre kostbaren Werke zu bewahren. Die analogen Bibliothekskataloge von Stift Melk und Kloster Lorsch geben deshalb exakt Auskunft über den Bestand der großen Büchersammlungen turi2 edition #6 · Netze

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Netzwerker in Zahlen von Tatjana Kerschbaumer

4000 128 70 17.700 1143 Burschenschaften gibt es in der Bundesrepublik, die im Verband Deutsche Burschenschaft organisiert sind. Insgesamt kommt das Netzwerk so auf rund 7.000 aktive Mitglieder und alte Herren

3,57 Freunde trennen Facebook-Nutzer von jedem anderen beliebigen User des Netzwerks. Nutzt eine Person Facebook nicht, gehen Wissenschaftler davon aus, dass sie über eine Kette von sechs Personen mit jedem anderen Menschen der Welt verbunden ist

1,2 Millionen

4

Mitglieder haben Rotary-Clubs in 166 Staaten weltweit. Bundesweit sind 53.000 Rotarier in 1.032 Clubs organisiert Mafia-Gruppen gibt es in Italien: Cosa Nostra, Ndrangehta, Camorra und Sacra Corona Unita. Sie sind in verschiedenen Regionen des Landes aktiv. Allein in Kalabrien soll es 220 Ndrangheta-Clans mit mehr als 8.000 Angehörigen geben

war die Nummer des Paragraphen, der „Geheimbündelei“ in Deutschland unter Strafe stellte. Er findet sich erstmals im Preußischen Strafgesetzbuch von 1851. Bis 1968 drohte Mitgliedern von Bruderschaften, Logen und Co ein Jahr Gefängnis

Mitglieder haben Freimaurer-Logen in Deutschland. Weltweit soll es etwa fünf Millionen Freimaurer geben

nach Christus wird Lübeck gegründet – der Startschuss für die Entwicklung und den Aufstieg der Hanse. Der Zusammenschluss von Kaufleuten und Handelsstädten zerfällt erst im 17. Jahrhundert und gilt bis heute als das erfolgreichste Business-Netzwerk der Geschichte

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150 25

digitale Freunde hat ein ­Facebook-Nutzer durchschnittlich

33,3 Prozent aller Arbeitsstellen in Deutschland werden über Beziehungen besetzt. Bei kleinen Betrieben bis zu 50 Mitarbeitern spielt Vitamin B sogar in 47 Prozent der Fälle eine Rolle

ist die maximale Anzahl an Menschen, zu denen eine Person stabile soziale Beziehungen unterhalten kann. Das glaubt zumindest der britische Psychologe Robin Dunbar, der auf diese Zahl Anfang der 90er Jahre kam

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Jahre alt ist ein Mensch durchschnittlich, wenn er das Maximum seiner Kontakte pflegt. Mit zunehmendem Alter sinkt die Zahl sozialer Kontakte. Grund: Die Menschen werden häuslicher und wählerischer turi2 edition #6 · Netze

Quellen: blickamabend.ch, brandwatch.com, burschenschaft.de, Forschungsinstitut IAB der Bundesagentur für Arbeit, freimaurer.online, heise.de, rp-online.de, spiegel.de, wikipedia.org, zeit.de,

vor Christus entstehen in der frühen Bronzezeit die ersten wirtschaftlichen Netzwerke zwischen wachsenden Städten – etwa am Nil. Die Kaufleute tauschen Kupfer und Zinn, aber auch Informationen und Frühformen des Geldes


Foto: Š Marsel van Oosten


Zwanzig Netzwerker 8.) Katharina Huber

„Im Training war ich kurz davor, die Maschen durchzuschneiden“ Mit 16 bricht sich Katharina Huber beide Mittelfußknochen. Aus der Traum, Seiltänzerin zu werden. Der neue Plan: das Netz zähmen Von Anne-Nikolin Hagemann (Text und Fotos)

Ihr Artistikgerät fängt Katharina Huber nicht auf – zumindest anfangs nicht. Stattdessen ist das Netz störrisch, unberechenbar und rau, schwer zu kontrollieren



K

atharina Huber glitzert. Das sieht man aber erst auf den zweiten Blick. Während sie in einem Café im Prenzlauer Berg in Berlin sitzt und von ihrer ersten großen Liebe spricht, funkelt es in ihren Augenwinkeln. Ein paar Punkte glitzernder Kajal, die man nur bemerkt, wenn das Licht günstig fällt. Und sich die Haut um die Augen beim Lachen in winzige Fältchen legt. Katharina Huber, 25 Jahre alt, geboren in Bad Wiessee am Tegernsee, ist Netzartistin. Sie turnt und tanzt in den Maschen eines Luftnetzes, das als Dreieck an einem Ring in vier bis sieben Metern Höhe hängt, ähnlich wie eine Hängematte. Auf das alte VarietéVersprechen „ohne Netz und doppelten Boden“ ist Katharina Huber im Laufe ihrer Karriere so oft angesprochen worden, dass es ihr kaum noch ein müdes Lächeln entlockt. Kein Glitzern. Eigentlich war ohnehin alles ganz anders geplant. Eigentlich war das Drahtseil für sie „so ein bisschen wie die erste große Liebe. Die man nie gekriegt hat.“ Mit 15 lässt Huber ihre bayerische Heimat und ihre Eltern zurück, um in Berlin auf die staatliche Artistenschule zu gehen. Internat in Marzahn, „nicht gerade die schönste Ecke der Stadt“, sagt sie und lacht. Zu dritt in einer Wohnung im Plattenbau, Training morgens um acht, dann Unterricht, dann wieder Training. Jeden Abend um halb neun sei sie ins Bett gefallen, sagt Huber, die bis zu ihrer Bewerbung an der Schule nicht mehr mit Artistik am Hut hatte als dreimal die Woche Turnen im Verein und ab und zu einen Wettkampf. Die Schule in Berlin, das ist nicht nur Anstrengung, sondern auch Abenteuer. Eine andere Welt, ein weiterer Horizont. Den bayerischen Dialekt hat sie mitgenommen in diese Welt. Was sie erzählt, klingt so bescheidener, nüchterner, aber auch fröhlicher, als wenn sie Hochdeutsch reden würde. Schon hier im Prenzlauer Berg wirkt das selt-

sam exotisch, zu Hubers wild zerzaustem Haar, den beiden verschiedenen Ohrringen, einer kurz, einer baumelnd. Man ahnt, wie es in einer Showumgebung sein muss, wo alles und jeder funkelt und strahlt, das Gegenteil von Bodenständigkeit. Die Grundausbildung für jeden Artisten an der Schule ist gleich: jonglieren, Trapez, Bodenturnen, Handstand. Und Seiltanz. Ihre Lieblings-Disziplin zählt Huber zuletzt auf, mit kurzer Pause davor. „Auf dem Drahtseil bin ich sehr schnell sehr gut geworden“, sagt sie. Seiltänzer gibt es nicht viele auf dem Markt. Sie beginnt langsam, von einer Karriere zu träumen. Beim Tanzen auf dem Drahtseil tragen die Mittelfußknochen die meiste Last, beim Ausbalancieren werden sie am meisten beansprucht. Bei Katharina Huber brechen sie, in beiden Füßen. Ermüdungsbruch, wahrscheinlich durch falsches Training. Der Traum platzt. Kurz steht in Frage, ob sie auf der Schule bleiben darf. Da ist sie 16 Jahre alt, „wütend und frustriert und weit weg von zu Hause“. Huber muss sich ein neues Gerät suchen. Sie soll in die Luft, die Füße entlasten. Aber Tuch und Trapez wählen viele. Im Cirque du Soleil sieht sie einen Artisten, der mit einem Luftnetz arbeitet. Sie bestellt sich eines aus den USA. Es wäre schön, wenn man jetzt schreiben könnte, das Netz habe sie aufgefangen, ihr Halt gegeben. Aber nichts wäre falscher. Es wickelt sie ein, fesselt sie, ist störrisch und unberechenbar, als hätte es einen eigenen Willen. Ganz anders als das Drahtseil, die gerade Linie, die federnd nachgibt, wenn man Druck ausübt. Die Schul-Trainer können ihr kaum helfen, Erfahrung mit dem Netz hat keiner. Und viele haben noch immer im Kopf, wie gut sie auf dem Seil gewesen ist. Einiges kann sie übernehmen aus der Arbeit mit Tuch und Trapez. Aber das Netz ist doch anders, so viel rauer, so viel schwerer zu kontrollieren. Wenn

Das Netz kann vieles sein: Leiter nach oben, schützender Kokon, Tanzpartner, Gefängnis 106

man unaufmerksam hineingreift, zieht es sich zu. Wenn man zu schnell daran entlang rutscht, verbrennt es die Haut. Katharina Huber trägt im Training mehrere Schichten übereinander, damit es weniger wehtut. Lernt, dass die größte Gefahr ist, im Netz hängen zu bleiben, sich nicht befreien zu können. „Sich verhakeln“ nennt Huber das. Nein, es ist keine Liebe auf den ersten Blick, am Anfang nicht einmal Sympathie. „Im Training war ich oft kurz davor, die Maschen einfach durchzuschneiden“, sagt Huber heute, schnipst mit den Fingern als Schere durch die Luft und lacht, hell, laut, plätschernd, ein Künstlerlachen. In ihrer Abschlussprüfung an der Artistenschule verhakelt sie sich im Netz, bleibt mit dem Kopf hängen, kann sich ohne Hilfe nicht befreien. Bestanden hat sie trotzdem, das Netz zerschnitten hat sie auch nicht. Aufgeben liegt ihr nicht. Je schwerer es wird, desto mehr will sie sich durchbeißen. Sie schaut sich Videos anderer Artisten an, probiert aus, jahrelang. Ein Jahr nach ihrem Schulabschluss, mit 21, ist sie so weit, dass sie sagen kann: „Das ist meins.“ Wer sie heute sieht, merkt von all dem nichts: Katharina Huber tritt mit ihrem Netz auf großen und kleineren Bühnen in ganz Deutschland auf, im Wintergarten-Varieté Berlin, im Friedrichsbau Stuttgart, in Köln, Bonn, Kassel und Warnemünde. Ein halbes Jahr war sie sogar Teil der Show auf einem Tui-Kreuzfahrtschiff. Dann hängen die untersten Maschen knapp über Kopfhöhe, so, dass Huber vom Boden aus hineingreifen kann. Oft zieht sie sich nicht sofort nach oben, sondern streckt erst die Füße hinein oder die Hände, lässt das Netz sich auffächern, wirbeln, drehen. Dreht sich mit, bis sie plötzlich oben ist, so fließend, dass die Zuschauer den Moment verpassen, in dem ihre Füße den Bodenkontakt verlieren. Mal schwingt sie dann im Netz wie in einer Schaukel, mal lässt sie sich fallen und von den Maschen wieder auffangen, mal wickelt sie sich ein und windet sich wieder hinaus. Ein Netz unter dem Netz, eines zum Auffangen, hat sie nie. „Fallen gibt es nicht“, sagt Katharina Huber. turi2 edition #6 · Netze


„Das Netz macht, was es will. Man muss immer wissen, wie man rauskommt aus der Nummer“

Mit ihrem Netz tritt Huber mittlerweile auf Bühnen in ganz Deutschland auf

Denn um Fallen oder Nicht-Fallen soll es gar nicht gehen, Huber zeigt keine Zirkus-Tricks mit Trommelwirbel und Spannung. Sie tanzt mit dem Netz zu Musik und Licht und Nebel, malt Formen und Bilder in die Luft. Oft hat sie dabei eine Geschichte im Kopf, ist eine Puppe, die zum Leben erwacht, oder eine Frau, die verlassen wird. Aber diese Geschichte muss das Publikum nicht unbedingt verstehen. „Diese paar turi2 edition #6 · Netze

Minuten gehören den Zuschauern“, sagt Huber, „die dürfen entscheiden, was sie sehen.“ Manchmal sagen ihr Menschen nach einem Auftritt, sie hätten den Impuls zum Klatschen zwischendurch unterdrückt, um die Stimmung nicht zu zerstören. Das Netz ist in ihren Geschichten mal eine Leiter nach oben, mal ein Fallstrick, mal ein Sicherungsseil. Es kann ein schützender Kokon sein, ein

Tanzpartner. Oder ein Gegenspieler, ein Gefängnis, aus dem sie sich befreien muss. Es bestimmt die Nummern mit. Macht sie eher langsam, melancholisch, denn extrem schnelles Abfallen und Rutschen klappt nicht, sonst brennt die Haut. Sie muss das Netz außerdem immer in Bewegung halten und in allen Ebenen nutzen, vom Boden, aus dem Ring heraus, in den Maschen, damit es wirkt. Katharina Huber hat längst aufgehört, ihre Auftritte bis ins kleinste Detail zu planen. „Das Netz macht sowieso, was es will“, sagt sie. Wenn sie nicht alles perfekt einstudiert, ist sie wacher, kann schneller reagieren. „Man muss nur immer wissen, wie man rauskommt aus der Nummer.“ In der Artistenszene heißt es, zwischen Gerät und Charakter gebe es einen Zusammenhang. Drahtseiltänzer zum Beispiel sollen besonders ausgeglichen sein. Und Netzartisten? Achten vielleicht auch außerhalb des Netzes darauf, immer in Bewegung zu bleiben, auf mehreren Ebenen unterwegs zu sein, einen Ausweg zu haben. Auf Katharina Huber zumindest trifft das zu. „Ich kann mich nicht so hängen und fallen lassen wie andere“, sagt Huber, „ich brauche eine gewisse Sicherheit, einen Plan.“ Über Geld möchte sie, wie die meisten freien Künstler, lieber nicht reden. Nur so viel: zum Leben reicht es, für Luxus nur ab und zu. Mit 25 spricht sie davon, wie wenig realistisch es ist, dass sie mit 35 oder 40 noch auf der Bühne steht. Sie träumt rational. Nicht vom großen Netz-Auftritt in Las Vegas, sondern davon, vielleicht eine Show mit Kollegen zu entwickeln und länger zu spielen. Oder sich einen eigenen Bühnencharakter auszudenken. Sie arbeitet nebenbei als Lehrerin im Kinderzirkus und als Spielleiterin in einem Berliner Theater, „da könnte man vielleicht eine Zukunft draus machen“. Das Netz und sie verbindet heute eher Freundschaft als Liebe. Eine Bekanntschaft, mit der sie sich mit der Zeit dann doch angefreundet hat, trotz verschiedener Standpunkte. „Aber wer weiß? Vielleicht wird ja irgendwann doch mehr daraus“, sagt Katharina Huber. Dann glitzert sie.

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Zwanzig Netzwerker 9.) Thomas Vollmoeller

Der Stammtischbruder Thomas Vollmoeller hat das Business-Netzwerk Xing vom Startup zum milliardenschweren Börsenunternehmen gemacht. Mithilfe von Pappschildern, einem Sabbatical und Offline-Kommunikation Von Markus Trantow (Text, Fotos und Video)

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ch glaube, dass ich vor allem im richtigen Leben ein guter Netzwerker bin.“ Dieser Satz muss erstmal wirken. Weil er von Thomas Vollmoeller kommt, Vorstandschef des Online-Karrierenetzwerks Xing. Kontaktpflege ist für den 58-Jährigen aber eine Offline-Angelegenheit. Klar, er hat auch 2.300 Xing-Kontakte – aber das ist berufsbedingt. Das Büro von Thomas Vollmoeller ist für längere Gespräche ungeeignet. Es ist ein Stehpult in einer geschützten Ecke eines Großraumbüros. Gegen-

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über, zwei Armlängen entfernt, sitzt seine Assistentin. „Wenn ich mal ganz konzentriert arbeiten will, setze ich mir Kopfhörer auf.“ Gäste empfängt Vollmoeller lieber in einem nüchternen Konferenzraum: imposanter Monitor, Zimmerpflanze, weiße Wände. Nur ein Einhorn-Kopf an der Wand lässt erahnen, dass wir uns in einer Firma befinden, die mal ein Startup war. Heute ist Xing ein Tech-Dax-Unternehmen mit 1,5 Milliarden Euro Börsenwert. Vollmoeller setzt auf offene Strukturen und schnelle Kommunikation.

Vor seiner Zeit bei Xing war er Chef des Schweizer Kiosk-Ketten-Betreibers Valora. Schon dort hat er Wände eingerissen und Großraumbüros eingerichtet. Bei Xing treibt er das Co-Working auf die Spitze: In welcher Abteilung man sich befindet, verraten Pappschilder, die an den Schreibtischlampen hängen. „Beratung“ und „Verkauf“ steht darauf oder – am Platz von Vollmoeller – „CEO“. Für Video-Konferenzen mit Kollegen an anderen Standorten scharen sich die Mitarbeiter einfach um einen Monitor. Schon kann‘s losgehen. turi2 edition #6 · Netze



THOMAS VOLLMOELLER geboren 1960 in Tübingen, wächst in Kiel auf, wo sein Vater als Chefarzt an der Uni-Klinik arbeitet. Nach dem Abitur geht er zur Marine, 1980 studiert er erst Informatik, wechselt dann zu BWL. Er arbeitet für McKinsey, Tchibo und den Schweizer Handelskonzern Valora, bevor er 2012 CEO bei Xing wird. Vollmoeller lebt mit Ehefrau und zwei Töchtern in Hamburg

„Diese Radikalität hätte ich mich in der Industrie nicht getraut“, sagt Vollmoeller. Er leitet das Karriere-Netzwerk seit 2012. Und wenn man Mitarbeitern glaubt, die länger bei Xing arbeiten, hat er radikal umgebaut – ganz ohne Tech-Erfahrung. Vollmoeller hat zwar Anfang der 80er mal zwei Semester Informatik studiert und bei IBM in Stuttgart gearbeitet, ist aber schließlich auf BWL umgestiegen und hat eine McKinsey-Karriere begonnen. Es folgten Chefposten bei Tchibo und Valora. Als Vollmoeller kam, zählte Xing 400 Mitarbeiter. Heute sind es mehr als 1.000. Unter ihm knüpft das Netzwerk an die Wachstumsraten der Gründungsjahre an. Mit seinen 58 Jahren ist Vollmoeller mit Abstand der Älteste bei Xing, trotzdem hat er die Firmenkultur erhalten: In jeder der drei Etagen, die Xing im Metropolis-Haus unweit der Hamburger Binnenalster mietet, weht noch Startup-Wind. Mitarbeiter arbeiten auf Sitzsäcken mit MacBooks auf den Knien, der Duft frischer Muffins liegt in der Luft, in der Ecke steht eine Kiste Bier. Vollmoeller fühlt sich hier pudelwohl: „Xing ist das Beste, was mir im Berufsleben passiert ist.“ Luft nach oben? Gibt’s bei ihm nicht mehr. Könnte man glauben, auch weil er erklärt, wie der Job ihn verändert hat: „Ich bin vom Saulus zum Paulus geworden.“ Aus dem Handel war er einen fast militärischen Führungsstil gewöhnt. Bei Xing musste der Manager lernen, loszulassen. Und darauf zu vertrauen, dass selbstständige Teams ohne Einmischung des Chefs arbeiten. Dass er das verstanden hat, bewies er mit einem Sabbatical, das er von 2016 auf 2017 einlegte. Es wurde viel darüber geschrieben: Zum ersten Mal

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überhaupt gönnte sich der CEO eines Börsen-Konzerns eine mehrmonatige Auszeit und ging mit seiner Ehefrau auf Weltreise. Wie oft er während der Auszeit seine Mails gecheckt hat? „Kein Mal“, versichert Vollmoeller. Nur alle zwei Wochen gab es einen Pflichtanruf von Xing-Finanzchef Ingo Chu. Die Manager sprachen fast immer übers Wetter. Vollmoeller ist weder Nerd noch Sonderling, und das ist nicht der einzige Unterschied zu den Chefs anderer sozialer Netzwerke. Er inszeniert sich auch nicht als Heilsbringer. Stattdessen strahlt er die Ruhe eines erfahrenen Hamburger Kaufmanns aus – genau das, was ein Startup auf dem Weg zum etablierten Unternehmen braucht. Sogar wenn er über die Erfolge des „größten deutschen Business-Clubs“ spricht, klingt er noch bescheiden - aber bestimmt. Rund 14 Millionen Menschen vernetzen sich inzwischen via Xing, mehr als eine Million zahlt für die Mitgliedschaft rund 100 Euro pro Jahr. Konkurrent LinkedIn von Microsoft ist zwar das größte Business-Netzwerk der Welt, im deutschsprachigen Raum aber nur der Verfolger. Vollmoeller ist sich sicher, den Abstand halten zu können – gerade, weil Xing kein Welt-Netzwerk ist, sondern ein Lokalmatador. „Die Globalisierung der Arbeitswelt wird überschätzt.“ Glaubt Vollmoeller. Und präsentiert Zahlen, die das belegen sollen: Laut Statistik haben 80 Prozent der Menschen keinen beruflichen Kontakt ins Ausland, 50 Prozent wären nicht einmal bereit, für einen Job mehr als 50 Kilometer weit wegzuziehen. In Xings Konzentration auf den deutschsprachigen Markt sieht er deshalb kein Problem, sondern einen Vorteil. Dass vor allem Führungskräfte und Junge immer globaler denken und arbeiten, sagt er nicht. Die Nähe zu den Nutzern ist für Vollmoeller einer seiner Schlüssel zum Erfolg: Erst wenn sich die Menschen nicht nur online vernetzen, sondern im wirklichen Leben kennen lernen, zeigt sich die Stärke eines sozialen Netzwerks. Und dafür tun Vollmoeller und seine Mitarbeiter eine Menge. Sie initiieren Executive Circles für jeweils 12 bis 15 Führungskräfte, regionale

Gruppen veranstalten Tausende Mitgliedertreffen pro Jahr, öffentliche und geschlossene Diskussionsforen regen zum Gedankenaustausch an. Parallel sorgt eine Redaktion um die Journalistin Jennifer Lachmann mit dem Online-Magazin „Klartext“ für eigenen Content. Ausgewählte XingMitglieder schreiben unter dem Label „Insider“ Artikel für die Community. Impulse kommen auch über Newsletter, die aktuelle News aggregieren und mehr oder weniger ungefragt in den EMail-Postfächern der Mitglieder landen. Xing ist für viele Medien der zweitwichtigste Traffic-Bringer nach Facebook geworden. Künftig will das Netzwerk noch mehr eigene Inhalte liefern und Videos drehen. Überhaupt versucht Vollmoeller, Arbeit neu zu denken. Er glaubt, dass sich die Macht auf dem Arbeitsmarkt zugunsten der Arbeitnehmer verlagert. Auch deshalb veröffentlicht Xing die Gehälter aller Mitarbeiter anonymisiert im Intranet. Jeder soll sehen, wo er steht. „Intransparenz ist ein Machtinstrument der Arbeitgeber“, sagt er. Mehr Gehaltsdiskussionen als früher gibt es trotzdem nicht. Nur die Qualität der Gespräche hat sich geändert: Wenn alle Karten auf dem Tisch liegen, laufen Diskussionen über Geld rationaler ab. „Unser Netzwerk wird von seinen Mitgliedern getragen“, sagt Vollmoeller. Für ihn ist Xing nicht nur das große Netzwerk mit seinen 14 Millionen Mitgliedern. Vollmoeller beschreibt es lieber als viele kleine, persönliche Netze, die auf seiner Plattform zu einem großen zusammenwachsen. Er freut sich über Gruppen, die über Xing zusammenfinden und sich dann in der Kneipe treffen. Das kommt auch seiner eigenen Haltung am nächsten. Vollmoellers wichtigste Netzwerke sind zwei Stammtische, die er einmal pro Monat besucht. Dazu kommt der Alumni-Kreis früherer Kollegen von Tchibo. Der organisiert sich: über Xing.

In der Augmented-Reality-App zur „turi2 edition“ erklärt Thomas Vollmoeller den Maschinenraum von Xing turi2.de/edition/xing turi2 edition #6 · Netze



Zwanzig Netzwerker 10.) Burkhard Graßmann

Der Händler Burkhard Graßmann entwickelte schon als Kind auf dem Flohmarkt Verkaufstalent. Heute wirbelt er als Burdas oberster Anzeigenverkäufer – und füllt gleich zwei Planstellen mit drei Dienstsitzen Von Tatjana Kerschbaumer und Markus Burke (Fotos)

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ie Sache mit den Marktgesetzen hatte Burkhard Graßmann schon früh raus. Die Sache mit den Flohmarktgesetzen, müsste man eigentlich sagen. Als Teenager war Graßmann in seiner Heimatstadt Kiel ein ambitionierter Trödelverkäufer, allein: Es gab die Konkurrenz. Da konnte es schon mal passieren, dass er die umliegenden Stände einfach aufkaufte. Und als einer der anderen Händler schließlich nachfragte, was Graßmann denn mal werden wolle, antwortete der aus voller Überzeugung: „Ich will mal BWL studieren!“ Hat er dann auch. BWL war keine allzu große Herausforderung, logisch, mit so viel Praxiserfahrung. Deshalb kamen noch Geschichts- und Politikwissenschaft sowie Philosophie auf den Studienplan, wobei Graßmann sein Philosophen-Licht gern unter den Scheffel stellt. „Das hat so einen Nickelbrillenträger-Touch.“ Fertig studiert hat er trotzdem alle vier Fächer, aber heute, sagt er, nutzt ihm Thomas Hob-

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bes‘ Leviathan am ehesten etwas, wenn er unter vier Augen mit einem Kunden essen geht. Nicht unbedingt an den großen, weißen Burda-Konferenztischen. Die sind eher ein Fall für den korrekt gekleideten Betriebswirt: breiter Goldring, schicke Uhr, Boot auf Mallorca. Das liegt da aber noch gar nicht lange, früher schaukelte es unprätentiös auf der Ostsee. Doch als Graßmann mit seiner Frau aus dem hohen Norden nach München zog, Burdas Vermarkter BCN zuliebe, musste das Boot nun einmal mit. Und München liegt näher am Mittelmeer als an der Ostsee. Graßmann, 52, gebräunt und mit Haaren im Surferlook, um die ihn jede Shampoo-Werbung beneiden würde, sieht sowieso eher nach Segler denn nach Manager aus. Aber das täuscht. Auch seine zwei Jobs bei Burda haben letztlich mit Navigation zu tun. Dort steuert er seit 2011 das Dickschiff Burda News, zu dem unter anderem die gesamte „Focus“-Gruppe sowie der „Playboy“ und „TV Spielfilm“ gehören.

2016 vertraute ihm Burda-Vorstand Philipp Welte zusätzlich die Leitung des Burda Community-Networks BCN an. Und soll Graßmann im Spaß geraten haben, Burda News nebenbei „als Hobby zu betreiben.“ Ganz so einfach ist es nicht, einerseits Marken wie den „Focus“ auf Spur zu halten und im Zweitberuf Kunden Anzeigen und Kooperationen schmackhaft zu machen. Graßmann hat mittlerweile drei Büros, eines in Hamburg, sogar zwei in München – sie liegen in Sichtweite voneinander, aber in unterschiedlichen Gebäuden: eines bei Burda News, eines bei BCN. Sogar seine Assistentin ist an zwei Arbeitsplätzen heimisch, und zu Graßmanns Glück weiß sie immer genau, wo er sein sollte: „Wo ich hin muss, in welches Büro? Das steht in meinem Terminplaner.“ Vor kurzem kam er trotzdem in Verlegenheit, als seine Tochter fragte, was er eigentlich ständig mache. Graßmann war kurz davor zu sagen, dass er sehr viel in Flugzeugen und Büros sitze. turi2 edition #6 · Netze


„Wo ich hin muss, in welches Büro? Das steht in meinem Terminplaner“


Letztlich erklärte er seiner Tochter Burda News, was irgendwie einfacher ist, als Vermarktung in Kindersprache zu übersetzen: „Wir entwickeln Produkte, die die Menschen interessieren, sie bilden, und ihnen Vorteile verschaffen.“ Vorteile – das ist eines von Graßmanns Lieblingsthemen. Genauer gesagt: Vorteile, die sich aus „Focus“Listen und durch „Focus“-Siegel-geschmückte Ärzte, Anwälte und Banken ergeben. Das Geschäft mit den Listen funktioniert seit 22 Jahren, „Focus Money“ war der Vorreiter. Heute arbeiten rund 50 Burda-Mitarbeiter ständig daran, Deutschlands beste Kliniken, Diabetes-Spezialisten und sogar E-Bike-Hersteller zu ermitteln – und sie anschließend im „Focus“ und seinen Beibooten zu präsentieren. Will ein Unternehmer, der sich auf der Liste findet, mit dem entsprechenden Siegel werben, muss er seit Mitte der 2000er dafür bezahlen. Wie viel verrät Graßmann nicht, nur: „Eine Klinik zahlt natürlich mehr als ein Hausarzt.“ Einen zweistelligen Millionenbetrag spült das Geschäftsmodell jährlich in die Verlagskasse. So lässt sich besser rechtfertigen, warum in der Redaktion des „Focus“-Magazins mehr als 50 Prozent der Stellen wegrationalisiert wurden. Bereiche wie das Siegelgeschäft sind ertragsstärker. Graßmann zumindest haben die Siegel-Rankings genützt, nicht nur, weil er damit im Unternehmen gut dasteht. Einen Anwalt hat er so schon einmal gefunden, und ein „Focus“zertifizierter Kniespezialist reparierte seinen kaputten Meniskus. Warum der eigentlich hinüber war, keine Ahnung, jetzt ist er jedenfalls wieder heil, Liste sei dank. Schon deshalb will Graßmann nicht, dass sich interessierte Kliniken, Ärzte oder andere Unternehmer in das Ranking „einkaufen“. „Es gibt natürlich Versuche, da werden schon mal fünfstellige Beträge genannt.“ Obwohl Graßmann gerne handelt, schließt er das kategorisch aus. Was hätte er am Ende auch davon? Vielleicht nur ein Knieproblem, das von einem Quacksalber verarztet wird. Ließe man Graßmann: Er könnte stundenlang nur über Listen, Siegel und das ganze Drumherum sprechen. Es gibt ja auch so viel zu tun. Denn die exakten Daten für die Rankings liefern oft externe Dienstleister wie Statista oder Munich Inquire Media – und auf genau diese Daten ist mittlerweile auch die Konkurrenz scharf. Graßmann würde da einiges gern direkt ins Haus holen, damit kein Leck droht; also „insourcen“ im BWLer-Sprech. Sogar Telefonhotlines mit konkretem Listenbezug kann er sich vorstellen. Bei Burda würden

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dann Callcenter-Mitarbeiter sitzen, die Auskunft auf die Frage geben: „Und wer operiert mich jetzt am besten?“ Was das alles noch mit einem Verlag zu tun hat? „Wir sind die moderne Form eines Medienunternehmens“, sagt Graßmann, und natürlich folgt das Mantra: „Wir werden immer Inhalte produzieren.“ Manchmal werden alte Dinge mit den Jahren ja auch besser oder kommen wieder in Mode. Graßmann musste das selbst erfahren, als er einmal seine Schallplatten wegschmiss und danach das Revival von Vinyl erlebte. Aber verlassen, nein, verlassen will er sich auf solche Launen des Markts nicht. Dafür ist er zu sehr Händler, der Burdas Chancen auch mal im Wein- und Kaffeegeschäft wittert. In zwei Unternehmen hat der Verlag dort unter seiner Regie investiert, Vicampo und Roast Market. Schon praktisch, dass Graßmann gleichzeitig der Chef-Vermarkter des Verlags ist: Die hauseigenen Magazine werben fleißig für die Weine mit Burda-Beteiligung. Und natürlich sind die Anzeigen genau auf die Zielgruppen der Zeitschriften zugeschnitten. Beim nüchternen „Focus“ buhlen VicampoWeine mit den für Kenner wichtigen Parker-Punkten um Aufmerksamkeit, die „Bunte“-Leserinnen goutieren eher Promi-Rieslinge von Angelina Jolie und Günther Jauch. „Die Anzeigen in der ‚Bunten‘ und im ‚Focus‘ verkaufen ähnlich gut“, sagt Graßmann. Ihm, dem Verleger, Strategen, Vermarkter und Händler in Personalunion, soll‘s recht sein. Andere Ideen, zum Beispiel für den „Focus“ wöchentlich vier externe FoodSeiten einzukaufen, hat er dagegen verworfen. Die Strategie dahinter war klar: „Hier sind die Steaks – und auf den Seiten danach präsentieren wir die passenden Grills dafür.“ Mit einem solchen Deal hätte Graßmann zwar sein Pensum für Burda News und BCN auf einen Streich erledigt, aber sein Gespür sagte nein. „Das ist ja genau das, was ‚Beef‘ macht.“ Nicht alle möglichen Verflechtungen müssen bis aufs Letzte ausgereizt werden. Dass der „Focus“ und Focus Online sehr getrennte Wege gehen, statt sich aneinander zu klammern, hat zum Beispiel auch sein Gutes, findet Graßmann. „Früher hätte ich mir da eine intensivere Beziehung gewünscht. Heute weiß ich, dass die Trennung der Geschäfte sinnvoll war.“ Während der „Focus“ sich müht, das seriöse Nachrichtenmagazin zu sein, in dem der Mittelschichtler die zu ihm passende Wein-Anzeige findet, herrscht bei Focus Online Haudrauf-Mentalität. Sogar die selbst nicht zimperliche „Bild“ hat sich

Graßmanns Lieblingsthema ist das Listen- und Siegelgeschäft des „Focus“. Er selbst hat via Ranking schon einmal einen Kniespezialisten gefunden schon über die umtriebigen Münchner beschwert, die Exklusiv-Infos hinter der Springer-Paywall herausfischen – und anschließend damit bei sich trommeln. Die Zahlen belegen: Die Leserschaft von „Focus“ und Focus Online überschneidet sich gerade einmal um zehn Prozent. „Focus Online ist wie eine boulevardeske Tageszeitung, das ist deren Unternehmensentscheidung. Hätten sie sagen sollen: Wir greifen den ‚Spiegel‘ an? Der Erfolg gibt ihnen Recht, Focus Online gewinnt jeden Schnelligkeitswettbewerb.“ Mit einer plumpen Verlängerung des Magazins ins Netz, glaubt Graßmann, „hätte ich keinen Erfolg gehabt.“ Ob er alles noch einmal genauso machen würde? Bei Burda: ja, ziemlich sicher. Nur wenn er noch einmal frisch das Abitur hätte: Dann würde Graßmann vermutlich einen eigenen Verlag gründen, noch vor dem BWL-Studium. „Ich sehe mich als Verleger“, sagt er und nickt so überzeugt, dass die Surfer-Mähne kurz den perfekten Sitz verliert. „Bei Burda habe ich das Glück, dass man den angestellten Unternehmer sucht.“ Ob er nicht doch lieber professioneller Händler geworden wäre, vielleicht auf dem Flohmarkt? Graßmann lacht. „Auf den gehe ich nur noch privat. Zum Einkaufen.“ turi2 edition #6 · Netze


In der Augmented-Reality-App zur „turi2 edition“ beantwortet Burkhard Graßmann den turi2-Fragebogen und verrät, wie er für sich selbst werben würde turi2.de/edition/grassmann


„Ich mache mir keine Sorgen, dass unsere Autos in 20 Jahren nur noch im Museum stehen“ Jörg Howe, PR-Chef von Daimler, spricht im Mercedes-Benz-Museum in Stuttgart über futuristische Fortbewegung und Medien im Zeitalter der Vernetzung Von Peter Turi und Sebastian Berger (Fotos)

Jörg Howe, als Kommunikationschef von Daimler arbeiten Sie an der Schnittstelle von Automobil- und Medienindustrie. Lassen Sie uns also darüber reden, wie die Digitalisierung beide Branchen verändert. Wir sprechen hier miteinander im Mercedes-BenzMuseum – wie passend. Ist das Auto, wie wir es kennen, reif fürs Museum? Nein. Ich bin mir aber sicher, dass viele unserer aktuellen Fahrzeuge hier irgendwann als Mercedes-Benz-Ikonen stehen werden. Die Automobilindustrie steht vor dem

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größten Wandel ihrer Geschichte. Der Veränderungsprozess wird kein Selbstläufer. Trotzdem mache ich mir keine Sorgen, dass unsere Autos in 20 Jahren nur noch im Museum stehen. Am Eingang des Museums, gleich bei den Aufzügen, steht ein Pferd – dazu der Spruch von Kaiser Wilhelm, er glaube an das Pferd, das Auto sei eine vorübergehende Erscheinung. Bekommt am Ende der alte Kaiser doch recht? Wieder nein. Wer oder was soll das Auto als Garant


Ich schau dir auf die Haube, Kleines: Jörg Howe, Baujahr 1957, streichelt liebevoll das Mercedes UhlenhauptCoupé, Baujahr 1956


„Es wird immer ein Objekt mit vier Rädern geben, das Menschen von A nach B bringt – vielleicht hat es irgendwann auch Flügel oder Rotorblätter“ individueller Mobilität ersetzen? Autos verändern sich. Aber es wird immer ein Objekt mit vier Rädern geben, das Menschen von A nach B bringt – und vielleicht hat es irgendwann nicht nur Räder, sondern auch Flügel oder Rotorblätter. Für uns als Unternehmen kommt es vor allem darauf an, nicht den entscheidenden Trend zu verpassen. Auch deswegen haben wir uns im letzten Jahr zum Beispiel an Volocopter beteiligt. Daimler will künftig fliegen? Wieso nicht? Schauen Sie mal nach oben: Da ist viel Platz und wenig los. Der Volocopter könnte eine attraktive Ergänzung für Transportbedürfnisse insbesondere in urbanen Räumen werden. Ich steige ins Taxi und überfliege die Staus? Tolle Vorstellung, oder? Was ist der Volocopter? Ein Fliegzeug im besten Wortsinn, oder nennen Sie es Großdrohne, automatisiert, eine tolle Erfindung. Warum hat sich Daimler beteiligt? Der Volocopter hat großes Zukunftspotential. Bei welchem Thema gehen Sie senkrecht in die Luft? Wenn Journalisten nicht mehr recherchieren, sondern nur noch Verlautbarungen übernehmen. Egal ob von NGOs, Parteien oder Unternehmen. Und das dann alles mit Zeitdruck rechtfertigen.

Würden Sie Ihren Problemen auch manchmal gern entfliegen? Nein, ich fahre lieber Boot. Ich liebe in den Niederlanden gebaute „Verdränger“. Daimler steht wegen der Dieselaffäre ziemlich in der Kritik. Zurecht? Die Autoindustrie als Ganzes hat Fehler gemacht. Aber oft werden Äpfel mit Birnen verglichen und der Dieselmotor mit Absicht verteufelt. Das ist falsch. Ich würde mir eine differenzierte Diskussion in der Öffentlichkeit wünschen, bei Medien, Politikern, NGOs und der Autoindustrie. Wir stehen hier bei meinem Lieblingsauto – einem argentinischen Bus aus den Siebzigern. Wenn man drin auf der Rückbank sitzt, fühlt man sich wie Dustin Hoffman in der Schlussszene von „Die Reifeprüfung“ – als er seine große Liebe von deren Hochzeit entführt und mit ihr vor den wütenden Eltern flüchtet. Ist es nicht ein Zeichen von Reife, den Bus zu nehmen? Ja, wenn man Busse mag. Dann aber vorzugsweise unseren Citaro-Stadtbus oder unsere Setra-Reisebusse. Verschwindet die selbstgesteuerte Benzinkutsche? Wir gehen davon aus, dass es in 100 Jahren keine benzingetriebenen Autos mehr auf dem Markt zu kaufen gibt. Wir sollten uns jetzt allerdings besser mit dem Zeitraum der nächsten 20 Jahren beschäftigen. Und da sage ich: Die selbstgesteuerte Benzinkutsche und übrigens auch die Dieselkutsche wird

einen großen Anteil am Autoabsatz ausmachen. Was wird mit dem Auto als Statussymbol? Als Potenzverstärker? Ich überlasse es Ihnen, die potenzverstärkende Wirkung unserer Autos zu testen. Als Statussymbol oder als Ausdruck eines bestimmten Lifestyles wird ein vollelektrischer und automatisierter Mercedes-Benz immer zu gebrauchen sein. Das kann ich versprechen. Als Fortbewegungsmittel versagt das Auto in unserer staugeplagten Gesellschaft immer mehr. In vielen Städten nervt das Autofahren mittlerweile, da gebe ich Ihnen recht. Wir müssen deshalb ein attraktives Gesamtpaket anbieten: Elektromobilität, autonomes oder automatisiertes Fahren, Konnektivität und CarSharing. Das liegt nicht in der fernen Zukunft. Nehmen Sie car2go in Stuttgart: Das ist jetzt schon vernetztes, elektrisches Car-Sharing – wenn noch die Option hinzukommt, autonom zu fahren, haben Sie das Paket. Danke für das Stichwort Stuttgart. Stuttgart ist ja die Stadt mit der höchsten Feinstaubbelastung der Republik. Das absurde System, dass viel zu viele Leute täglich alleine in viel zu großen, viel zu schweren, viel zu schmutzigen Autos im Stau stehen, ist doch eine riesige Vergeudung unserer wichtigsten Ressourcen – Lebenszeit, Rohstoffe, Gesundheit. Stuttgart ist zwar die letzte

„In vielen Städten nervt das Autofahren mittlerweile, da gebe ich Ihnen recht. Wir müssen deshalb ein attraktives Gesamtpaket anbieten“ 118

deutsche Großstadt, in der die Feinstaub-Grenzwerte im Jahr 2017 häufig überschritten wurden. Aber die Schadstoffbelastung der Luft ist auch hier in den vergangenen Jahren stetig gesunken. Das vergisst man manchmal. Wir arbeiten intensiv daran, dass sich diese Situation weiter verbessert. Was ist gewonnen, wenn wir im Stau stehend die Hände vom Lenkrad nehmen können? Sie können auf dem Weg zur Arbeit zum Beispiel dieses Interview im Auto lesen. Oder im Auto arbeiten. Oder ein Nickerchen machen. Die Autofahrer haben’s bequem und die Anwohner schlucken den Lärm und Gestank. Tolle Perspektive. Ich sage nur: Die Zukunft ist elektrisch, da ist die Perspektive ganz anders. Wie genau? Bis 2022 werden wir alle Mercedes-Benz PKW Baureihen elektrifizieren, ganz oder teilweise. Das hilft. Wann machen Sie Ernst beim Elektro-Antrieb? Seit vorgestern. Was kommt nach dem Auto? Der Beamer (lacht). Die Teleportation von Menschen, wie wir sie aus Raumschiff Enterprise kennen. Beam me up, ­Scotty. Das wäre eine Disruption, die Daimler den Garaus machen würde. Glück für Sie, dass sie nie kommen wird. Stimmt vielleicht, aber der Transporterraum hätte bestimmt einen Stern. Jetzt sind wir bei Ihrem Lieblingsauto angekommen – was macht die Faszination von Autos mit Patina aus? turi2 edition #6 · Netze


Ihre Geschichte, die Emotionen, die damit verbunden sind und ein Design, das sie unvergesslich macht. Trauen Sie sich mit so einem Anachronismus in den Straßenverkehr? Sofort! Man hört, dass manche ältere Herren, die mit solchen Autos OldtimerRallyes fahren, durchaus Probleme haben – weil ABS und andere Annehmlichkeiten fehlen. Kann sein. Wer mit einem

Oldtimer fährt, muss umsichtiger fahren als der normale Verkehrsteilnehmer. Bei Regen mit einem Flügeltürer auf der Mille Miglia gibt’s nur eins: das Auto wie ein rohes Ei behandeln. Nimmt die Faszination Auto ab? Für immer mehr junge Leute ist das Handy das wichtigste Statussymbol – und nicht mehr das eigene Auto. Das Auto ist ein faszinierendes Fortbewegungsmittel. Junge Leute benutzen es anders als wir beide vor 40 Jah-

ren, aber es bleibt attraktiv. Wir müssen natürlich an den Trends dranbleiben, die in Zukunft entscheidend sind. Dazu gehören die Digitalisierung und die Konnektivität. Auch wir gehen davon aus, dass es in Zukunft viele Menschen geben wird, die kein eigenes Auto mehr haben möchten. Diese Entwicklung dürfen wir natürlich nicht verpassen. Mancher kauft sein Auto nach dem Kriterium, ob es gut zu seinem Smartphone passt. Wird das Auto zur

rollendem Erweiterung des digitalen Equipments? Das ist es schon. Nehmen Sie unser neues MultimediaSystem MBUX in der neuen A-Klasse. Das verstehe sogar ich. Was kann die Autoindustrie tun, damit am Ende das Datensammeln im Auto und das Geschäft mit Standort-Daten nicht bei Google und Apple landet? Wir müssen dafür sorgen, dass unsere Kunden nur denen ihre Daten geben,

JÖRG HOWE ist 60 und seit Oktober 2008 PR-Chef von Daimler – obwohl er privat Porsche fährt. Der geborene Hamburger startete seine Karriere bei NDR und dpa, wurde Chefredakteur bei Sat.1 und erfand dort und beim MDR Boulevard-Sendungen wie „Blitz“ und „Brisant“. Bei Arcandor erlebte er als Kommunikationschef unter Thomas Middelhoff dunkle Stunden. Howe gilt als rauflustiger Kumpeltyp turi2 edition #6 · Netze

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Auto-Vervollständigung: In der Augmented-Reality-App zur „turi2 edition“ beantwortet Jörg Howe 18 Fragen in jeweils einem Halbsatz turi2.de/edition/howe

den sie vertrauen. Also uns. Und die Daten, die sie für sich behalten wollen, bleiben bei ihnen. Ist der gemeinsame Kartendienst Here ein Hoffnungsträger? Ja natürlich. Es ist ein großes Zukunftsprojekt, das uns unabhängig macht von den Daten der großen IT-Firmen aus den USA. Die Perspektiven sind sehr langfristig ausgerichtet und die Anteilseigner gehören zu den besten Namen aus der Automobilindustrie.

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Themenwechsel: Womit vertreiben sich die 200 Mitarbeiter Ihrer Pressestelle eigentlich die Zeit? Es sind über 300, mit 200 wäre der Job nicht zu machen. Schauen Sie sich die Entwicklungen der letzten Jahre an: Es wird immer schneller, komplexer, globaler, multimedialer – intern wie extern. Gleichzeitig sind unser Unternehmen und unsere Produktpalette stark gewachsen. Ich sage es mal so: Wir sind sehr effizient aufgestellt mit dem derzeitigen Team. Ich bin auch kein großer Fan von Outsourcing.

Bei uns wird noch sehr viel selbst gemacht – gerade auch Content. Früher haben Sie Anzeigen geschaltet und die Journalisten zu Testfahrten nach Portugal eingeladen. Jetzt fahren Sie Ihre Autos selbst und posten Videos auf YouTube und Instagram? Wir machen alle diese Dinge – unser Geschäftsmodell in der Kommunikation war in den letzten Jahren kein „Entweder oder“ sondern immer ein „Sowohl als auch“.

Warum hat Daimler den Ex-„stern“-Chefredakteur Dominik Wichmann geholt? Daimler hat ihn nicht geholt. Er hat eine eigene Firma, die Content für unser Marketing produziert. Warum haben Sie den Techblogger Sascha Pallenberg engagiert? Weil er ein guter Typ ist und das Geschäft versteht. Wie digital wird die Kommunikation von Daimler? Unsere Kommunikation ist bereits zu 99 Prozent digituri2 edition #6 · Netze


Unsere globale

Erfolgsgeschichte von Unternehmergeist und Kreativität Bertelsmann ist ein Medien-, Dienstleistungs- und Bildungsunternehmen, das in rund 50 Ländern der Welt aktiv ist. Zum Konzernverbund gehören die Fernsehgruppe RTL Group, die Buchverlagsgruppe Penguin Random House, der Zeitschriftenverlag Gruner + Jahr, das Musikunternehmen BMG, der Dienstleister Arvato, die Bertelsmann Printing Group, die Bertelsmann Education Group sowie das internationale Fonds-Netzwerk Bertelsmann Investments. Mit 119.000 Mitarbeitern erzielte das Unternehmen im Geschäftsjahr 2017 einen Umsatz von 17,2 Mrd. Euro. Bertelsmann steht für Unternehmergeist und Kreativität. Diese Kombination ermöglicht erstklassige Medienangebote und innovative Servicelösungen, die Kunden in aller Welt begeistern.


tal. Die Herausforderung ist, die richtigen Formate für die digitalen Kanäle zu finden. Marken werden zu Medien, Medien zu Marken – right or wrong? War das jemals anders? Aber ich möchte nicht mit einer Gegenfrage antworten. Also: Right! Was hat sich geändert im Mediengeschäft? Viel. Es ist schneller und oberflächlicher geworden. Auf allen Seiten. Gleichzeitig stehen insbesondere die Medienunternehmen unter einem hohen Effizienzdruck. Das hat die Sorgfalt bei Recherchen nicht gerade erhöht. Beispiel? Der Artikel ist schon fertig geschrieben und dann bekommen wir zur Rechtfertigung noch zwölf Fragen, die bis zum nächsten Morgen beantwortet werden müssen. Wie reagieren Sie dann? Mit Gleichmut oder werden Sie giftig? Ich nehme übel – langfristig. Sind Journalisten unwichtiger geworden? Nein. Im Gegenteil: Journalismus – und damit verbinde ich immer noch einen gewissen Qualitätsstandard – ist wichtiger denn je. Droht dieser Qualitätsstandard denn verloren zu gehen? Ja. Welche Zukunft haben Printmedien? Ich denke, dass reine Printmedien weiter an Bedeutung verlieren. Das heißt aber nicht, dass sich dort nicht produktiv und profitabel arbeiten ließe. Auch Daimler gibt immer weniger Geld für Printwerbung aus – zerstören

Einblick ins Innere des Mercedes Benz 300 SL Roadster und mehr bietet das Mercedes-Benz-Museum in Stuttgart-Untertürkheim. mercedes-benz.de/museum

Sie damit den gedruckten Qualitätsjournalismus? Ich kenne die genauen Zahlen nicht. Ich weiß nur, dass unsere Werbebudgets in den letzten Jahren garantiert nicht geschrumpft sind. Für Printwerbung schon. Wie gesagt: Das ist nicht mein Geschäft und ich kenne die genauen Zahlen nicht. Ich denke, wir werben da, wo wir relevante Zielgruppen erreichen – egal, ob Print oder Online. Blutet Ihnen das Herz, wenn Sie den Niedergang vieler Printmedien sehen? Es gibt fantastische OnlineAngebote, die mir über diesen Schmerz hinweghelfen. Aber mir blutet in der Tat das Herz, wenn Kolleginnen und Kollegen im Journalismus ihren Job verlieren oder trotz harter Arbeit kaum über die Runden kommen. Was lesen Sie online? Eigentlich alles. Das fängt bei

bild.de an und hört bei BBC World News auf. Kein schlechtes Gewissen, wenn Sie Geld in FakeNews-Medien wie Facebook und YouTube leiten? Die sozialen Medien pauschal als Fake-News-Medien zu bezeichnen, so wie Sie es gerade getan haben, ist falsch. Wir müssen alle verantwortlich mit Medien umgehen. Die Social-MediaPlattformen selbst haben das größte Interesse daran, ernst genommen zu werden – sonst gefährden sie ihr Geschäftsmodell, das zum größten Teil auf Werbeanzeigen von Firmen beruht. Am wichtigsten ist es, die User für Fake News zu sensibilisieren. Am besten schon in der Schule. Es gibt Leute, die glauben, dass Jörg Howe und andere Ex-Journalisten bei großen Unternehmen Newsrooms aufbauen, um weiter Journalist spielen zu können.

„Unsere Kommunikation ist bereits zu 99% digital. Die Herausforderung ist, die richtigen Formate zu finden“ 122

Wie weit sind Sie mit Ihrem Newsroom? Wir haben schon längst einen Newsroom: ein Team, das unsere Kanäle mit eigenem Content bespielt. Und ja: Mir macht das Spaß und ich sehe mich da als journalistischen Dienstleister. Wir werden das in den nächsten Jahren noch verstärken. Wo und wie? In meiner unmittelbaren Nähe, ein schneller Zugriff ist mir sehr wichtig. Dabei entwickeln wir den Newsroom konsequent weiter. Sie sind ehemaliger Boulevard- und TVJournalist und gelten als Newsjunkie. Wann bleibt Ihr Handy aus? Nie. Nein, das stimmt nicht: im Flieger. Fehlt Ihnen was, wenn Sie im Urlaub das Handy mal aus den Augen lassen? Das mache ich nicht. Sind Sie im Herzen Journalist geblieben? Jo.

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Zwanzig Netzwerker 11.) Elke Schneiderbanger

„Ich wollte immer mal die Showtreppe runter. Die Bühne hat etwas Erotisches“ Elke Schneiderbanger spinnt das Werbenetz der ARD – und kümmert sich dabei um Jalousien und Politiker Von Tatjana Kerschbaumer und Daniela Hillbricht (Foto)

S

eit kurzem hat Elke Schneiderbanger ein Faible für Jalousien. Nicht, dass sie welche bräuchte. Aber die Chefin der ARD-Werbung, kurz AS&S, war neulich bei einem Kunden, der seine Rollos gerne gut platziert im Fernsehen wissen möchte. „Das war großartig! Der hat mir die ganzen unterschiedlichen Systeme erklärt, total spannend!“ Andere Werbezeit-Verkäufer wären bei der ausführlichen Präsentation von Seit- und Mittelzügen im Stehen eingeschlafen, Schneiderbanger dagegen wurde zur Jalousie-Expertin. „Ich glaube, ich bin die einzige, die sich wirklich für die Produkte interessiert.“ Genau genommen ist Schneiderbangers Stippvisite beim Jalousien-Hersteller hoher Besuch. Immerhin verkauft sie mit ihrem etwa 120-MitarbeiterTeam die gesamte Werbezeit der öffentlich-rechtlichen TV- und Radiosender sowie die Werbeblöcke einiger privater Radiostationen. Rund 400 Millionen Euro jährlich erwirtschaften alleine die TV- und Radiospots der ARD. Aber Schneiderbangers Herz, es hängt nun mal am Mittelstand, und damit auch an Jalousien. Kein Wunder, ihre Eltern hatten ein Möbelgeschäft im oberfränkischen Breitengüßbach, sie kennt sich aus mit kleineren Betrieben. Wenn Zeit ist, fährt Schneiderbanger am liebsten selbst zu diesen Kunden und knüpft vor Ort die Werbe-Bänder, was den anderen Verkäufern nicht immer ganz recht ist. „Verständlich, die geben eher ungern ihre Kontakte aus der Hand“,

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sagt sie. Vielleicht, aber das ist nur eine Vermutung, ist ihnen auch ein bisschen unwohl vor einem gemeinsamen Termin mit der Chefin. Denn Schneiderbanger, 59, ist eine beeindruckende Erscheinung. Perfekt frisiert, schick angezogen und mit so wenig Blättern vorm Mund, dass mit ihr Handwerker und Kreativdirektoren gleichzeitig warm werden können. Dabei verläuft ihr Start in die Medienbranche eher schüchtern. Schneiderbanger, dem Breitengüßbacher Möbelhaus treu verbunden, studiert Innenarchitektur, bis sie merkt, dass das mit der räumlichen Geometrie nicht so klappt. Sie bricht das Studium ab und überlegt, worin sie sonst immer gut gewesen war. Deutsch! 40, 50 Bewerbungen bei fränkischen Zeitungen später ist immer noch keine Stelle in Sicht, bis ihre Mutter sie zur Redaktion des „Obermain-Tagblatt“ in Lichtenfels schickt. Dort gibt es ein Volo, und Schneiderbanger lernt alles, was man im Lokalen halt so lernt: „Ich habe vor allem Artikel von pensionierten Lehrern redigiert.“ Irgendwo zu Hause, das weiß sie, „hab‘ ich auch noch einen Dreispalter über das Einkochen.“ Dass sie damals nicht den Mumm hatte, sich gleich beim „Spiegel“ oder der „Zeit“ zu bewerben, ärgert sie bis heute. „Dann wäre ich dort vielleicht Verlagsleiterin!“ Mit dem Aufstieg des Privatfunks kommt der Wechsel zum Radio. Neue Welle Bamberg, Radio Charivari, Anten-

ne Bayern – Schneiderbanger moderiert alles weg, was ihr vors Mikro kommt. Und scheut sich auch nicht, einer kabarettistisch angelegten, fränkischen Putzfrau ihren Dialekt zu leihen. Heute bemerkt man den kaum noch, unzähligen Stunden Sprechtraining geschuldet. „Ha, da hätten Sie mich mal letztes Wochenende hören sollen!“ Schneiderbangers Neffe feierte seinen zwanzigsten Geburtstag in Franken – zu solchen Gelegenheiten wird der Dialekt wieder ausgepackt. Aber natürlich musste er zuerst einmal weg, denn „ich wollte immer mal die Showtreppe runter. Die Bühne hat etwas Erotisches“, sagt Schneiderbanger und lacht. Ab 1990 moderiert sie Shows für den Bayerischen Rundfunk, für Sat.1 und das ZDF. Schneiderbanger, von Haus aus mit gesundem Ehrgeiz gesegnet, verabschiedet sich aber schnell von dem Gedanken, mediale Begeisterung sei vor allem ihrer Person geschuldet. „Beim ZDF kam ich mal auf die Bühne und alle riefen ‚Elke, Elke!‘ – Später habe ich erfahren, dass die Zuschauer 20 Mark dafür bekommen hatten.“ Außerdem, es ist nun einmal so, hat das TV-Geschäft auch seine oberflächlichen Seiten. „Mich hat die Maske schon mit 35 gefragt, wie lange ich das noch machen will.“ Ziemlich unfair, wenn man bedenkt, dass Schneiderbanger sehr auf sich achtet. Gerade macht sie die 16-Stunden-Diät, was bedeutet: 16 Stunden lang nichts essen, danach ist alles erlaubt, auch turi2 edition #6 · Netze


ELKE SCHNEIDERBANGER ist Jahrgang 1959 und leitet seit 2010 die ARD Sales & Services GmbH, kurz AS&S. Sie begann ihre Karriere klassisch mit einem Print-Volo beim „Obermain-Tagblatt“, bevor sie zum Radio wechselte: Es folgten Stationen als Redaktionsleiterin bei Radio Charivari sowie bei Antenne Bayern, wo Schneiderbanger Chefredakteurin und stellvertretende Programmdirektorin war. Zwischen 1990 und 1996 arbeitete sie zusätzlich als TV-Moderatorin. Von 1996 bis 2009 war sie Geschäftsführerin und Programmdirektorin bei Radio NRW in Oberhausen

Sauerbraten in der Kantine. Zusätzlich trainiert sie bei Bodystreet, einem Fitness-Studio, das einen während des Workouts zusätzlich unter Strom setzt. Trotzdem denkt sie schon früh daran, sich eher auf die Verwaltungs- und Vermarktungsseite zu schlagen. „Ich hatte ja schon beim Radio Personal- und Programmverantwortung, und ich kann gut mit Zahlen.“ Also wechselt Schneiderbanger als Geschäftsführerin und Programmdirektorin zu Radio NRW in Oberhausen. Schöne Zeit, keine Frage – „aber wenn du erstmal in Oberhausen sitzt, lädt dich keiner mehr zu den großen Branchen-Events ein.“ Doof. Denn Elke Schneiderbanger sagt von sich selbst, sie habe „keine Scheu, Leute zu treffen“. Ihr Kontaktnetz ist sogar auf Abendveranstaltungen stringent durchorganisiert; sie weiß genau, zu wem sie will; wem sie vielleicht mal wieder auf die Schulter klopfen oder Hallo sagen sollte. Früher war das noch extremer, da stand das Vergnügen und das Sekt-Trinken irgendwo auf Stufe zweiundreißig – es ging um Austausch, Austausch, Austausch. „Ich habe immer einen Plan“ – und der ist dank Kontaktpflege gut aufgegangen: Als sie im Juni 2010 die Geschäftsführung der ARD-Werbung übernahm, startete sie erst einmal zu einer Intendanten-Besuchstour durch sämtliche Sender. Ihr Pressechef Norbert Rüdell formuliert das so: „Sie ist keine, die erstmal den Schreibtisch sortiert.“ turi2 edition #6 · Netze

Jetzt ist Schneiderbanger also unterwegs und reist vom Jalousien-Hersteller bis in diverse Staatskanzleien, etwa, wenn Politiker wieder einmal meinen, die Werbezeit der öffentlich-rechtlichen Programme müsse beschränkt werden. „Ich bin für die Rettung der Werbung zuständig“, sagt sie und nickt entschlossen. Nicht einfach in Zeiten, in denen auch etliche Werbeagenturen Kunden raten, nicht bei der ARD zu buchen, weil die zu teuer sei. Schneiderbanger arbeitet dem reisend entgegen, und zwar so oft, dass ihr Büro auf dem Gelände des Hessischen Rundfunks in Frankfurt am Main schon einmal verwaist sein kann. Würde sie ausnahmsweise für sich selbst werben, dann mit einem Spruch, der an den alten Slogan des Frankenbrunnen-Kastens erinnert: „Schnell wieder da, schnell wieder weg.“ Aber bitte nur persönlich. Es gibt zwar eine Elke Schneiderbanger auf Facebook, doch das ist eine Namensvetterin. Auch Twitter nutzt sie nicht. Das einzige, was sie sich zugelegt hat, ist Whatsapp – um in der Familiengruppe auf dem Laufenden zu bleiben, „sonst kriegt man ja gar nichts mehr mit.“ Es ist nicht so, dass sie Social Media für unwichtig hält, aber ihr graut davor, diese Kanäle regelmäßig bespielen zu müssen. Vielleicht würde sie arrogant wirken, wenn sie Freundschaftsanfragen nicht annimmt? Oder auf Tweets nicht reagiert? Nein, wenn es sein muss, bleibt Schneiderbanger lieber beim gu-

ten, altmodischen Treffen – oder Telefonat. Die Tatsache, dass Vermarkter bei ihren journalistischen Kollegen nicht immer beliebt sind, ist ihr bewusst. Ihre effektive Waffe dagegen: den Hörer in die Hand nehmen. Klar kommt es vor, dass ein Sender unbedingt eine bestimmte Werbung bei sich sehen will. Dass die Sportschau in ihren Pausen möglichst familienfreundliche Spots senden möchte. Wenn irgendjemandem im Verbund werbetechnisch der Schuh drückt, ruft Schneiderbanger an. Es hilft ihr zwar, dass bei der ARD alles in einem System gebündelt ist und am Ende zwingend ein Konsens folgen muss. Trotzdem versucht sie, auch auf Befindlichkeiten Rücksicht zu nehmen. Bei der ARD schalten jährlich mehrere Tausend Kunden TV- und Radiospots, sie lassen sich also auch geschickt über das ganze Netz verteilen. „In einer Agentur für gesunden Menschenverstand“, da ist sich Schneiderbanger sicher, „wäre ich der ideale Geschäftsführer.“ Nur wenn sie wieder einmal zur Rettung der Werbung unterwegs ist und irgendwo in der Fremde übernachten muss, siegt manchmal ihre blühende Fantasie über den Menschenverstand. Schneiderbanger liest wie ein Staubsauger, Stephen King ist einer ihrer Lieblinge, „Shining“ und die Verfilmung von Stanley Kubrick findet sie großartig. Mit Folgen: „Wenn ich im Hotel bin, erwarte ich heute noch, dass Blut aus dem Aufzug fließt“.

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Zwanzig Netzwerker 12.) Axel Wallrabenstein

Seit 15 Jahren hat er keinen Tag ohne Handy verbracht. Geht auch schlecht – bei 26 Mails in 45 Minuten

Wenn Google das Leistungsschutzrecht verhindern will und Coca Cola mit der Zuckersteuer hadert, engagieren sie den Berliner Netzwerker und Polit-Profi Axel Wallrabenstein Von Tatjana Kerschbaumer und Holger Talinski (Fotos)

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eden, nein, Reden hält Axel Wallrabenstein gar nicht gerne. „Vor großem Publikum bekomme ich immer Schweißausbrüche“, sagt er. „Das versuche ich zu vermeiden. Meine Profession ist das Flüstern“. Wallrabenstein, 54, imposanter, grau-melierter Bart, Turnschuhe zum Anzug, sieht gar nicht so schüchtern aus, wie er auf Bühnen angeblich ist. Er ist Chairman der PR-Agentur MSL Germany, die vor allem im Bereich Public Affairs arbeitet. In den Medien taucht er abwechselnd als „Politikberater“, „Politikstratege“ oder „Lobbyist“ auf, turi2 edition #6 · Netze

und nichts davon trifft ihn seiner Meinung nach richtig. „Netzwerker passt eigentlich ganz gut“, sagt er, als er sich setzt und misstrauisch auf die Thermoskanne in der Mitte des Konferenztischs späht. „Dieser Kannenkaffee...“ Kurze Zeit später bringt eine Assistentin Espresso, klein und schwarz. Schwarz – das ist die Farbe, mit der die meisten Personen Wallrabenstein verbinden. Dabei wäre er Müllmann im rheinland-pfälzischen Niederneisen geworden, hätte er auf seinen Vater gehört. Der Rat des Vaters – „Geh‘ zur Müllabfuhr, da hast du was Sicheres“ – war aber nicht nach Wallrabensteins

Geschmack. Auch für eine Bankkaufmannslehre oder ähnlich gutbürgerliche Berufe, die seine Eltern gern gesehen hätten, konnte er sich nicht recht erwärmen. Stattdessen studierte er Politik- und Sozialwissenschaft, saß schon mit Anfang 20 für die CDU im Gemeinderat seines Heimatorts, es folgte Kreisrat, Anfang der 90er eine Stelle als Pressesprecher bei Heinz Eggert, dem CDU-Innenminister von Sachsen. Als der über eine Affäre und aus dem Amt stolperte, schrieb Wallrabenstein ein dreiviertel Jahr Reden für den sächsischen Ministerpräsidenten Kurt Biedenkopf.

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„Früher bin ich auf jede Katzenkirmes gegangen. Heute suche ich mir meine Termine sorgfältiger aus“ Das kam eher einer Degradierung gleich. „Eigentlich wollte ich Staatssekretär und Regierungssprecher in Sachsen werden“, erinnert sich Wallrabenstein. Als Redenschreiber war erstmal der Dienstwagen weg, den er vorher nutzen konnte; eine Tatsache, die ihn heute nicht mehr so stören würde wie damals. Wallrabenstein ist stolz darauf, seit Jahrzehnten fast alles mit dem Rad zu erledigen. Eigentlich war es gar nicht so schlecht, dass es mit dem Posten des Staatssekretärs nicht geklappt hat. In dieser Funktion hätte Wallrabenstein nämlich doch die ein oder andere Rede halten müssen. Stattdessen fing Wallrabenstein 1999 „als PR-Fuzzi“ in der Werbeagentur Publicis Berlin an, machte Wahlkampf für den Regierenden Bürgermeister Eberhard Diepgen. Bis heute ist er bei Publicis geblieben – nur die Visitenkarten haben gewechselt: Mit Wallrabenstein wuchs das Geschäft auf mittlerweile rund 80 Mitarbeiter, viele davon im Feld Public Affairs. 2011 ging Wallrabensteins Bereich in MSL auf, der weltweiten PR-Sparte der Publicis Gruppe. Seitdem ist Wallrabenstein Chairman der MSL Germany. Große Auftritte mit viel Text hat Wallrabenstein jetzt nur noch, wenn er um einen Kunden pitcht. Wesentlich wohler fühlt er sich hinter den Kulissen, im Vieroder Sechs-Augen-Gespräch. Und Wallrabenstein spricht und flüstert mit so einigen. Zu seinen bekanntesten Kunden gehören heute Google, Coca Cola, der Pharmakonzern Sanofi. Alles Player, die gern Einfluss auf die deutsche Politik nehmen würden – oder

AXEL WALLRABENSTEIN wird in den Medien wahlweise „Politikberater“, „Stratege“ oder „Lobbyist“ genannt. Richtig ist: Wallrabenstein ist Chairman der MSL Group Germany und berät dort Kunden wie Google und Sanofi. Früher war er aktiv in der Politik engagiert – etwa als Geschäftsführer der Jungen Union. Politik kann er sich auch für die Zukunft vorstellen: Er will für den Bundestag kandidieren 128

zumindest hoffen, dass Bundestag und Bundesrat nicht gegen sie regieren. Google drückt beim Leistungsschutzrecht der Schuh, Coca Cola hält nicht gerade viel von einer Zuckersteuer, Sanofi muss wissen, was bestimmte Gesetzesentwürfe für seine Medikamente bedeuten könnten. Und während sein Team Memos vorbereitet und je nach Wunsch auch den Twitter-Kanal des Kunden betreut, flüstert im Hintergrund Wallrabenstein. Naja – direkt beim Flüstern wurde er noch nicht gesehen. Er händelt das eher, indem er anruft, auf Empfänge und Parties geht, auf Veranstaltungen die richtigen Ohren findet. „In vielen Situationen sind eher der Büroleiter oder die Referenten wichtig“, sagt er. „Nicht der Staatssekretär“. Noch ein guter Grund, keiner geworden zu sein. Seine Kontakte, sagt Wallrabenstein, sind mit der Zeit organisch gewachsen. Wer sich seit mehr als 30 Jahren im Politikbetrieb herumtreibt, kennt so einige Personen. Außerdem war Wallrabenstein von 1990 bis 1994 Geschäftsführer der Jungen Union - viele Politiker kennt er noch von damals, und sie kennen ihn: Oettinger, Söder, Gröhe – „das ist sicher kein Nachteil“, sagt er. Mit Jens Spahn und Peter Tauber ist Wallrabenstein befreundet. Manchmal legt er „eine Brücke“, wenn sich ein paar CDU-Politiker wegen einer Meinungsverschiedenheit verkracht haben. Und Wallrabenstein kennt auch ein paar Details, bei denen sich die Mehrheit der Deutschen erst einmal die Augen ­wischen müsste. „Dass Markus Söder und Claudia Roth gut miteinander können, würden sich auch die wenigsten denken, oder?“, Wallrabenstein lächelt in seinen Bart. Rein menschlich gesehen natürlich – bei den politischen Ansichten beharken sich CSU und Grüne bekanntermaßen leidenschaftlich. Würde Wallrabenstein jede Einladung annehmen, die in sein Postfach flattert, würden ihn seine Wohnungen in der Berliner Torstraße und in Barcelona kaum noch zu sehen bekommen. „Früher bin ich auf jede Katzenkirmes gegangen“, gibt er zu. Heute sucht er sich seine Termine genauer aus und taucht nur noch an etwa drei Abenden der Woche auf Gesellschaften auf. Das klappt ganz gut, nur sein Kühlschrank bereitet ihm manchmal Sorgen. „Wenn ich zu viel einkaufe, vergammelt es daheim“. Das muss nicht sein, findet

er – Wallrabenstein, Vater Bierbrauer, Mutter Sekretärin einer Holzfabrik, kommt aus geerdeten Verhältnissen. Daran kratzt auch keine Bundespolitik und kein Empfang. Die Sache mit den Einladungen reguliert sich manchmal aber auch ganz von allein. Wer so nah an der Macht und mit Mächtigen arbeitet, macht sich nicht nur Freunde. „Früher war ich immer bei Bertelsmann eingeladen – und bei Springer“, Räuspern. Seit dem Hickhack ums Leistungsschutzrecht, bei dem Wallrabenstein sich für Google stark machte, scheint sein Name von den Gästelisten beider Medienkonzerne verschwunden zu sein. Er könnte vermutlich schon hingehen, wenn er unbedingt wollte. Kurzes Achselzucken, so unbedingt will er dann doch nicht. Sein Netz ist groß genug. Dabei legt Wallrabenstein es nicht darauf an, sich mit jemandem zu überwerfen. Zumindest, was die Politik betrifft. „Public Affairs ist ein Personengeschäft. Da muss ich Politiker mögen und gerne mit ihnen sprechen“. Ein anderes Stichwort ist Pflege, Kontaktpflege um genau zu sein. „Man darf nicht die Erwartung haben, dass einem Leute helfen, die man vor 20 Jahren getroffen hat“. Bei 4.500 iPhone-Kontakten fällt das tägliche Striegeln der Datenliste zwar eher kurz aus, aber immerhin: 200 Nummern benutzt er regelmäßig, sagt Wallrabenstein. Ob es auf Flüsterpost hinausläuft, bleibt sein Geheimnis. Kann jemand, der sein Leben lang netzwerkt, irgendwann wieder damit aufhören? Zum Beispiel, wenn es irgendwann einmal auf die Rente zugeht? Wallrabenstein behauptet stolz von sich, seit 15 Jahren keinen Tag ohne Handy verbracht zu haben. Geht auch schlecht – allein in 45 Minuten sind satte 26 Mails eingetrudelt. Manchmal sieht er aber auch Leute vom eigenen Schlag, alte Politikberater, einstige PR-Größen, die immer noch auf jedem Empfang herumstehen, die nicht loslassen können. „Es gibt Kollegen, die sind wie alte Zirkuspferde“, sagt er. Er selbst will nicht für immer in der Manege bleiben. Nur so eine Kandidatur für den Bundestag, ja, die könnte er sich noch vorstellen, vielleicht kurz vor dem Ruhestand. Nicht einfach, das Ganze – er bräuchte erst einmal einen Wahlkreis, und dann auch noch jemanden, der ihn wählt. Gelingt der Plan, müsste er vielleicht doch ein paar von den Reden halten, vor denen es ihm so graut. Wallrabenstein ist da ziemlich nüchtern, das Planen ging in Sachen Staatssekretär ja schließlich schon einmal schief. Und dann, ganz knapp: „Bei uns in der Familie wird außerdem früh gestorben“. turi2 edition #6 · Netze


3 Tipps

zum Netzwerken von Axel Wallrabenstein 1. Nicht auf jede Veranstaltung rennen, sondern besser alte Kontakte pflegen. 2. Über den Tellerrand blicken. Nicht nur den Politikbetrieb im Auge haben, sondern auch Digital- und Kulturveranstaltungen. 3. Social Media nutzen, um Kontakte zu vertiefen oder neue Leute kennen zu lernen. Twitter ist extrem hilfreich mein Twitter-Handle: @walli5

In der Augmented-Reality-App zur „turi2 edition“ flüstert Axel Wallrabenstein in einer Galerie turi2.de/edition/wallrabenstein turi2 edition #6 · Netze

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Zwanzig Netzwerker 13.) Thomas Düffert

Netzarbeiten jenseits von Hannover Ärmel hoch, Krawatte weg: Thomas Düffert steht im blauen Hemd im kalten Wind des Wandels. Das Zeitungshaus Madsack hat er zum 125. Geburtstag komplett umgebaut Von Peter Turi und Oliver Reetz (Foto)


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ie Führungskräfte von Madsack staunen nicht schlecht, als Thomas Düffert bei ihrer Klausur-Tagung 2017 ein Chart an die Wand wirft, das die blendende Stimmung erheblich trübt. Seit 2013, dem Jahr von Düfferts Dienstantritt als Vorsitzender der Geschäftsführung, ist der Gewinn der Mediengruppe Madsack Jahr für Jahr gestiegen – von 53,5 über 56,7 bis auf 65,7 Millionen Euro. Doch ab 2018 soll’s bergab gehen, so die Zeichen an der Wand. Allerdings sind die Schreckenszahlen mit einer Fußnote versehen: „Prognose ohne weitere Maßnahmen.“ Dass nichts passiert, wo Thomas Düffert wirkt, ist allerdings nicht zu erwarten. Und was zu tun ist, damit der Gewinn der Gruppe weiter wächst, steht dann doch auf dem Chart: „Wachstum in der Region, Digital, Konsolidierung, Post, weitere Kosteneinsparungen.“ Unters Bild hat Düffert seine trockene Conclusio geschrieben: „Gute Ausgangslage, aber wir brauchen Wachstum.“ Ein Teilnehmer der Tagung fasst zusammen: „Düffert will das schmale Zeitfenster nutzen, das die schwindenden Printumsätze bieten, um neue Geschäfte aufzubauen, die der Gruppe das Überleben sichern.“ Die Strategie von Düffert, dem großen Mann von 50 mit grauen Strähnen und sonorer Stimme, steht auf zwei Beinen: sparen und expandieren. Düffert will aus Madsack, dem regionalen Zeitungshaus, Deutschlands stärksten Verbund von regionalen Medien machen. Schon jetzt beziehen mehr als 40 Tageszeitungen, darunter 15 Madsackeigene, überregionale Politik-, Wirtschafts- und Sport-News aus Hannover. Zeitungsmann Düffert ist überzeugter Netzwerker. Die Zeiten, in denen der kürzeste Witz „Einigen sich zwei Verleger“ lautete, sollen vorbei sein. Das autonome, ja autistische Vor-sichhin-arbeiten einer Regionalzeitung nach dem Motto „Wir sind King of Kotelett in Pusemuckel“ ist nicht sein Ding. „Wir arbeiten vernetzt“, lautet einer von zehn Punkten in dem von Düffert mitformulierten „Selbstverständnis“ der Madsack-Gruppe. „Wir betreiben das soziale Netzwerk der Regionen“ ein anderer. Die Madsack-Zeitungen sollen

vor Ort „eine handlungsfähige und einflussreiche Community“ konstituieren. Düffert ist zielstrebig, denkt konsequent vernetzt und weiß Widerstände zu brechen. Die Chancen, dass er Erfolg haben wird, sind hoch. Er setzt nicht auf blindes Sparen, sondern auf nützliche Verbindungen. Dabei schreckt er nicht vor unpopulären Maßnahmen zurück. Die Druckerei in Hannover hat er geschlossen, viele dezentrale OnlineRedaktionen beschnitten. „Wir sind Konsolidierer“ lautet unmissverständlich ein weiterer der zehn Selbstverständis-Punkte von Madsack. „Senkung der Kosten und Steigerung der Qualität“ seien kein Widerspruch. Den Spruch von Verlagsberater Jeff Jarvis „Do what you do best and link to the rest“, übersetzt Düffert frei mit „Konzentriere dich auf das, was du am besten kannst – und nutze dein Netzwerk für den Rest.“ Gehören zur neuen Kernkompetenz Ticketverkauf, OnlineWerbung, Suchmaschinenoptimierung, Bewegtbild, Corporate Publishing und Postzustellung? Vielleicht. Düffert probiert es mit neuen Tochterfirmen aus und betreibt „mutige Diversifikation“. Kern bleibt die Zeitung und ihre Werte. Der gelernte Bankkaufmann und diplomierte Betriebswirt Düffert nimmt Geld in die Hand, wo er Zukunft und Netzwerk-Effekte sieht: RND, das Redaktionsnetzwerk Deutschland, das mit 700.000 Abonnenten mehr Leser versorgt als „FAZ“ und „Süddeutsche“ zusammen, ist sichtbarer Ausdruck dieser Strategie. 2014 hat Düffert alle zentralen Ressorts in den Newsrooms in Hannover und Berlin zusammengezogen. Anfang 2018 verkündet er, 70 Redakteure und Technik-Spezialisten für die zentrale Website rnd-news.de zu suchen. Die Stärke der eigenen Regionalzeitungen soll im Internet bald deutlicher zu sehen sein. Düffert hat Wolfgang Büchner geholt, den Ex-Chefredakteur von dpa und „Spiegel“, und Rüdiger Ditz, den Ex-Chef von Spiegel Online. Mit ihnen will er eine „Digitaloffensive“ starten. Büchner darf sich „Chief Content Officer“ nennen, einen „Digital Hub“ als „digitalen Kreativpool“ aufbauen. Und unter rnd-news.de seinem Ex-Arbeitgeber „Spiegel“ wenigstens ein

bisschen Konkurrenz machen. Düffert nennt das Ganze nebulös „digitalen Transformations-Journalismus“. Beim Besuch von turi2 in der AugustMadsack-Straße 1 in Hannover springt Düffert schon nach der zweiten Frage auf, greift einen Ordner neben seinem Schreibtisch und sagt: „Es ist alles so gekommen, wie ich es 2013 aufgeschrieben habe.“ Die Agenda „Madsack 2018“ sah die Zentralisierung von Servicebereichen und eine Zentralredaktion vor. Düffert wollte Kosten sparen und „überregionale Inhalte in einer besseren Qualität liefern“. Und: steigende Gewinne schreiben. Kein Zweifel: Der Mann hat einen Plan. Es ist kein schlechter. Rolf-Dieter Lafrenz, Verlagsberater und so etwas wie der Roland Berger der Branche, kommt regelrecht ins Schwärmen, wenn er über Düffert spricht: „In einer Branche, in der jeder alles besser weiß, hat Thomas Düffert sich nie beirren lassen.“ Er habe „aus seiner Zeitungsgruppe ein modernes Netzwerk geschaffen. Die Aufgaben werden immer dort erbracht, wo es am besten ist. Marktbearbeitung vor Ort, Prozesse und Technologie zentral. So funktionieren moderne Organisationen heute. Düffert ist der erste Manager, der diese Idee in einer regionalen Mediengruppe konsequent umgesetzt hat.“ Früher führte ein Geschäftsführer seinen Regionalverlag wie ein lokaler Fürst. Aber Fürstentümer sind nicht mehr zeitgemäß. Chefredakteure von Regionalzeitungen bilden sich viel ein auf ihre Kommentare zur Weltlage – unter Düffert müssen sie ihre Energie auf die Region konzentrieren und „nur das machen, was vor Ort wichtig ist“. Logistik, Vermarktung, Print- und Online-Services – Düffert zentralisiert, wo er kann. Er setzt auf „Wandel“, auch wenn der „schmerzhaft und mühsam“ ist. „Nostalgische Erinnerungen an das Paradies“ mag er nicht. Auch Widerstand lässt ihn nicht schwanken: Die Gewerkschaft schreit sowieso, wenn eine Druckerei geschlossen oder eine Redaktion beschnitten wird. Und dann sagt Düffert: „Unsichere und harte Zeiten sind oft erst in der Rückschau cool.“ Stimmt aus seiner Perspektive. Der entlassene DruckereiMitarbeiter wird es anders sehen.

THOMAS DÜFFERT startete seine Karriere als Diplom-Betriebswirt 1996 bei Gruner + Jahr im Zeitungsbereich. Über die Zwischenstation Dresdner Druck- und Verlagshaus kam er 2010 als Vize zu Madsack. 2013 übernahm er die Verantwortung und startete die Initiative für „Madsack 2018“ - das Jahr des 125-jährigen Bestehens. Seit 2016 ist Düffert Vizepräsident beim Zeitungsverlegerverband BDZV. Seine Freizeit verbringt der geborene Holsteiner lieber auf dem Tennisplatz oder im Fußballstadion als auf der Operngala. Unter @ ThomasDueffert twittert der Chef selbst turi2 edition #6 · Netze

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ein Selbstversuch beginnt, bevor ich es weiß. Mittwochabend, es regnet, ich backe Kuchen. Ich habe einen klebrigen Teil zusammengerührt, Mehl, Eier, Milch, Vanilleextrakt, Kakaopulver. Als nächstes: Zucker. Verdammt. Kein Zucker im Vorratsschrank, außer einem letzten Rest Honig kein Süßungsmittel im Haus. Während ich „Backen ohne Zucker“ google und langsam einsehe, dass ich wohl durch den Regen kurz vor Ladenschluss zum Supermarkt hetzen muss, klingelt es. Vor der Tür steht Frau P. von oben. Ich glaube zumindest, dass es Frau P. ist, es könnte auch Frau E. oder Frau T. sein. „Guten Tag, mein Name ist G.“, sagt Frau P., „ich wohne ein Stockwerk über Ihnen. Ich war gerade am Backen und habe bemerkt, dass ich keine Eier da habe. Hätten Sie vielleicht...?“ Frau G. hat Zucker, ich habe Eier, es ist ein Match made in heaven. Als mein Kuchen fertig ist, lege ich ein paar Stücke auf einen Teller und trage ihn nach oben. Frau G.s Kekse kommen gerade aus dem Ofen. Wir trinken Tee, sie erzählt von ihrer Kindheit in Griechenland, dass ihr Mann zu viel arbeitet, dass sie beide davon träumen, mal nach Griechenland zu fahren, lange. Zum Abschied packt sie mir eine Dose mit Keksen, ich lasse den Teller mit Kuchen da, damit der viel arbeitende Mann ihn probieren kann.

„Früher hieß Sharing Teilen und Tauschen. Damals waren zwei frisch geschlachtete Gänse einen Maßanzug wert“ So in etwa muss sich Teilen und Tauschen angefühlt haben, bevor es zum Sharing wurde: Jemanden um etwas bitten, etwas von sich hergeben. Sehr alte Menschen erzählen gerne von der Zeit, als es im ganzen Dorf nur ein Telefon gab und einen Fernseher – in der Kneipe. Als sich nur zwei oder drei Familien ein Auto leisteten, das sie gerne verliehen, wenn die Nachbarn ins Krankenhaus oder zum Einkaufen mussten. Als zwei frisch geschlachtete Gänse einen Maßanzug wert waren. Heute ist das Teilen und Tauschen wieder da. Es hat einen neuen Namen bekommen, ist ein wirtschafts- und sozialwissenschaftliches Phänomen geworden, die Sharing Economy. In der Theorie bräuchte man heute kein eigenes Auto, keine Hotels, keine neuen Kleider, keinen Werkzeugkoffer, nicht einmal einen eigenen Hund: Man kann sich beinahe alles teilen, leihen oder ertauschen, per App oder Website. Natürlich war das Teilen und Tauschen nie wirklich weg: Mietautos, WGs, Bibliotheken, Werkzeugverleih – das alles gab es schon vor dem Internet. Eigentlich ist schon jemand, der eine Mehrwegflasche zu Hause hat, Teil der Sharing Economy. Trotzdem ist es einfacher geworden, Teilwillige zu vernetzen. Aus dieser Vernetzung haben sich Firmen wie AirBnB und Uber entwickelt, die am Teilen ihrer Nutzer mitverdienen. Andere Anbieter präsentieren das Mieten im neuen Gewand des Sharing. Mieten kann man heute vieles, sogar Spülmaschinen bei Otto. Und teilen sowieso: Versicherungen (www.friendsurance.de), Schrebergärten (www.meine-ernte. de), Kühe (www.kaufnekuh.de). Günstiger und nachhaltiger soll das alles sein, gutes Gefühl inklusive. Sharing ist so allgegenwärtig, dass man eigentlich keine Ausrede mehr hat, wenn man Dinge besitzt, statt sich durchs Leben zu teilen. So wie ich. In der Praxis habe ich ein eigenes Auto, eine Bohrmaschine, Bücher. Um mir eine Wohnung für mich selbst leisten zu können, habe ich mal in einer mit Dusche im Treppenhaus gelebt. Ich bin ein Anachronismus. Passe ich überhaupt in die Sharing-Welt? Passt die in meine?

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Leihen Sie mir Ihren Hund? Ein Selbstversuch im Netzwerken Unsere Autorin Anne-Nikolin Hagemann hat den Sharing-Trend bisher erfolgreich ignoriert. Jetzt überprüft sie, ob sie wirklich was verpasst hat


Dabei stehe ich gar nicht so schlecht da. Um etwas teilen oder tauschen zu können, muss man es schließlich erst einmal besitzen. Bohrmaschine, Auto und Bücher verleihe ich schon jetzt gerne, an Freunde und Bekannte. Als Gegenleistung erwarte ich kein Geld, sondern Hilfe, wenn ich sie brauche. Im Internet ist das schwieriger als gedacht: Auf Plattformen wie leihdirwas.de kann man seinen Besitz vermieten – aber nicht kostenlos verleihen. Schon eher das, was ich suche: das Soziale Netzwerk Frents, eine Art Facebook für Dinge. Statt Beziehungsstatus und Arbeitsplatz gibt man an, was man besitzt. Ein gutes Konzept, zumindest in der Theorie. In der Praxis erlebte Frents seinen kleinen Hype vor fünf Jahren, heute erinnert die Seite an das sterbende StudiVZ. Die letzten Neuigkeiten aus meiner Nachbarschaft sind fast einen Monat alt. Spoiler: Niemand hier wird in den kommenden Wochen meine Bohrmaschine oder meine Gitarre ausleihen wollen. Vielleicht klappt es gezielter. Zum Beispiel mit Booksharing. Immerhin scheint das Thema trotz E-Reader noch für Werbezwecke zu taugen: Während der Frankfurter Buchmesse 2017 lagen in den Handschuhfächern der örtlichen car2go-Autos 1.000 Bücher zum Sharen bereit, PR-wirksam zur Verfügung gestellt von Amazon. Das Buch liege in Sachen Teilen ganz weit vorne, meldete car2go stolz. Ich erlebe etwas anderes: Deutschlands älteste Booksharing-Plattform, Bookelo, ist „nicht mehr verfügbar“, auch auf anderen Seiten herrscht nicht viel Leben. Mehr los ist in Booksharing-Gruppen auf Facebook, wo Nutzer Bücher zum Tausch anbieten. Meistens wollen sie dafür: Gemüse oder Katzenstreu. Ich finde das deprimierend und suche auf openbookcase.org nach einem Tausch-Bücherschrank in meiner Nähe. Gut zwei Kilometer Spaziergang später stelle ich einen Brecht ins Regal und nehme einen Büchner raus. Lieber wäre mir gewesen, ich hätte mich mit demjenigen unterhalten können, der zuletzt darin geblättert hat. Leichter als meine Bücher könnte ich mein Auto verleihen. Bei SnappCar oder Drivy vermieten Privatpersonen ihr Fahrzeug, 20 bis 30 Prozent des Tagespreises fallen für Versicherung und Provision an. Wenn ich mein Auto sechs Tage lang vermiete, rechnet mir SnappCar vor, könnte ich so locker 250 Euro im Monat verdienen. Um die Schlüsselübergabe, Schadenskontrolle und Reinigung muss ich mich selbst kümmern. Aber ist das überhaupt noch Sharing? Oder werde ich damit nicht eher Teilzeit-Autovermieter mit Nebenverdienst?

„Ich könnte mein Auto vermieten - für 250 Euro im Monat. Aber ist das überhaupt noch Sharing?“ Besser aufgehoben fühle ich mich bei einer Mitfahrzentrale. Die Fahrt von Frankfurt nach München in zwei Tagen ist ein Test-Kandidat. Ich scanne BlablaCar statt den DBSparpreisfinder und habe die freie Wahl, neben wem ich für knapp 20 Euro fünf Stunden lang im Auto sitzen will: Neben der 18-jährige Lisa mit VW-Golf, die knapp 700 Kilometer von Münster über Frankfurt nach München fährt, um ihren Freund zu überraschen? Neben Umut, 32, geschäftlich unterwegs in der BMW-Limousine, der in den Bewertungen für seine zügige Fahrweise gelobt wird? Oder doch neben Stefan, dem jungen Vater mit Kleinkind, der sich schon mal vorsorglich für eventuelles Geplapper von der Rückbank entschuldigt? Ich klicke mich durch Profile und Bewertungen – und entscheide mich schließlich für Stefan. Leider muss turi2 edition #6 · Netze

der unsere Fahrt eine Stunde vorher stornieren: Kind krank, Magen-Darm. Er bittet um Entschuldigung und keine schlechte Bewertung. Ist ja nicht seine Schuld, denke ich, während ich im Fernbus im Stau sitze. Hinter mir isst jemand Döner, neben mir vergleichen zwei Freundinnen ihre Primark-Einkäufe. Ein bisschen Kindergeplapper wäre jetzt ganz nett.

„Es ist seltsam, in jemandes Leben zu wohnen. In der AirBnB-Wohnung benehme ich mich wie ein Einbrecher“ Nicht nur beim Carsharing boomt das Tauschgeschäft. Ein weiterer Gewinner der Sharing Economy ist AirBnB: Allein in Deutschland verzeichnete das Unternehmen 2017 über drei Millionen Buchungen. Als mein Freund und ich mit einem befreundeten Paar ein paar Tage nach Berlin fahren, suche ich nicht nach einem Hotel, sondern buche über die Seite. Zwei Anfragen werden direkt nach Bestätigung storniert, dann bekommen wir eine Wohnung in Kreuzberg, zwei Nächte à 50 Euro pro Person. Lisa, die dort mit ihrem Freund wohnt, schreibt: Schlüssel liegt im Briefkasten, einfach von außen reingreifen. Im Kreuzberger Hauseingang bittet ein Zettel die Mieter, die Haustür abzusperren – in der Nachbarschaft wurde mehrfach eingebrochen. Wir greifen in den Briefkasten und schließen auf. Es ist seltsam, in jemandes Leben zu wohnen. Ich benehme mich wie ein Einbrecher, der keine Spuren hinterlassen will, laufe auf Zehenspitzen durch die Wohnung, wische nach dem Duschen die Armaturen trocken, nerve die anderen mit der Befürchtung, wir könnten Bier auf die Couch kleckern. Ein Laptop und ein Smartphone liegen unter dem Schreibtisch, im Wohnzimmer steht eine faulende Aloe Vera, aus deren Blättern braune Flüssigkeit auf die Kommode tropft. Wir stellen sie in die Küchenspüle, dabei knickt ein Blatt ab, noch mehr läuft heraus. In der ersten Nacht habe ich einen Alptraum, dass die Pflanze immer weiter ausläuft und erst den hellen Teppich im Wohnzimmer, schließlich die ganze Wohnung überflutet. Ich schrecke erst schweißgebadet hoch, als ich zusehe, wie Vermieterin Lisa die Wohnungstür öffnet und ihr das Ganze entgegenschwappt. Außerdem kämpfen wir alle vier gegen den Drang, in diesem fremden Leben herumzuwühlen. In die Schubladen und unters Bett zu gucken, in Notizbüchern zu blättern. Den Paarkalender in der Küche studieren wir genau. Wir wissen, wann Lisa und Peter im Urlaub waren und wann beim Coldplay-Konzert. Wir folgern aus Lisas Prüfungsterminen, dass sie BWL studiert und wissen, dass die beiden nicht vor nächster Woche zurück sein werden. Als wir gehen, lassen wir den Schlüssel im Briefkasten. Nachdem der Abreise schreibt mir Lisa eine nette Bewertung, ich schreibe eine nette zurück. Die tropfende Pflanze erwähnen wir beide nicht. Eine Bekannte empfiehlt mir Dog-Sharing: Wegen meiner Hausordnung darf ich keinen Hund halten, freue mich aber wie verrückt, wenn einer auf der Straße meine Hosenbeine beschnuppert. Für Menschen wie mich gibt es „Hundelieb“: Das vernetzt uns mit Hundebesitzern, die jemanden zum Gassigehen während Urlaub oder Arbeitszeit suchen. Es fällt auf: Die Zahl der Möchtegern-Hundesitter ist weit größer als die der Besitzer. Die Ressource Hund ist knapp und hart umkämpft. Meine Konkurrenten punkten mit HundetrainerAusbildung und langjähriger Erfahrung mit Chihuahuas. Ich knipse ein Selfie mit dem wenig begeisterten Hund meiner Mutter und erwähne meine Kindheit mit sechs Dackeln. Zwei Anfragen: Ich könnte Straßenhund Bella aus Rumänien

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ausbilden, die sich aktuell noch kaum anfassen lässt. Oder jeden Arbeitstag von 9 bis 18 Uhr auf den kleinen Tipsy aufpassen, während Frauchen arbeitet. Ich muss leider beides ablehnen. Naja: Ohne Hund bleibt mehr Zeit, meinen Kleiderschrank auszumisten. Fürs Aussortieren ist meine innere Kritikerin zuständig: Wie konntest du das überhaupt kaufen? Das blaue Kleid saß auch schon mal lockerer. Statt alles wie sonst in die Kleiderspende zu geben, stelle ich die Klamotten ins Netz. Auf Kleiderkreisel, nach eigenen Angaben mit 20 Millionen Mitgliedern weltweit die größte Kleidertausch- und SecondHand-Börse.

„Die Ressource Hund ist hart umkämpft. Meine Konkurrenten punkten mit mehr ChihuahuaErfahrung“ Die Profile besonders erfolgreicher Nutzer sehen aus, als hätte man einem dieser hippen Berliner Second-Hand-Läden einen Instagram-Filter übergestülpt: Wallekleid vor AltbauFenster im Gegenlicht, #hippie. Abgerockte Lederjacke auf Parkettfußboden, #vintage. 50er-Jahre-Kleid auf Schneiderpuppe, #retro. Ich bin ratlos: Soll ich zur hässlichen Bluse #kotzgrün schreiben? Oder zum ausgeleierten Pulli #figurschmeichler? Ich habe weder eine Schneiderpuppe, noch kann ich gut bei Gegenlicht fotografieren. Also lege ich die Kleidungsstücke, für die ich mich am wenigsten schäme, fürs Foto auf das einzig freie Stück Parkett der Wohnung. Statt Hashtags schreibe ich Farbe und Marke dazu, manchmal etwas wie „bequemer Bund“. Ich komme mir vor wie eine Moderedakteurin für die Frau über 70. Meine ersten Tauschversuche scheitern kläglich. Ich schreibe Besitzern schöner Dinge, die Antwort ist: „Leider gefällt mir nichts von deinen Sachen.“ Oder: „Da ich Größe 34 trage, ist für mich nichts dabei.“ Dann der erste Erfolg: Ich tausche eine etwas eng gewordene Stoffhose gegen eine rote Jacke, die „leider zu groß“ für „jannisterni96“ war. Und bin ein bisschen deprimiert, als mir die Jacke perfekt passt. Ich stelle mir vor, wie gut meine Hose an jannisterni96 aussieht, an der ihrem Profilbild zufolge alles toll sitzt. Tauschen zwingt zum Vergleichen. Noch intensiver werden meine Gefühle beim Thema Foodsharing. Auf foodsharing.de verabreden sich Personen, die sich gegen Lebensmittelverschwendung engagieren. Statt Essen wegzuwerfen, das kurz vor Ablaufdatum steht, kann man es online stellen, damit es jemand abholt. Außerdem sammeln sogenannte Foodsaver übrig gebliebene Waren in Bäckereien, Supermärkten und Restaurants und organisieren Verteilaktionen. Ich kann nur eine Packung Früchtetee

verschenken – ich hasse Früchtetee. Alles andere habe ich aufgegessen. Trotzdem wühle ich mich am Abend mit drei fremden Menschen durch eine IKEA-Tasche voller Gebäck, das Foodsaverin Franzi nach Ladenschluss aus einer Bäckerei mitgenommen hat. Die Brezen sind noch warm. Jürgen, der hier nicht zum ersten Mal Essen holt, sagt: „Hier, nimm noch ein paar. Die kannst du einfrieren.“ Ich bestreiche meine Breze mit Butter und erinnere mich daran, wie mein Selbstversuch begonnen hat: Ein Tausch unter Nachbarn, direkt und unkompliziert, bewährt seit Jahrhunderten. Jetzt auch online verfügbar: Durch die Magazine des Landes tingelt in den letzten Wochen Christian Vollmann, Gründer von nebenan.de – mit seiner Idee der vernetzten Nachbarschaft der Zukunft. Höchste Zeit, mich anzumelden. Nachdem ich meine Adresse und Identität per Postkarte bestätigt habe, bin ich dabei. Mein Profil für andere Nutzer findet sich unter „neu in Haidhausen Nord“ – ich wohne hier seit vier Jahren. Bei nebenan.de werden einem nur Beiträge angezeigt, die im oder um das eigene Viertel gepostet wurden. Ein bisschen ebay-Kleinanzeigen, ein bisschen Forum. Nach einiger Zeit habe ich tatsächlich das Gefühl, meine Nachbarn zu kennen. Oder zumindest zu wissen, was Haidhausen Nord bewegt: die Suche nach Kitaplätzen und Yogaräumen. Treffen zum Schafkopf und die Frage, ob die Putzfrau wirklich 12,50 Euro die Stunde verlangen darf. Das Thema Sharing läuft bei nebenan.de nebenbei: Menschen suchen und finden ein Auto zum In-die-Berge-fahren oder eine Mitfahrgelegenheit zu Ikea, verschenken Dinge, bitten um Hilfe. Als Matilda eine Bio-Brownie-Backmischung verschenken will und ihr einen Tag lang niemand antwortet, schreibe ich sie an. Wir treffen uns an der Kita ihres Kindes, fünf Gehminuten von meiner Wohnung entfernt. Sie wolle ihre Familie jetzt weizenfrei ernähren, erklärt Matilda, deshalb habe sie viel zu verschenken. Als Dankeschön biete ich Obst an, sie lehnt ab. Sie sei ja schon froh, dass sich überhaupt jemand gemeldet habe. Ich empfehle ihr Foodsharing und fühle mich fast wie ein Profi. Zu Hause merke ich: In den Brownies ist gar kein Weizen. Sie schmecken trotzdem. Am Wochenende besuche ich meine Eltern im oberfränkischen Dorf. Ich fahre mit dem Zug und lasse mich vom Bahnhof abholen, eine Mitfahrgelegenheit hierher gibt es nicht. Würde ich ein Zimmer über AirBnB suchen, gäbe es genau eins, ein paar Dörfer weiter. Auch Carsharing ist hier Fehlanzeige, genauso wie Food-, Book- oder Dogsharing. Keine Nachbarschaftsnetzwerke, zumindest keine im Internet. Als ich mit meiner Mutter darüber rede, lacht sie: „Wieso sollten wir sowas brauchen? Ich weiß doch, wer hier wohnt.“ Zurück in München fällt mir ein, dass ich Frau G. ihre Keksdose zurückbringen sollte. Ich steige die Stufen hinauf, klingle. Nichts passiert. Das Namensschild der G.s ist verschwunden, eine neue Fußmatte liegt vor der Tür. Sie sind weg. Ich hoffe, sie sind in Griechenland. Meinen Teller haben sie mitgenommen.

Anne-Nikolin Hagemann

besitzt jetzt eine Sammelkiste für Foodsharing und eine für Kleiderkreisel. Beide sind noch nicht sehr voll. Sie ist als Lebensmittelretter registriert, wartet aber noch auf ihren ersten Einsatz. Hagemann bleibt in der Nachbarschaft von nebenan.de und hat fest vor, bald eine Veranstaltungseinladung von dort anzunehmen - auch, wenn sie dafür Schafkopfen lernen muss. Ihre Wohnung und ihr Auto wird sie weiterhin nicht vermieten, aber Interessenten für Bücher und Bohrmaschinen dürfen sich melden 134

turi2 edition #6 · Netze


wakt: 10156895

FRIEDENSGESPRÄCHE AM SONNTAG

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Deutschland am Sonntag BILD am SONNTAG


Die Kirche muss voll sein, bevor die Predigt beginnt, sagte einst „stern“-Gründer Henri Nannen. Für Gruner + Jahrs Mediamann Frank Vogel fühlte sich unser Fotoshooting Anfang März am verschneiten Hamburger Baumwall eher einsam an – und vor allem sehr, sehr kalt. Vogel hielt tapfer durch, trotz mittelschwerer Grippe und 10 Grad Minus


Zwanzig Netzwerker 14.) Frank Vogel

Der Anzeigenfischer vom Baumwall Früher waren die Anzeigengeneräle der Großverlage testosteronstarke Typen, die einen Kunden notfalls unter den Tisch trinken konnten. Frank Vogel von Gruner + Jahr steht für eine neue Generation von Werbeverkäufern Von Peter Turi und Johannes Arlt (Fotos)

FRANK VOGEL geboren 1973 in Gießen und Diplom-Psychologe, entschied sich früh gegen ein Leben als Kinder- und Familientherapeut und für die Welt der Werbung. Seit 2006 wirkt Vogel beim Medienvermarkter G+J EMS, seit 2015 als Sprecher der Geschäftsführung. Vogel gilt als Könner in Sachen Netzwerken, Dienstleisten und Menschenfangen. Seine Strategie, immer größere und zugleich feinere Vermarktungsnetze zu knüpfen, findet Nachahmer In der Augmented-Reality-App zur „turi2 edition“ beantwortet Frank Vogel den turi2-Fragebogen – und verrät, warum er nicht für sich selbst werben würde turi2.de/edition/vogel


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er Anzeigenkunde ist ein scheues Reh und Frank Vogel lockt ihn mit einem Lächeln auf die Lichtung. Im knapp geschnittenen Karojackett und mit sorgsam verwuscheltem Haar steht der Chefverkäufer auf der Bühne des Auditoriums von Gruner + Jahr und buhlt um die Aufmerksamkeit von 80 meist weiblichen Kunden der KosmetikBranche. Es ist Montagmorgen, 10 Uhr, Vogel hat zum „Digital Beauty Day“ an den Baumwall nach Hamburg geladen. Die Kundinnen lassen sich, Kaffeetasse in der Hand und eine Portion Restmüdigkeit in den Augen, von Frank Vogel die schöne, neue Mediawelt erklären. Sie freuen sich aufs große Trendthema „Influencer Marketing“, doch Vogel nutzt die Bühne erstmal für eine andere Botschaft: „Unsere Marken haben eine Seele“ – dazu flattern auf dem Präsentationsschirm „Brigitte“, „Barbara“ und „Beef“ mit Flügeln durchs Bild. Vogel spricht sanft, aber poinitiert. Warum auch Printmedien in digitalen Zeiten als Werbeträger wichtig sind? Das erklärt er lässig und einleuchtend: Er redet von „Info-Snacking“, von digitalem Fastfood, und von „DeepDiving“, dem entspannten Lesen einer Zeitschrift auf dem heimischen Sofa. Vogel spricht über „Achtsamkeit und Entschleunigung“, wirkt dabei achtsam und entschleunigt wie ein Gelassenheits-Coach. In den gut 20 Minuten auf der Bühne bringt er geschickt alle seine Botschaften unter. Zum Beispiel die, dass Facebook nur 51 Prozent der Deutschen erreicht, die Ad Alliance, die er mit RTL, „Landlust“ und „Spiegel“ geknüpft hat, allein digital aber 64 Prozent. Und dann runter mit Applaus. Die Bühne gehört Frank Vogel nicht nur an diesem Montagmorgen. Auf ihr fühlt er sich wohl, denn er ist eigentlich Musiker. Sein Studium hat er sich als Gitarrist und Sänger einer Band finanziert. Wie die Band hieß, will Vogel nicht verraten. Es gibt alte Aufnahmen von Konzerten bei YouTube – aber nur Insider wissen, wo sie zu finden sind. Das soll so bleiben. Öffentliche Auftritte gibt es nicht mehr, die Mitspieler hatten sich nach und nach in den Vaterschaftsurlaub verabschiedet – und sind nie wieder zurückgekommen. Nur zum Spaß treffen sich „die Jungs“ im alten Bandkeller und lassen es, unter Ausschluss der Öffentlichkeit, krachen. Frank Vogel wuchs in Alten-Buseck bei Gießen auf und kam zum Psychologiestudium nach Hamburg. „Meine Eltern waren schon heilfroh, dass es nicht Schauspielerei oder Musik geworden ist“ – dagegen schien Psychologie geradezu bodenständig. Mit 24 war

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„Ein Verkäufer muss vor allem ein Jäger sein. Er muss den Willen haben, etwas nach Hause zu bringen“ er Diplom-Psychologe und fühlte sich noch zu jung, um schon als Kinderund Jugendtherapeut zu arbeiten. Das Pflichtjahr in der Psychatrie wollte er auf keinen Fall machen. Als die Mediaagentur Carat jemanden suchte, der „musikverrückt ist“ und „analytisch denken kann“, hat sich für Frank Vogel „eine Tür geöffnet, durch die ich gern gegangen bin“. Media und Musik waren fortan sein Thema. Was eine Mediaagentur eigentlich macht, wusste er bis dahin nicht. Bei Carat betreute er den Kunden Universal Music. Musste Musikstile in Medien übersetzen, Werbeträger finden für Zielgruppen wie hennarotgefärbte Frauen oder schwule Fashionvictims. 2002 wechselte er zu Warner Music, blieb drei Jahre. Drei Jahre, in denen die Musikindustrie fast zusammenkrachte. Auch das Anzeigenverkaufen ist nicht einfacher geworden seitdem. Im Gegenteil: Früher hatten die Anzeigengeneräle der Verlage – Gunter Pratz bei Gruner + Jahr, Lothar Nadler bei Burda und Peter Kempf bei Springer – vergleichsweise leichtes Spiel: An „stern“, „Bunte“ und „Bild“ kamen die Kunden nicht vorbei, heute sind die Alternativen riesig. Manches Unternehmen setzt komplett auf Digitalwerbung – die ist irgendwie hipper und billiger. Für Vogel kein Grund zur Verzweiflung: Wenn der Kunde Digital, Video, Social Media, Influencer, Big Data und Native Advertising will, dann gibt er ihnen eben Digital, Video, Social Media, Influencer, Big Data und Native Advertising. Als reine Anzeigenverkäufer für Print verstehen Vogel und seine 400 Mitarbeiter sich schon lange nicht mehr. Im Auditorium von Gruner + Jahr holt Vogel jetzt die Modebloggerinnen Laura Noltemeyer (Designdschungel) und Laura Brodda (allthatchoices) auf die Bühne. Sie sind Teil des InfluencerNetzes InCircles. Es soll das Werben mit Instagramern und Youtubern „brandsafe“ machen. Will heißen: Gruner + Jahr garantiert, dass nichts schiefgeht im Neuland des Digitalmarketings und besorgt „passgenaue Influencer“ mit „maximaler Authentizität“. Der Kunde wagt sich also raus in die digitale

Wildnis – und wird dabei eskotiert und beschützt von Vogels Truppen. Das „Influencer Scouting“ ist gefragt, zu viel kann schiefgehen beim Platzieren von Produkten bei Instagram und Co. Deutsche Bank, Henkel, Melitta und Adidas vertrauen auf Vogels Leute. Aber hilft das auch dem Printgeschäft? Irgendwie schon, denn viele Werbende wollen heute Komplexitätsreduktion. Dem Kunden klingeln die Ohren ob all der neuen digitalen Kanäle und Konzepte, weshalb er sich gern von Gruner + Jahr an die Hand nehmen und beraten lässt. Wer da nur eine Vierfarbanzeige im „stern“ anbieten kann, hat schlechte Karten. Dazu kommt: „Wir kommen über Trendthemen mit verlorengegangenen Kunden neu ins Gespräch“. Die Zahlen geben Vogel recht: Gruner + Jahr gewinnt im Vergleich zur Konkurrenz Marktanteile. Und die neuen Geschäfte wachsen schneller als die alten schrumpfen. 2005 wechselt Vogel zu Bauer, ist dort für Marktforschung und MediaMarketing zuständig. Seitdem gibt es für ihn beruflich nur ein Thema: „Wie und wo funktioniert Werbung – und wie bringe ich das zum Kunden?“ 2006 kommt er zu Gruner + Jahr, beschäftigt sich mit Werbewirkungsforschung, ist aber auch viel im Außendienst unterwegs, bei Kunden, um über Werbewirkung zu sprechen. Media Research Manager nennt sich das, 2011 wird er Leiter der Marktforschung, 2013 Mitglied der Geschäftsleitung unter Stan Sugarman, nach dessen Abgang 2015 Sprecher der Geschäftsleitung und das Gesicht der G+J-Vermarktung. Den Diplom-Psychologen hat Vogel im Werkzeugkoffer, aber er holt ihn nicht raus. Er hat im Studium viel über Menschen gelernt, viel über Kommunikation und glaubt, dass er davon profitiert. Aber: „Auch ein Psychologe hat keinen Radar, mit dem er Menschen in den Kopf gucken kann.“ Über einen möglichen Einstiegssatz „Mein Name ist Vogel, ich bin Diplom-Psychologe – was ist Ihr Problem?“ kann Vogel nur den Kopf schütteln. „Das wäre nicht zielführend“, sagt er und lacht. Einfühlungsvermögen und Empathie sind im modernen Mediageschäft wichtig, aber „ein guter Verkäufer muss kein Psychologe sein“, glaubt Vogel. Er muss vor allem Fachmann sein. Denn die Anforderungen an seine 400 Mitarbeiter werden immer größer: Die Digitalisierung führt zu immer mehr Medienkanälen, immer mehr Botschaften und immer weniger Aufmerksamkeit der Nutzer. „Der Informations-Overload sucht uns alle heim“, sagt Vogel. Sein Team muss für den Kunden Lösungen finden, die Aufmerksamkeit schaffen. turi2 edition #6 · Netze


Paradies-Vogel: Zu Fototerminen erscheint Frank Vogel schon mal mit giftgrünen Socken. Bei öffentlichen Auftritten überzeugt er mit sorgfältig gepflegter Lässigkeit


Vogel-Perspektive: Vom Hamburger Hafen aus blickt Frank Vogel auf eine immer unübersichtlichere Medienwelt – für die er gern als Lotse gebucht wird

Ist der Anzeigenverkäufer zum Kundenberater geworden? „Ein guter Verkäufer muss ein Hunter sein“, sagt Vogel. Vor allem die 50 Kollegen im Außendienst müssen eher jagen als sammeln. „Er muss sich einiges vornehmen und den Willen haben, etwas nach Hause zu bringen.“ Dagegen ist Trinkfestigkeit keine Kategorie, nach der Vogel Mitarbeiter aussucht. „Meet and greet“ alleine, also das Verkaufen mit Sektglas in der Hand, macht keinen Umsatz. Kernkompetenz ist es,

3 Musikstücke für Medialeute – empfohlen von Frank Vogel:

The Buggles: Video killed the Radio Star - das Spannende an unserem Business ist, dass sich alles immer wieder ändert Survivor - Eye of the Tiger (Rocky Soundtrack) zur Selbstmotivation für alle Verkäufer, die jagen wollen Deichkind: Like mich am Arsch - eine meiner Lieblingsbands: provokant, aber lustig - ein wenig Selbstkritik tut jedem Medienverkäufer gut 140

Medien und Marken zu verstehen. Der Mediaberater muss außerdem stark im Kontakt sein und den Umgang mit Menschen mögen. Wie viel Platz bleibt für die Verlage eigentlich neben den Elefanten im Raum – also Google, Facebook und bald wohl auch Amazon? Vogel hat eine klare Meinung: Das Netz, mit dem er nach Anzeigen fischt, muss größer und feinmaschiger zugleich werden. „Wir brauchen Allianzen!“ Eine Allianz mit der Mediengruppe RTL, einer BertelsmannTochter wie Gruner + Jahr, mit dem „Spiegel“ und dem Landwirtschaftsverlag („Landlust“) hat Vogel schon geknüpft. „Weil eins und eins mehr ergibt als zwei.“ Die Ad Alliance ist eine starke Alternative zu den US-Riesen und unter den contentgetriebenen Vermarktern die Nummer 1 in Deutschland. Die hohe Reichweite über die Kanäle TV, Digital und Print hat sich bereits ausgezahlt, die Marktanteile von Gruner + Jahr steigen. Oder, wie Vogel sagt: „Ich sehe am Umsatz, dass es erfolgreich ist.“ Das Einstiegsthema Ad Alliance hilft ihm, Kunden zurückzuholen. Genau wie das Trendthema Influencer. Dass Netzarbeiter Vogel mit seinen Allianzen nicht falsch liegt, zeigt auch die Tatsache, dass die anderen Verlage an ähnlichen Netzen knüpfen und miteinander über Kooperationen reden. Bauer mit Burda und Funke, die „Zeit“ mit „FAZ“ , „Süddeutscher Zeitung“

und „Welt“. Vogel weiß auch, warum: „Kunden präferieren größere Lösungsanbieter.“ Wie die Zukunft der Mediavermarktung wird? „Datengetrieben und automatisiert“, glaubt Vogel, „aber nicht seelenlos“. Das Kunden- oder MarkenErlebnis – sei es ein Social-Media-Post, eine Anzeige oder ein Live-Event – wird noch mehr ins Zentrum des Denkens rücken. Dabei geht der Trend in Richtung Einzelperson statt Zielgruppe und hin zum Erleben statt Erklären. Für Vogels Netz könnten ergänzende Partner im Feld von Außenwerbung, Radio und Events spannend werden. „Wir haben da keinerlei Denkverbote.“ Dabei denkt Vogel an weitere Kooperationen, nicht an einen Zukauf. Ad Alliance eben. Dieser Montag, den Gruner + Jahr zum Digital Beauty Day ernannt hat, endet für Frank Vogel erst spät – im Restaurant Rive am Fischmarkt in Altona. Das hat exklusiv für seine Gäste geöffnet. Und obwohl nur ein gutes Dutzend von ihnen sich die Zeit genommen hat, mit ihm und seinen Mitstreitern Meeresfrüchte vom nahe gelegenen Fischmarkt zu essen, ist die Stimmung gut. Sie steigt mit jedem geleerten Glas Champagner oder Wein. Unter den Tisch trinken muss Vogel niemanden, aber der Ausklang mit Alkohol stärkt das persönliche Netzwerk zwischen ihm und seinen Kunden. Auch und gerade in digitalen Zeiten. turi2 edition #6 · Netze


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Zwanzig Netzwerker 15.) Sven Thürke

Schripp, schrapp, Schuppe ab: Das Hechtfilet gibt‘s zu Mittag

Nix in Butter auf dem Kutter Sven Thürke ist der jüngste von einem Dutzend Fischer, die auf Hiddensee noch in See stechen. Sein Netz flickt er schon lange nicht mehr selbst, trotzdem plagen ihn Sorgen Von Markus Trantow und Johannes Arlt (Fotos)

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s klickt, als würde ein Daumen die Zinken eines Kammes entlang gleiten, wenn Sven Thürke mit seinem langen Messer das Hechtfilet von der Rückengräte trennt. Dem Fischer genügt ein präziser Schnitt, bei dem das Werkzeug über die Mittelgräte des Fisches schabt: Schon liegt eine Seite des Rückgrats frei. Ein zweiter Schnitt – und an der Gräte baumelt nur noch die Schwanzflosse des Hechts. Einen Handgriff später geht die Karkasse über Bord und platscht ins Hafenbecken von Vitte. Dort dümpeln schon der Kopf und die Eingeweide des Hechtweibchens, das eben noch quicklebendig war. Thürke hievt einen Eimer Hafenwasser an Bord seines Kutters und übergießt das Schneidebrett, bevor das Blut ins Holz sickert. Das Filet soll tags darauf auf dem Tisch von Familie Thürke landen, denn viele Fans hat der Süßwasserraubfisch nicht. Landratten fürchten die sogenannten Y-Gräten, die im Filet sitzen – und den übel riechenden Schleim auf der Hecht-Haut. „Aber nicht ganz abschrubben“, ruft Thürkes Ehefrau Claudia. Der Schleim ist Geschmacksträger. Sie steht auf der Kaimauer und schaut ihrem Mann beim Portionieren des Filets zu, im Kinderwagen schläft die kleine Tochter. „Meine Familie hat schon unter Adolf und unter Erich vor Hiddensee gefischt“, erzählt Thürke an Deck seines Kutters Angela. Er ist 43, ein gemütlicher Mann mit imposanter Statur. Wenn sich der politische Wind nicht gewaltig dreht, ist Thürke in ein paar Jahren der Letzte seiner Art. Von einem Dutzend Fischer, die von Vitte aus noch regelmäßig rausfahren, ist er der Jüngste. Das merkt man auch daran, dass er bereitwillig Auskunft gibt: Er ist kein grummeliger Seebär, der die Kiemen nicht auseinander bekommt. „Es gibt hier einfach keine Perspektive für junge Leute“, sagt Thürke und rückt die dunkelblaue Schirmmütze

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über seinem rotblonden Schopf zurecht. Er ärgert sich über das Geflecht von Regeln, in das er eingebunden ist. Das fängt bei den Fangquoten an und hört mit den Fisch-Preisen lange nicht auf. Den Hecht, den er eben zerlegt hat, durfte er nicht selbst fangen. Er hat das Tier einem Kollegen abgekauft. Seine Angela liegt an diesen Tagen Ende Januar noch still vor Anker. Dafür bekommt er eine Ausgleichszahlung vom Bund. „Der Staat bezahlt uns fürs zu Hause bleiben“, sagt er kopfschüttelnd. Die Subvention nimmt er aber mit und nutzt die bezahlte Auszeit für Reparaturen am Kutter und das Entwirren seiner Netze. Erst Anfang Februar bringen die Fischer von Vitte ihre Stellnetze wieder aus: im Bodden zwischen Hiddensee und Rügen und an der Ostseeküste – auf der gegenüberliegenden Seite der lang gestreckten Insel Hiddensee. Thürkes Netze lagern in großen, blauen Plastiktonnen in einem geräumig-chaotischen Schuppen unweit der Anlegestelle. Sie flicken – so wie sein Vater und Großvater es noch gemacht haben – muss er längst nicht mehr. Dafür sind die haardünnen KunststoffNetze viel zu billig. Nur Auftriebs- und Bleileinen, an denen die Netze festgeknotet sind, verwenden die Fischer oft jahrzehntelang. Zwischen ihnen spannt sich unter Wasser das Stellnetz: Die Auftriebsleine mit kleinen, eingewobenen Korkschwimmern zieht das Netz im Wasser nach oben. Die Bleileine spannt es nach unten. Wo Fische sich mit Flossen und Kiemen im stehenden Netz verfangen, bleiben Knoten. Diese Knoten reißt Thürke mit gekonntem Griff auseinander. Für jeden Meter des in Asien produzierten Netzes braucht er nur wenige Sekunden: „Wenn sich die Leinen unter Wasser überschlagen, bleibt kein Fisch mehr drin hängen“, erklärt er. In löchrigen Netzen verfangen sich die Tiere trotzdem. Erst wenn die Löcher zu groß werden und der Fang zu mager ausfällt,

tauschen Fischer die Netze. „Manchmal, wenn ich Langeweile habe, mache ich das noch selbst“, sagt Thürke. Meist schickt er kaputte Netze aber nach Estland. Dort schneidet ein Dienstleister sie von den Leinen und knotet neue dazwischen. Überhaupt ist das Leben eines Fischers eher pragmatisch denn romantisch. Thürke und Kollegen verorten sich am unteren Ende der Nahrungskette und klagen: zum Beispiel über die Fangquoten der EU. Sie regulieren die Menge an Fisch, die jeder Kutter im Jahr anlanden darf. Die Zahlen für die wichtigen Dorsche, Schollen und Heringe schwanken, tendenziell sinken sie. Auch deswegen geben immer mehr kleine Kutter-Besitzer auf und lassen sich ihr Boot von großen Fischereikonzernen abkaufen. Die übernehmen die Fangquoten und fahren sie mit ihren riesigen Trawlern ein. Die kleinen Boote verkommen zur Kulisse: Sie müssen weiter fahrbereit im Hafen liegen. So will es die EU. Auch in Vitte liegen Geisterkutter. „Wir mit unseren kleinen Booten machen die Ostsee nicht kaputt“, sagt Thürke. Er sieht die großen Fischfangflotten, die mit ihren riesigen Schleppnetzen den Meeresboden pflügen, als eigentliches Problem. Zudem drücken die industriellen Riesenlieferanten den Preis. Das macht es den kleinen Fischern schwer, mitzuhalten. Für ein Kilo Hering gab es zuletzt zwischen 35 und 43 Cent. Thürke bringt an guten Tagen 1.500 Kilo Fisch an Land. Davon kann er kaum leben. Für viele Kollegen reicht es nicht mehr. Sie haben sich ein zusätzliches Standbein im Tourismus aufgebaut; vermieten Ferienzimmer oder Fahrräder. Thürke nicht. „Ich habe mein Leben lang nichts anderes gemacht, ich kenne nichts anderes“. Nach der Wende, als noch keiner weiß, wie es weitergeht, versucht er es mit einer Ausbildung als Energie-Elektroniker. Ein Jahr später schmeißt er hin. Auch die turi2 edition #6 · Netze


Was aussieht wie ein Netz, ist ein Seezeichen: Indem die Fischer es hissen, signalisieren sie, dass sie arbeiten


Im Hafen von Vitte liegen mehrere Geisterboote: Schiffe, die nicht mehr in See stechen, aber laut EU fahrbereit bleiben müssen. In der Kajüte von Sven Thürkes Kutter Angela wird noch gearbeitet – manchmal auch per Telefon

Möglichkeit, in Dänemark zu arbeiten und zu leben, schlägt er aus. Stattdessen heuert er begeistert als Lehrling auf dem Kutter seines Vaters an. Selbst zu DDR-Zeiten sei Flucht nie eine Option gewesen. Möglichkeiten und Vorbilder gab es genug: Thürkes Onkel etwa hat schon früh „rüber gemacht“. Die Ostseefischer kannten ihr Revier genauso gut wie die Patrouillen der NVA-Soldaten, die mit ihren Booten

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Republikflüchtlinge aufspüren wollten. Deshalb pamperte das DDR-Regime die Fischer im nördlichen Grenzbezirk: Wie viel Fisch sie auch immer aus dem Meer holten, der Staat kaufte ihn – zu Maximalpreisen. Paradiesische Zustände. Das Klagelied der Fischer hat viele Strophen, doch seit zwei Jahren stemmen sie sich auch mit einem Netzwerk gegen den absehbaren Tod ihres Berufsstands. Mithilfe des Rügen-Rückkehrers

Mathias Schilling haben sie den gemeinnützigen Verein „Hiddenseer Kutterfisch“ gegründet. Ziel: ein ausreichendes Einkommen für die Fischer vor Ort. Schilling, Jahrgang 1981, ist ein smarter Geschäftsmann. Er züchtet Rinder und Schafe, betreibt Restaurants auf Rügen und Hiddensee, ist seit Neuestem auch Fischkonserven-Produzent. Nach der Wende hat der gebürtige Schleswiger auf Rügen seine Wurzeln gesucht und turi2 edition #6 · Netze


Mehr Seemannsgarn und Küstenbilder gibt es in der Slideshow: turi2.de/edition/hiddensee

gefunden. Nun will er den Fischern von Hiddensee mit nachhaltig hergestellten Fischkonserven ein Gesicht und eine Marke geben. Und das geht so: Schilling kauft den Fischern einen Teil ihres Fangs für stolze ein Euro pro Kilo ab, lässt den Fisch in Saßnitz filetieren und in Stralsund in Dosen verpacken – pur, geräuchert, mit Tomaten- oder Dill-Senf-Sauce. Die weißen Dosen machen was her: Über die turi2 edition #6 · Netze

Kartons, in denen sie stecken, schippert ein Kutter, auf anderen steht „Heimat“. Die Sorte „Rauch & Pfeffer“ zeigt die Gesichter von acht Fischern, unter ihnen Thürke mit seinem Rotschopf. Und natürlich darf das Logo „Hiddenseer Kutterfisch“ nicht fehlen. Zusätzlich zum Einkaufspreis gehen pro verkaufter Dose 20 Cent an den Fischer-Verein. Auf der Insel hat Schilling im vergangenen Jahr einen

Dosenfisch-Shop geöffnet. Hier sollen die Touristen Appetit auf gedosten Fisch als Mitbringsel für die Daheimgebliebenen bekommen – Kostenpunkt: stolze 3,95 Euro pro 200-Gramm-Dose. Dazu gibt es Schnaps von der Insel, sogar ein zum Fisch passender Wein steht im Regal. „Mathias trägt das gesamte wirtschaftliche Risiko“, sagt Thürke anerkennend über den umtriebigen

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Unternehmer Mathias Schilling will den Fischern von Hiddensee ein Gesicht geben: mit Konservendosen, dem zum Fisch passenden Wein und Merchandise-Produkten wie T-Shirts

Geschäftsmann Schilling. Mehrmals pro Woche legt der die 20 Bootsminuten von Schaprode auf Rügen nach Vitte zurück: Um nach dem Rechten zu sehen, an neuen Projekten zu arbeiten – um neue Netze zu spinnen. „Wir wollen Aufmerksamkeit für die kleinen Kutterfischer schaffen“, sagt Schilling. Nach den ersten Monaten sieht es gut aus. Von der Grünen Woche in Berlin sind die Hiddenseer Kutterfischer mit dem dritten Platz beim neu eingerichteten Startup-Wettbewerb nach Hause gekommen. Im Frühling will Schilling die nächste Charge Hiddensee-Fisch kaufen und neue Sorten in die Dose bringen. Marketing allein wird die Fischereikultur von Hiddensee langfristig kaum retten. Hier sehen sie die Initiative aber als einen Anfang. Trotzdem hat Thürke kaum Hoffnung, dass nach ihm die vierte Generation das Fischereihandwerk lernt. Seine beiden Töchter kann er sich auf Kutter Angela nur schwer vorstellen.

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NR. 11

G E SC H I C H T E I N B I L D E R N

Der

NS-Staat 1933–1945

NR. 90

IRLAND

1170–2018 Die Geschichte der Grünen Insel

DER NS-STAAT

IRLAND

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90

Das keltische Erbe / Invasion der Normannen / Piraten gegen London / Das Dublin des Jonathan Swift Der große Hunger / IRA: Freiheit und Terror / Der Meister: James Joyce / Die Kirche und ihre Schuld

Die nationalsozialistische Diktatur: Propaganda und Terror, Verfolgung und Vernichtungskrieg


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In der Augmented-Reality-App zur „turi2 edition“ erklärt Fischer Michael Thürke – ein Verwandter von Sven Thürke – wie man eine Aalreuse flickt turi2.de/edition/reusen

Zufrieden ist Sven Thürke trotzdem: „Ich hab‘ eigentlich alles erreicht“ – mit immerhin erst 43 Jahren. Er ist stolz, dass die Kredite für Kutter und Ausrüstung bezahlt sind. Das Damoklesschwert über seiner wirtschaftlichen Existenz ist ein politisches. Neben den sinkenden Fangquoten und Fischpreisen fürchten sich Thürke und seine Kollegen vor allem davor, dass die Politik die Fischerei im Boddengewästuri2 edition #6 · Netze

ser irgendwann ganz verbietet. Schon heute gehören Insel und Wasser zum Nationalpark Vorpommersche Boddenlandschaft, teilweise herrscht bereits Fahr- und Fangverbot. Das könnte in den kommenden Jahren ausgeweitet werden. Sein Ziel sei, weiter zu fischen. „Aber das liegt nicht mehr in meiner Hand“, sagt Thürke. Und wendet sich wieder seinen Netzen zu.

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Zwanzig Netzwerker 16.) Christiane Wolff

Spaß bei der Arbeit: Christiane Wolff beim „nettwerken“

Bussi, Baby Christiane Wolff ist Europameisterin der Kontakte: Bei Serviceplan, der größten unabhängigen Werbeagentur des Kontinents, knüpft sie von Deutschlands Bussi-Bussi-Hauptstadt aus die Kommunikationsfäden. Und hat mit dem „Nettwerk“ zusätzlich ihr eigenes Netzwerk gegründet Von Tatjana Kerschbaumer und Frank Bauer (Fotos)

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etzwerken hat viel mit Küssen zu tun, zumindest bei Christiane Wolff. Ein Küsschen links, ein Schmatzer rechts, Bussi-Bussi, wie man in München sagt. So beginnt auch einer von Wolffs Samstagen in München-Riem. Wolff, 47, Rock mit aufgesetzten Taschen, hohe Hacken und leichte Grippe, busselt heute aus gesundheitlichen Gründen zwar die Luft neben ihrer Begrüßungspartnerin. Aber immerhin. Obwohl sie „eher ein Bad und ein Bett bräuchte“, moderiert Christiane Wolff ein Podiumsgespräch auf dem Fachkongress für Businessfrauen, die sich dafür in einem Hotel mit grau karierten Teppichböden eingefunden haben. Dabei hätte sie samstags frei,

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ihr Hauptberuf trägt bereits einen Titel, der anstrengend genug ist: Sie ist „CCCO der Serviceplan Gruppe“. Die vielen Cs heißen ausgeschrieben Chief Corporate Communication Officer und bedeuten übersetzt, dass sich Wolff samt Team um die weltweite Unternehmenskommunikation des PR-Tankers kümmert. Bei Serviceplan wird Wolffs Arbeit gnadenlos per KPIs, also Leistungskennzahlen, analysiert. Der große Posten ihrer Nebenbei-Engagements lässt sich schwerer messen. Denn abgesehen von beruflichen Kontakten managt Wolff zusätzlich ihr eigenes Netzwerk, das sie 2001 gegründet hat. „Nettwerk“ heißt es – und soll vor allem Frauen dazu bringen, sich beim Hochkraxeln der Karriereleiter zu helfen. Allein in München

nettwerken 400 Frauen, in Berlin und Frankfurt lassen je 50 weitere Damen ihre Beziehungen spielen. Ein Treffen pro Monat soll das Kontakte knüpfen und Chancen wittern erleichtern. Und wer Netzwerken richtig ernst nimmt – so wie Wolff – ist außerdem in mehreren Gruppen verbandelt. Frau kennt sich von Serviceplan oder dem Nettwerk, also empfiehlt frau sich weiter: als Gast, Vortragende – oder Moderatorin. Deshalb steht Wolff an eben diesem Samstag an einem Stehtisch des Hotelfoyers und geht neben einer leicht verhungerten Aloe Vera noch einmal ihre Moderationskarten für den Businessfrauen-Kongress durch. „Im Büro bin ich schon dafür bekannt“, sagt sie – und meint damit turi2 edition #6 · Netze



3 Tipps

zum Netzwerken von Christiane Wolff 1. Netzwerke überall. Ich habe schon spannende Kontakte in der Kassenwarteschlange gemacht. 2. Iss vor dem NetzwerkEvent. Mit vollem Mund spricht sich‘s einfach nicht so gut.

Früh fit: Christiane Wolff lädt ihr „Nettwerk“ gern schon morgens zu Terminen ein – wie hier ins Steelcase Innovation Center

nicht das Hochleistungs-Netzwerken, sondern ihren Verschleiß an Notizzetteln und Karteikarten. Wen muss sie noch mal auf der Bühne vorstellen? Eigentlich kennt sie ja alle, aber besser ein Blick zu viel als zu wenig. Kaffeepause, im Hintergrund berichtet eine Business-Woman von ihrem YogaRetreat. Eine weitere kontert mit ihren Tinder-Matches und der Erkenntnis, dass es schwierig ist, heutzutage einen normalen Mann zu finden. Falls Christiane Wolff gestresst ist, lässt sie es sich nicht anmerken. Ruhe braucht sie eher sporadisch; wenn, dann geht sie alleine zum Wandern. Umtriebig war Wolff schon immer, früh hat sie sich auf den Weg gemacht. Geboren wurde sie an der Elfenbeinküste, weil ihr Vater dort für die Baufirma Philipp Holzmann im Hafen von San-Pédro arbeitete. Später wohnten sie und ihr Bruder gemeinsam mit den Eltern in einem Offenbacher Hochhaus. Erste Berufswünsche: Lehrerin oder Sängerin, beides verworfen.

CHRISTIANE WOLFF Jahrgang 1971, studierte Theater-, Film- und Medienwissenschaften in Frankfurt am Main und an der Steinbeis Hochschule in Berlin. Seit 2012 verantwortet sie für Serviceplan die weltweite Unternehmenskommunikation In der Augmented-Reality-App zur „turi2 edition“ beantwortet Christiane Wolff den turi2Fragebogen – und verrät ihre heimliche Schwäche turi2.de/edition/wolff

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Im Hochhaus begann aber vermutlich das Netzwerken als Lebenseinstellung. „Ich war eben ständig mit anderen Kindern zusammen.“ Kurzer Auszug aus ihrer Jugend: Wolff war stellvertretende Schulsprecherin, pirschte bei den Pfadfindern und stellte den ersten ökologischen Einkaufsführer für Offenbach zusammen. Später ging sie als Au Pair nach Südfrankreich und jobbte als Stewardess bei der Lufthansa. Wer nach einem schnurgeraden Lebenslauf sucht, wird bei Christiane Wolff nicht fündig. Aber sie glaubt, sie ist schon richtig dort, wo sie jetzt ist – in der PR, der Kommunikation, ihren Netzwerken. Und in München. Nach einem Volontariat in Frankfurt am Main wurde sie 1999 Jugendschutzbeauftragte bei Premiere in Unterföhring, heute Sky. Seitdem hat sie die Bussi-Bussi-Hauptstadt Deutschlands zu ihrer wichtigsten Schaltzentrale gemacht. „Wenn ich Städte vergleiche, würde ich sagen: München ist wirklich am besten zum Netzwerken“, sagt sie. Nicht so reserviert wie Hamburg, nicht so oberflächlich wie Berlin, nicht so überschaubar wie Köln. Seit Wolff 2011 bei Serviceplan anheuerte, verschwimmen die Grenzen zwischen ihren privaten, beruflichen und semi-professionellen Netzen. „Jedes Treffen mit Journalisten ist ein Netzwerktermin“, sagt sie – nicht ausgeschlossen, dass sich der Journalist bald auf ihrem Nettwerk-Verteiler findet. Ihrem Arbeitgeber Serviceplan sind diese Kreuz-und-Quer-Kontakte ganz recht, denn Wolff bringt interessante Köpfe ins Haus. Wer Serviceplan-Chef Florian Haller fragt, was sie unverzichtbar für die 3.100-Mitarbeiter-Agentur macht, bekommt eine Liste ihrer Vorzüge prä-

3. Sei neugierig! Nur wer offen und mit Freude auf Menschen zugeht, lernt sie kennen.

sentiert: „Ihr Netzwerk, ihre Loyalität, ihre Professionalität und Begeisterungsfähigkeit.“ Viele von Wolffs Nettwerk-Veranstaltungen finden in der Cafeteria der Serviceplan-Zentrale statt; andere sind direkt ums Eck in der Augustenstraße – und Agentur-Personal dazu eingeladen. Wolff ist nicht dogmatisch, weder beim Mischen von Kontakten, noch bei der Geschlechterverteilung. Bei ihren eigentlich für Frauen konzipierten „Nettwerk“-Treffen dürfen auch Männer vorbeischauen. Die Frauen sind ohnehin meist in der Überzahl. „Gute Menschen ziehen andere gute an“: Nach dieser Regel pflegt sie ihren E-Mail-Verteiler. Aber so zugänglich Christiane Wolff sein kann, wenn sie jemanden schätzt, so strikt ist sie, wenn jemand versucht, nur Kontakte und Vorteile abzusaugen. Sie merkt schnell, wer zur Münchner Frühstücksmafia gehört – also vor allem wegen des Kaffees kommt. Dann schrumpft ihr Verteiler um ein, zwei Adressen. Plätze, die schnell wieder vergeben sein werden. Jetzt am Samstag, auf dem Kongress, ist es soweit: Pause vorbei, Podium vollzählig, 80 Business-Women harren der Dinge, die da kommen sollen. Christiane Wolff und ihre Karteikarten fehlen noch, kurze Panik. „Wo ist Christiane?“ – „Sie ist so groß und schafft es ständig, sich unsichtbar zu machen“. Zum Glück falscher Alarm, Wolff betritt die Bühne. „Ich muss wirklich ins Bett“, das hat Wolff noch vor der Veranstaltung gesagt. Ihr Plan: Podium moderieren, dann nach Hause ins Münchner Lehel. Klappt nicht, die Gespräche sind zu gut, „den Vortrag schau ich mir noch an“. Grippe hin oder her, Wolff verlässt den Kongress erst am späten Nachmittag. Mit ein paar Bussis. turi2 edition #6 · Netze


HOLGER THALHEIMER CEO PHD Germany

HÖRZU ist eine Marke der FUNKE MEDIENGRUPPE


Zwanzig Netzwerker 17.) Christian Vollmann

Der Nette von Nebenan Christian Vollmann hat online Liebende und Wissenschaftler verbandelt und danach eine Netzkrise erlitten. Jetzt digitalisiert er die Nachbarschaftshilfe Von Anne Fischer und Holger Talinski (Fotos)


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u, gerade ist ein fremder Mann mit deinem Auto weggefahren?“ Der Nachbar am anderen Ende der Leitung klingt aufgeregt, doch Christian Vollmann kann ihn beruhigen: Ein Freund aus London ist zu Besuch und hat sich sein Auto ausgeliehen. Erleichterung beim Nachbarn, Glücksgefühl bei Vollmann: Sein Nachbarschafts-Netzwerk funktioniert. Sogar als Alarmsystem. Der Anrufer ist einer von 20 Nachbarn, die Christian Vollmann persönlich kennt. Einer von 20, denen er, als er 2013 mit seiner Familie ins Scheunen-Viertel in BerlinMitte zieht, zur Begrüßung ein trojanisches Pony in den Flur stellt. Denn ums reine Kennenlernen geht es Vollmann nicht, als er bei ihnen klingelt und sich vorstellt. Durch den Umzug reift in ihm die Idee eines digitalen NachbarschaftsNetzwerks. Kein zweites Facebook, denn Nachbarn sind keine Freunde, sondern eben Nachbarn. Er stellt sich stattdessen eine kostenlose Plattform ohne Algorithmus vor, auf der Nachbarn sich austauschen können. Der eine verschenkt einen Sessel, der nächste rettet Lebensmittel und lädt zum gemeinsamen Kochen ein, der andere sucht einen Laufpartner. Dafür macht Vollmann den Feldversuch bei seinen eigenen Nachbarn, fragt, ob er ihre EMail-Adressen für ein digitales Viertelportal bekommen kann. 19 Nachbarn geben sie ihm, einer ist mit dem Internet nicht so dicke, versorgt Vollmann dafür aber mit reichlich Kaffee, Kuchen und Geschichten. Vollmann, 40, wohnt mit seiner Frau, drei Kindern und Dackel in einer kleinen Seitenstraße. Verkehrsberuhigter Bereich, Kopfsteinpflaster, sanierter Altbau mit Fassade in Beerenfarbe. Neben der Hausnummer hängt eine Denkmalschutzplakette, im Eingang lehnt ein Fahrrad mit Kindersitz. Direkt gegenüber quetscht sich ein Plattenbau ungelenk zwischen die altehrwürdigen Häuser. Es ist die jüngste Platte Berlins, fertig gebaut kurz vor dem Mauerfall, erzählt Vollmann, der nicht unauffällig, aber unauffällig gekleidet ist: Kapuzenjacke, Sneaker, strubbelige, schwarze Haare, durchdringender Blick. Er sieht anders aus als auf Pressefotos, die es sonst von ihm gibt. Auf denen wirkt Vollmann ernster, älter – und unnahbarer. Ist er alles nicht. Das mit der Nachbar-Platte weiß er von einem Quartiers-Rundgang – der internet-skeptische, ältere Herr turi2 edition #6 · Netze

Als in Vollmanns alter Wohnung eingebrochen wurde, gab ihm ein Polizist drei Tipps: Kaufen Sie einen Hund, rüsten Sie die Türschlösser auf – und lernen Sie Ihre Nachbarn kennen von gegenüber hat sich dann doch bei nebenan.de angemeldet, repariert nun tropfende Wasserhähne und erzählt bei Bedarf, wie er in seiner Jugend illegal auf Güterzügen durch die USA und Kanada gereist ist. Menschen wie ihn hat Vollmann im Kopf, als er nach dem E-Mail-Test seine Idee angeht. Inspiriert hat ihn die Plattform nextdoor aus den USA. Dort sind die Viertel zwar separierter als in Deutschland, wo Büros, Bars und Wohnungen oft bunt durcheinanderwürfeln. Aber mehr Miteinander kann auch deutschen Städten nicht schaden. Als Vollmann nebenan.de gründet, arbeitet er eigentlich noch bei eDarling. Uneigentlich ist er auf dem Absprung, will eine Auszeit nehmen, neuen Sinn finden. Da kommt die Idee, die ihn anspringt und nicht wieder loslässt, gerade recht. Aber: Wer Kontakt zu den Nachbarn sucht, könnte doch bei ihnen klingeln? Vollmann glaubt, dass die Angst vor Zurückweisung uns davon abhält. Diese Hürde will er digital aushebeln. Dafür braucht er Mitgründer, denn allein „macht man immer zwei Schritte vor und einen zurück.“ Till Behnke, Gründer der Plattform betterplace.org, kommt als erster dazu. Er mag die Idee, zieht aber gerade selbst etwas auf. Und macht dann doch mit, unter der Vorgabe, zwei Freunde mitzubringen. Vollmann will außerdem seinen Bruder im Team haben. Einen Techniker brauchen sie auch – insgesamt sind die Gründer schließlich zu sechst. Heute arbeiten 45 Angestellte bei nebenan.de, 800.000 Mitglieder sind angemeldet, die meisten in Berlin, München und Hamburg. Vollmann wittert die Chance, mit dem Netzwerk „das hyperlokale Marketing umzukrempeln“. Außerdem will er etwas Sinnvolles tun. Nicht mit „irgendwelchen Leuten zusammenarbeiten, die irgendwas gründen wollen, Hauptsache mit mir“. Seine Vision ist ein Netzwerk, das den gesellschaftlichen Zusammenhalt verbessert, ein Gegenentwurf zur digitalen Filterblase. Aber in Zeiten gentrifizierter Städte: Ist Nachbarschaft

keine Filterblase? Vollmann sagt nein. Er holt weit mit dem Arm aus: „Hier leben, mal überspitzt gesagt, Internetmillionäre neben Plattenbaubewohnern.“ So überspitzt ist das nicht – Vollmann müsste nicht mehr arbeiten, ginge es allein ums Geld. Seine Nachbarn aus dem Plattenbau beziehen teilweise Hartz4. Raushängen lässt er sich das nicht, denn er ist nett. Nicht geschauspielert nett, sondern sympathisch-nett. Er bleibt gut gelaunt, obwohl sein jüngster Sohn angekränkelt auf ihn wartet. Er verspricht ihm, sich mit dem Pressetermin zu beeilen. Im Café bestellt Vollmann „Greentea“ und „Cheesecake“. Ansonsten spricht er für einen, der im Netz als „Business Angel“ und „Serial Entrepreneur“ bezeichnet wird, wenig halbenglisches Businessdeutsch. Nur ein paar „Investorrelations“ und „Pe-Prototyps“ kommen vor, als er über seine Aufgaben bei nebenan.de spricht: hauptsächlich mit Investoren reden, Burda und Lakestar zum Beispiel. Vollmann hält sie auf dem Laufenden und sucht neue. Noch ist nebenan.de weit davon entfernt, sich aus eigener Kraft zu tragen. Mit Hilfe eines Zuckerstreuers erklärt Vollmann Monetarisierungsideen, zerlegt nebenbei die Erdbeere auf seinem Kuchen, dröselt das Band des Teebeutels auf, ist zappelig. So als müsste er abends noch fünf Runden um den Block rennen und sich Lavendelöl aufs Kopfkissen sprühen, damit er und seine Gedanken schlafen können. Das mit den Hunderttausend Gedanken war wohl immer so – Vollmann hatte schon als Berufsstarter viel Erfolg, brachte es schnell zu Geld und Anerkennung. Jetzt will er gesellschaftlich etwas bewirken. Das Leben ist für ihn eine Art Ökosystem, das es bisher gut mit ihm gemeint hat. Wenn also jemand um Hilfe bittet, hilft er, ohne nach Gegenleistungen zu fragen. Bei nebenan. de steht in seinem Profil unter „Du bietest“ auch „Hilfe beim Gründen“. Eine seiner Nachbarinnen hat das Angebot angenommen und ist inzwischen selbstständige Kommunikationsberaterin. Grüne Kommunikationsberaterin.

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Im Scheunen-Viertel in Berlin-Mitte startete Christian Vollmann sein Nachbarschaftsnetzwerk nebenan.de

Vollmann selbst ist in der FDP, hätte die Partei aber gern sozialer. Die Nachbarin möchte die Grünen liberaler. „Unsere gemeinsame Schnittmenge ist groß, das habe ich nur durch nebenan.de gemerkt. Früher hätte ich die geistige Schublade längst zugemacht.“ Sein eigenes Netzwerk speist sich aus Freunden, Kommilitonen, Kollegen. Der Zusammenhalt im Alumni-Netzwerk der Otto Beisheim School of Management, wo er BWL studiert hat, ist groß. Dabei nutzt Vollmann diese Kontakte bei seinem Start ins Berufsleben erstmal nicht: Seine Kommilitonen wollen Karriere in Banken und Unternehmensberatungen machen, Vollmann stattdessen „was mit Internet“. 1999 war er einer der ersten Angestellten der Samwer-Brüder, arbeitete bei Alando und für Jamba, das Klingelton-Unternehmen mit dem Nilpferd. Damit hatte er den Fuß in der Berliner Startup-Tür. 2003 gründete er das Dating-Portal iLove, später die Partnervermittlung eDarling. Er investierte auch in Ideen anderer, zum Beispiel in Research Gate, ein Netzwerk für Wissenschaftler. Es ist eine seiner Lieblingsbeteiligungen

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– von über 75 Gründungen bis heute. Denn das Netz wird die Welt zum Positiven verändern. Glaubte Vollmann anfangs. Er war der größte Fan des Internet, hob es wie ein Verliebter auf ein Podest. Dann kam der arabische Frühling, und es kriselte zwischen Vollmann und dem Web. Das Netz zeigte sich uneinsichtig, schmetterte ihm in den folgenden Jahren „Filterblase, Fake News, Putin und Trump“ entgegen. Vollmann erkannte die Schwächen des Internets, zweifelte, erwägte das Schlussmachen. Dann begriff er, dass ein Medium „einfach nur ein Medium ist“. Die Tageszeitung kann nichts für den Terroranschlag, der in ihr abgedruckt ist, das Internet ist nicht Schuld an digitaler Ungerechtigkeit. Aber Vollmann glaubt, dass die optimistische Phase vorbei ist, er wünscht sich Regulierung. Die Risiken lassen sich nicht beherrschen, aber etwas einfangen, hofft er. Und dass es ihm gelingt, mit seinem Netzwerk das Beste aus dem Internet herauszuholen: Miteinander und Hilfe. Egal, ob bei mutmaßlichem Autoraub oder tatsächlichem Diebstahl.

Christian Vollmann hätte ohne sein Nachbarschaftsnetzwerk nie drei besonders spannende Menschen kennen gelernt: Barbara, die 85-jährige Ballett-Tänzerin, die weiß, wo man vor 60 Jahren so richtig gefeiert hat Matthias, der Lebensmittel aus Containern rettet und seine Funde mit allen teilt Andrzej, das ViertelUrgestein, das alles reparieren kann Das haben die Vollmanns in ihrer früheren Wohnung einmal erlebt: Einbrecher stiegen über die Oberlichter ein. Christian Vollmann suchte Rat bei der Beratungsstelle Einbruchschutz der Polizei. Der Beamte gab ihm drei Tipps: Kaufen Sie sich einen Hund. Rüsten Sie Ihre Türschlösser auf. Lernen Sie Ihre Nachbarn kennen. turi2 edition #6 · Netze


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Zwanzig Netzwerker 18.) Norbert Brandau

Der Päckchen-Papst Vom niedersächsischen Winsen aus verschickt Amazon täglich 100.000 Pakete. In der riesigen Werkshalle vernetzt Software Regale mit Robotern und Menschen – und Norbert Brandau ist ihr Chef Von Jens Twiehaus (Text, Foto und Video)

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s ist nicht lange her, da zählten Zettel und Bleistift zu Norbert Brandaus wichtigsten Arbeitsgeräten: Im Jahr 2002 lief er durch Regalreihen, nahm Bücher heraus und hakte mit einem Bleistift auf Papier ab, was er eingesammelt hatte. Damals ist Amazon ein Buchhändler und Brandau sein einfacher Angestellter. Ein Angestellter bei irgend so einem

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Unternehmen aus den USA – von dem keiner weiß, ob es sich durchsetzen wird. Heute steht Brandau in der riesigen Amazon-Halle in Winsen zwischen Hamburg und Lüneburg. Er schmunzelt, wenn er an die Zeit mit Stift und Papier zurückdenkt. Brandau, heute Standortchef in Winsen, trägt eine gelbblaue Warnweste auf der „Frage mich“

In der Augmented-Reality-App zur „turi2 edition“ erklären Norbert Brandau und seine Kollegin Richa Tanija ihre Versandfabrik turi2.de/edition/amazon

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steht. Förderbänder rauschen, Schilder mahnen „Gehen, nicht rennen!“, helles Licht leuchtet in jeden Winkel. Gerade sind zig Paletten Pampers eingetroffen. Brandau, Ende 40 und zweifacher Vater, ein Mann mit stattlicher Figur und Fast-Glatze, ruht in dieser ungemütlichen Atmosphäre in sich selbst. Er lehnt sich gegen ein Eisengitter und blickt konzentriert auf eine Armee automatisierter Kollegen. Dort, auf der anderen Seite des Gitters, wuseln orangefarbene Transportroboter umher. Flach und wendig, fast wie selbstfahrende Staubsauger im Industrieformat. Amazon hat aufgerüstet: Nach der Zettelwirtschaft hielt zunächst der Handscanner Einzug in die Versandzentren. Jede Zahnbürste hat seitdem einen Barcode – und durch ständiges Scannen registrieren Computer jederzeit, wo sie sich befindet. In Winsen sind sie noch einen Schritt weiter gegangen. Hier läuft kein Norbert Brandau mehr durch Regalreihen, um die Zahnbürste für den OnlineShopper einzusammeln. Hier kommen die Regale zu den Mitarbeitern. Die Roboter fahren unter ein Regal, heben es an und bringen es zu einem Menschen. Insgesamt 1.800 Arbeiter greifen, packen und stapeln in Winsen für Amazon. Unterstützt von 850 Robotern auf drei Etagen. Brandau liebt das, weil er Prozesse liebt. Das war schon in seinem ersten Leben als Chemiker so – „Prozesse, die nacheinander ablaufen und die ich im Einzelnen optimieren kann“, da kann einer wie Brandau seine ganze Leidenschaft hineinlegen. „Etwas so gut zu beherrschen, dass man dafür bewundert wird.“ Als Kind war das sein Traum, deshalb wollte er früher Musiker werden. Heute dirigiert er immerhin einen kleinen Teil eines Imperiums. Norbert Brandau leitet kein Lagerhaus, sondern eine Versandfabrik. 100.000 Pakete verlassen die Halle in Winsen an diesem ganz normalen Dienstag. Dabei hat Amazon inzwischen ein Dutzend Logistik-Standorte in Deutschland – grenznahe polnische und tschechische Niederlassungen nicht mitgerechnet. Wie viele Pakete sich also dienstags insgesamt auf die Reise machen: Amazon weiß es, verrät es aber nicht. Weil Winsen eine Fabrik ist, reden alle nur vom FC HAM2, dem Fulfillment Center mit der internen Abkürzung HAM2 – was dem Code für den nahen Flughafen Hamburg entspricht. Es wird viel Englisch gesprochen. Ware kommt im receive an, wird auf pots in den robotic floors eingelagert, später gepickt und in bins gepackt, geht im outbound raus. Auch der Begriff Tote steht auf turi2 edition #6 · Netze

Der menschliche Mitarbeiter muss nicht denken. Nur zugreifen und das Atmen nicht vergessen vielen Hinweistafeln, was einen nicht beunruhigen muss – Amazon ist nicht ins Geschäft mit Bestattungen eingestiegen. Tote ist das englische Wort für die schwarzen Transportwannen, die über die Förderbänder in Winsen laufen. Alle Produkte müssen in Totes hineinpassen – Konformität ist eine wichtige Voraussetzung, um die Prozesse zu automatisieren. Sein ganzer Standort, sagt Brandau, sei wie ein Gaskraftwerk. Es müsse immer gleich durchlaufen. Es ist das Rückgrat einer Versand-Maschinerie, die niemals schläft. Ein Stockwerk höher, in einem ruhigen Bereich der Lagerhalle, befindet sich der Leitstand. Bitte nicht filmen und fotografieren, denn hier lässt sich am ehesten unter die Motorhaube des Systems Amazon blicken. Zwei Mitarbeiter stehen vor je acht Monitoren; die Männer blicken auf komplexe Grafiken und Kamerabilder, die laufende Förderbänder mit sausenden Paketen zeigen. Was auch hier nicht sichtbar wird: die Algorithmen, die Amazon immer effizienter machen, Kundenbedürfnisse durchleuchten und daraufhin Prozesse immer weiter anpassen. Effizienz kann ziemlich chaotisch aussehen. Etwa, wenn die gelben Lagerregale auf Robotern durch die Halle zu schweben scheinen. Das ist Teil des Konzepts: Bei der „chaotischen Lagerhaltung“ landen Produkte dort, wo Platz ist und es Sinn macht. Der Computer erstellt den Plan, denn irgendwo auf den Servern von Amazon lagert die Erkenntnis, dass Käufer von Katzenfutter mit erhöhter Wahrscheinlichkeit auch Grillzangen und Hausschuhe ordern. Deshalb werden Katzenfutter, Grillzangen und Hausschuhe in einem Regal aufbewahrt. Dann müssen die Transportroboter bei Eingang der Bestellung nur ein Regal zum Mitarbeiter bringen, statt drei durch die Halle zu kutschieren. Beim Entnehmen der Artikel sagt ein Computer, wo was liegt und zeigt sogar ein Produktfoto an. Der menschliche Mitarbeiter muss nicht denken. Nur zugreifen und das Atmen nicht vergessen. Je mehr Bestell-Daten vorliegen, desto mehr Wissen generiert Amazon. Desto sinnvoller werden Produkte eingelagert. Diese Daten und ihre Analyse sind wertvoller als alle Produkte, die in der gesamten Winsener Werkshalle lagern. Sie sind der Zaubertrank des Konzerns. Das Unternehmen spricht

von „unterschiedlichen Subsystemen“, die alle Eigenentwicklungen seien. Daten und Roboter hin oder her: In der Päckchenfabrik gibt es auch kuriose Jobs für echte Menschen. Auf seinem Rundgang durch die Halle stoppt Norbert Brandau bei Julia – es wird geduzt bei Amazon. Julia misst mechanisch wie ein Uhrwerk Produkte aus. Denn jedes neue Produkt im Sortiment muss in Länge, Breite, Tiefe und Gewicht erfasst werden – und wenn der Hersteller die Daten nicht liefert, muss Julia ran. Hinter ihr stapeln Kollegen Transportwannen voller Ware auf Förderbänder, wieder andere stecken sie in Fächer. Auch fast alle Pakete werden von Hand gepackt. Aber natürlich spielt auch hier Technologie eine entscheidende Rolle: Das System weiß, welches Produkt als nächstes kommt. Dank Julia weiß es auch, wie groß es ist. Entsprechend gibt es den Einpackern die Größe des Kartons vor. Die Arbeiter müssen nur noch legen, falten, zukleben, aufs Band legen. An 65 Stellen rutschen fertige Pakete vom Band und von dort in Lastwagen-Container. 65 Stellen sind es, weil die Paktdienste von hier aus 65 ihrer Sortierzentren beliefern. Auch in diesem System ist nichts dem Zufall überlassen, Norbert Brandau zeigt auf die Linie 434: Dort rutschen die DHLPäckchen für Hamburg runter, die noch am Abend ankommen sollen. Die letzte Lieferung geht um 2:45 Uhr raus: ein Hermes-Container voller Pakete, die schon ein paar Stunden später in Hamburg ausgetragen werden. Amazon knüpft ein immer engmaschigeres Netz durchs ganze Land. Die nächsten Logistikzentren sind im Bau, für jedes sind Hunderte Jobs ausgeschrieben – trotz all der Software und Roboter. Aber wie lange braucht es noch Menschen, die greifen, packen, stapeln? Eine Prognose wagt Norbert Brandau nicht. „Technologiediskussionen finde ich meistens müßig – es ist spannender, neue Perspektiven zu finden, neue Methoden.“ Aber auch: „Ich bin sehr vorsichtig mit Äußerungen, wie weit unsere Technologie geht.“ Seine Vorsicht ist im Prinzip schon Äußerung genug. Sie bedeutet: Da kommt wohl noch einiges.

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In nützlichen Netzen Peter Jäger und Thomas Scheibel forschen an den meist gefürchteten Netzwerkern unter den Tieren: Spinnen. Jäger will ihr Image verbessern und ihre Zukunft sichern. Scheibel mit ihrer Hilfe Herzen heilen Von Anne-Nikolin Hagemann (Text und Fotos)

David Bowie kommt aus Malaysia: Peter Jäger hat die Spinne entdeckt – und sie wegen ihrer orangefarbenen Haare nach Bowie benannt



Weil Spinnen „keine Sympathieträger“ sind, bringt Peter Jäger sie ins Rampenlicht


Der Spinnenmann Peter Jäger sucht auf der ganzen Welt nach neuen Spinnenarten, um PR für sie zu machen. Denn Spinnen haben einen miesen Ruf – sogar schlechter als Haie

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avid Bowie leuchtet schrill und ist ziemlich behaart. Loriot ist unscheinbarer, ziemlich klein und überhaupt sehr leicht zu übersehen. Berühmt gemacht hat sie beide derselbe Mann: Dr. Peter Jäger, Arachnologe. Oder war es umgekehrt? Heteropoda davidbowie und Otacilia loriot, wie die beiden Spinnen mit vollen Namen heißen, sind zwei von mehr als 300 Arten, die Jäger im Laufe seines Lebens entdeckt und beschrieben hat. Eine dritte ist die Heteropoda maxima: mit einer Beinspannweite von bis zu 30 Zentimetern die bislang größte Spinne der Welt. 2003 sind Peter Jäger und ein Team durch Höhlen im Dschungel von Laos gekrochen, um sie zu finden. Ein Fernsehteam hat sie begleitet, das Video gibt es heute noch auf YouTube. Zu Musik wie aus einem Actionfilm klettern die Forscher ins Dunkle; freuen sich wie verrückt, wenn der Taschenlampenstrahl auf etwas schnell Krabbelndes wenige Zentimeter vor ihrem Gesicht fällt. „Peter Jäger, der Jäger“, wie ihn der Off-Kommentar mit Bruce-Willis-Stimme nennt, greift mitten hinein in eine lebende Wand aus Weberknechten, sein Kollege fängt schließlich die Riesenspinne mit bloßen Händen. Viel zu viele viel zu lange Beine strampeln in die Kamera. Ein Alptraum für jeden Spinnenphobiker. Trotzdem kann man nicht wegsehen, auch wenn sich die Haare im Nacken aufstellen und es überall zu krabbeln scheint. Die Spinne, sagt Peter Jäger, ist kein Sympathieträger: „Sogar Haie stehen besser da.“ Aber sie ist eben auch „keine Assel, die kein Schwein kennt, über die noch nie jemand einen Horrorfilm gesehen hat.“ Diese Ambivalenz, die Mischung aus Ekel und Faszination, die die meisten Menschen beim Anblick einer Spinne spüren: Das, sagt Jäger, mache es ihm einfach, den Spinnen und seiner Forschung Öffentlichkeit zu verschaffen. „Eigentlich braucht die Spinne keinen PR-Berater. Die kommt auf die Bühne und schillert. Ich ziehe nur den Vorhang beiseite und sorge dafür, dass Leute im Publikum sitzen.“ Wenn Peter Jäger über Spinnen spricht, bekommt seine Stimme einen weichen, fast zärtlichen Klang. Sein lichtdurchflutetes Büro im Frankfurter Senckenberg-Forschungsinstitut ist noch nicht vollständig eingeräumt. Gerade ist die Sektion Arachnologie, die er leitet, in einen neuen Gebäudeteil gezogen. Seinen Balkon darf er noch nicht betreten, Stühle für den Besprechungstisch fehlen noch. Aber riesige Makrofotografien von Spinnen hat Jäger schon an die Wände gehängt. Jedes Härchen an den mehrgliedrigen Beinen erkennbar, acht glänzende Augen im Zoom groß wie Tennisbälle, Kieferklauen groß wie Kinderköpfe. Es kann passieren, dass es mitten im Erzählen über Lebensweisen, Fangmethoden und Eigenarten verschiedener Arten plötzlich aus Peter Jäger herausbricht, begleitet von freudigem Erschauern: „Hach, sind Spinnen nicht toll?“ turi2 edition #6 · Netze

In seinem Leben, erzählt Jäger, habe ihn kaum jemand so lange begleitet wie die Spinnen. Seine erste hat er mit sechs Jahren gefangen, im Geräteschuppen seiner Eltern. Monatelang hat er sie gefüttert und beobachtet. Aber er erinnert sich noch heute, wie sein Herz gepocht hat, als er sie anfassen wollte. Wie er gezittert hat am ganzen Körper, als er sie dann endlich hatte, sicher im Gurkenglas. Auch bei seiner ersten Vogelspinne, die ihm seine Eltern zum 15. Geburtstag geschenkt haben, musste er sich überwinden, sie sich erst über die Fingerspitzen laufen lassen, dann über die Hand, bis er sie schließlich halten konnte. Ganz vorsichtig. Bald hat er 30 Vogelspinnen zu Hause, züchtet selbst. Hat eine riesige Seidenspinne im Türrahmen hängen, das Netz ist mit rot-weißem Band gesichert, unter dem seine Besucher durchkriechen müssen. Das Lokalfernsehen von Paderborn berichtet über ihn. Über Spinnen geredet hat er damals schon gerne, mit jedem, der zugehört hat. Als Junge, sagt Jäger, sei er eher schüchtern gewesen. „Die Spinnen und das Wissen, das ich über sie gesammelt hatte, haben mir Selbstbewusstsein gegeben.“ Schon immer waren seine Spinnen eher Magnet als Hindernis beim Kontakte-Knüpfen. „Wahrscheinlich habe ich damit mehr Mädels in die Bude gekriegt als mit einer Briefmarkensammlung.“ Jäger glaubt, anders als viele Entwicklungspsychologen, dass nicht die Angst vor Spinnen, sondern die Neugier auf sie angeboren ist. Er glaubt aber auch, dass die Abneigung gegen sie etwas ist, das sehr schnell gelernt wird. Dafür, sagt er, müsse man noch nicht einmal einen Horrorfilm über den Angriff der Riesen-Killerspinnen schauen. „Es reicht schon, wenn die Oma mit dem Enkel auf dem Spielplatz ist und sagt: ‚Schau, ein Schmetterling‘“, hier ist Jägers Stimme hoch und verzückt, „und dann: ‚Schau, eine Spinne‘.“ Seine Stimme hier: angeekelt und abgehackt. Mittlerweile versucht Peter Jäger nicht mehr, Phobiker davon zu überzeugen, dass Spinnen etwas Tolles sind. „Man wird gelassener“, sagt er. Dieses Jahr wird er 50. Es gibt mehr als 47.000 bekannte und beschriebene Spinnenarten. Jäger geht davon aus, dass das etwa ein Zehntel aller Arten auf der Welt ist. Und er glaubt: „Man will nur schützen, was man kennt. Wenn niemand Flipper gesehen hätte, würde niemand Delfine retten wollen.“ Deswegen bricht er mehrmals im Jahr auf zu Forschungsreisen, vor allem nach Asien, Laos, Kambodscha. Sucht in Urwald und Höhlen, unter Blättern und Zweigen nach winzigen Lebewesen. Die kleinste Spinne, die er identifiziert hat, ist 0,6 Millimeter groß. Das Gefühl, sagt er, ist übrigens jedes Mal genau das gleiche wie damals im Geräteschuppen. Eine freudige Anspannung, eine staunende Faszination. Und dann überlegt er sich, wie er die Spinnen bekannt machen kann, Menschen ins Publikum holen, den Vorhang

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für sie beiseite ziehen. Ein Pitch für Spinnen, PR-technisch gesprochen, ist einfach, sagt Jäger. Beginnen würde er ihn so: „Wenn sie von heute auf morgen nicht mehr da wären, würden wir alle ersticken. Weil die Luft voller Insekten wäre.“ Zu jeder Spinne gibt es eine eigene Geschichte. Die Speispinne, gefleckt wie ein Leopard, schleicht wie das Raubtier leise und unbemerkt durch unsere Wohnungen, auf der Suche nach Silberfischchen, die sie mit giftigem Leim bespucken kann. Bei der Listspinne müssen die Männchen zur Paarung ein Beutetier als Geschenk mitbringen. Manche sind hinterhältig, bringen ein bereits ausgelutschtes Exemplar mit oder klauen es dem Weibchen nach dem Sex und gehen zur nächsten. Oder die Springspinnen, „niedlich mit ihren großen Augen“ findet sie Jäger, die nicht nur ihre Beute aus der Entfernung anspringen, sondern auch hüpfende Balztänze für ihre Partner entwickeln. Und natürlich Heteropoda davidbowie, die Jäger 2009 in Malaysia entdeckte. Für ihn und seine Kollegen der größte PR-Erfolg. Durch den Namen, der auf das kontrastreiche Muster und die gelb leuchtende Behaarung der Spinne anspielt, hat er es geschafft, „in den letzten Winkel des InternetUniversums“ die Nachricht zu bringen, dass der Lebensraum dieser Spinne in Gefahr ist. In Hardrock-Foren, Tattoo-Chatrooms, Musik-Magazine. „Zu Menschen, die wir als Wissenschaftler sonst nie erreicht hätten.“ Peter Jäger erzählt die Geschichten der Spinnen mit der Begeisterung eines Serien-Junkies, der die letzte Folge vor dem Staffelfinale zusammenfasst. Kleine Dramen, große Gefühle, das pralle Leben. Eine Kollegin von ihm, 87 Jahre alt, habe mal zu ihm gesagt: „Peter, ich brauche keine Religion. Ich schaue einfach durch mein Binokular.“ Bis heute nimmt sie keine Medikamente. Wenn sie sich müde fühlt, betrachtet sie ihre Springspinnen aus Borneo. Vielleicht, sagt Peter Jäger, wolle er mit seiner Arbeit auch den Spinnen etwas zurückgeben, weil sie ihm so viel gegeben haben. Ihnen ihre Zukunft sichern, weil sie ihn in der Vergangenheit zu dem gemacht haben, der er heute ist. Noch heute sind sie ein Magnet für Kontakte – mit anderen Kulturen, neuen Kollegen, interessanten Menschen. Von seinen Reisen bringt er nicht nur neue Arten, sondern jedes Mal auch Welt­offenheit mit nach Hause. Die internationale Community der Spinnenforscher ist recht überschaubar, man kennt sich ­untereinander. Und hat „ein wahnsinnig

Jäger: „Wenn man ein gutes Netz haben will, kann man keinen Faden durchschneiden. Man muss es immer wieder kontrollieren und erneuern, damit es nicht an Kraft nachlässt. Außerdem lohnt sich ein Blick auf die etwa 100 sozialen Spinnenarten: Sie bauen zusammen Netze, machen Arbeitsteilung – manche passen auf den Nachwuchs auf, andere jagen, wieder andere arbeiten“ 166

Peter Jäger hielt schon als Jugendlicher 30 Vogelspinnen. Heute zieren großformatige Makroaufnahmen der Tiere seinen Arbeitsplatz



geiles Netzwerk“, sagt Jäger. Er habe Kollegen in London, Brisbane, Singapur, bei denen er jederzeit übernachten könne. Spinnenmenschen seien „oft einfach ein bisschen anders als andere“. Gemeinsam anders sein, das schweißt einfach zusammen. Es gibt sogar einen gemeinsamen Spinnen-Song, „Le Chant des Arachnologistes“, geschrieben von Spinnenforscher Pierre Bonnet, gesungen auf die Melodie des französischen Volkslieds „Les Montagnards“. Fünf Strophen, schmetternder Refrain. Kleiner Auszug: „Chantez en choeur, des araignés et des scorpions, beauté, charme, frayeur!“ – „Singt im Chor,

Spinnen und Skorpione, Schönheit, Charme, Schrecken!“ Lange Zeit wurde das Lied bei jedem internationalen Arachnologen-Treffen gesungen. Peter Jäger summt leise. Er blickt aus seinem Bürofenster über die Dächer von Frankfurt, vorbei an den Spinnenbildern im Großformat. Eine Version der Spinne im Film gibt es, die er ganz gut finde, sagt er. Spiderman, natürlich. „Geniale Story: Die Spinne beißt, der normale Typ wird zum Superhelden, dem Fäden aus den Händen schießen.“ Ob er selbst gerne Spiderman wäre? „Na klar!“ Er zielt mit den Handballen auf die grauen Hochhäuser der Stadt.

Foto: Picture Alliance

Ein Spinnennetz dient zum Beutefang, als Fortbewegungsmittel – aber auch als Schutz

6 Arten, wie Spinnen Netze nutzen Luftblase: Im Laufe der Evolution waren Spinnen zuerst Kiemenatmer, zogen dann die Kiemen nach innen und wurden Luftatmer. Eine Funktion des Netzes war, eine Luftblase zu bilden, wenn die Spinne von Wasser überspült wurde. Auch heute noch machen sich das einige Spinnen zunutze Fortbewegungsmittel: An einem schwebenden Faden können Spinnen mehrere Kilometer durch die Luft reisen und so neue Lebensräume besiedeln. Dieser Vorgang heißt in der Fachsprache „Ballooning“

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Bewegungsleiter: Eine Vogelspinne spannt einzelne Fäden aus ihrer Höhle nach draußen. So kann sie spüren, was dort passiert, ohne ihr Versteck zu verlassen Beutefänger: Die Radnetze entwickelten sich im Laufe der Evolution – sobald es Fluginsekten gab, die aus der Luft gefangen werden konnten. Es gibt unzählige Varianten des Beutefangnetzes: Einige Spinnenarten locken Schmetterlinge ins Netz, indem sie es mit nachgeahmten SchmetterlingsSexualpheromonen versetzen. Andere Arten spannen winzige Netze zwischen ihren Füßen, die sie über die Beute stülpen können

Fortpflanzungshelfer: Männchen benutzen Spermanetze, um ihre Samenflüssigkeit kurz zu deponieren, bevor sie sie in die Kopulationsorgane saugen. Weibchen weben mit Fäden Kokons, in denen sie ihre Eier einhüllen. Anhand eines Seidenfadens können mögliche Paarungspartner auch Geschlecht und Art einer Spinne riechen und diese finden Schutz: Während der Häutung sind Spinnen leichte Beute. Sie können sich in ihr Netz einweben, um nicht gefressen zu werden

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Der Seidenspinner Thomas Scheibel interessiert sich vor allem für ein Produkt der Spinnen: ihre Seide, die sogar ein Flugzeug stoppen könnte

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nfang der 2000er Jahre, als Spiderman in den Kinos lief und Peter Jäger auf der Suche nach der größten Spinne der Welt durch Dschungelhöhlen kroch, fing die Welt an, sich für Spinnenseide zu interessieren. Auch Thomas Scheibel, Professor am Lehrstuhl für Bio-Materialien der Universität Bayreuth. Betrachtet er ein Spinnennetz, sieht der Biochemiker ein mechanisches Wunderwerk. Mit dem sich Beutetiere in vollem Flug fangen lassen – bei manchen Spinnenarten sogar Vögel. Spinnenseide, sagt Scheibel, ist das zähste Material, das es gibt. Das heißt: Andere Fasern sind entweder extrem dehnbar, wie Gummi, oder extrem reißfest, wie Stahl. Spinnenseide ist beides. Ein Faden ist dabei nicht elastisch, federt also nicht zurück. Wird ein Insekt im Netz gestoppt, verteilt sich dessen Bewegungsenergie in den Seidenfasern. Die haben dabei nur einen Durchmesser von einem Tausendstel Millimeter. Mit einem daumendicken Seil aus Spinnenseide könnte man nach dem gleichen Prinzip eine landende Boeing 747 zum Stehen bringen. „Allerdings läge der Bremsweg dann bei 3,8 Kilometern“, sagt Scheibel, „in der Praxis wird das also schwierig.“ Dass die Praxis der Theorie im Weg steht, ist auch Anfang der 2000er so. Nach der anfänglichen Begeisterung für Spinnenseide scheitern viele an deren Herstellung im großen Stil. Denn: Die Produzenten haben die unangenehme Angewohnheit, sich gegenseitig aufzufressen. „Die meisten Spinnen sind kannibalisch veranlagt“, sagt Scheibel, „wenn Sie zehn zusammen in eine Box sperren, sind nach ein paar Tagen maximal zwei übrig.“ Als die anderen aufhörten, am Thema zu forschen, habe es ihn gereizt, damit anzufangen. Thomas Scheibel und sein Team identifizieren die ProteinMoleküle, aus denen Spinnenseide besteht und suchen dann nach einem neuen Wirt, der diese herstellen kann. Sie finden: Darmbakterien. Sie übersetzen den ErbinformationsCode der Seidenmoleküle so, dass er von den Bakterien gelesen und verarbeitet werden kann. Dann stellen diese die Moleküle im Labor her. Was sich so in ein paar Sätzen zusammenfassen lässt, ist für Thomas Scheibel ein wissenschaftlicher Durchbruch: Um Spinnenseide herzustellen, braucht man keine Spinnen mehr. In den Räumen des Lehrstuhls in Bayreuth leben trotzdem welche. Im Flur steht ein begehbarer Glaskasten, in dem eine Seidenspinne gerade ihr Netz webt, gut anderthalb Meter im Durchmesser. Vier weitere, etwa zehn Zentimeter große Exemplare sitzen über den Köpfen der Mitarbeiter frei in ihren Netzen in einem Büro. Eine heißt Diva, ist ein bisschen eigensinnig und baut ihr Netz schon mal da, wo sie gerade möchte. Zum Beispiel vor dem Computerbildschirm. Die drei anderen sind benannt nach putzigen Figuren aus der Zeichentrick-Serie Spongebob – weil die ihnen einfach so ähnlich seien, vom Charakter her, da ist man sich im Team einig: Patrick Star, in der Serie ein begeisterungsfähiger, aber naiver Seestern. Sandy, ein temperamentvolles Eichhörnchen. Und Don, ein knuffiger Wal. Ein Büro weiter lebt Vogelspinne Saba. Neben ihrem Terrarium hängt ihr Porträt als Kinderzeichnung, gemalt von der Tochter eines Mitarbeiters. Die Spinnen, sagt Thomas Scheibel, sind für sie PR-Mitarbeiter. Wenn die Forscher ihre Erkenntnisse präsentieren,

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Keine Angst vor Krabblern: In Thomas Scheibels Büro dürfen Spinnen über Hände laufen und an Wänden weben. Nur manche bleiben im Terrarium

Scheibel: „Eine Spinne baut einmal ein Netz, das sie ihr ganzes Leben lang nutzt. Dessen Mechanik hängt von der Zahl der Verknüpfungspunkte ab. Je mehr das sind, umso besser wird die Energie verteilt. Wenn ein Einschlag kommt, nimmt das gesamte Netz ihn auf und formt sich wieder zurück zum Ursprung, ohne dass ein Schaden entsteht. Wenn ich mein Netz also richtig knüpfe, profitiert jeder, der im Netz verknüpft ist.“ auf Messen, Tagungen oder anderen öffentlichen Veranstaltungen, haben sie meistens eine von ihnen dabei. Spinnen faszinieren, sie locken die Menschen an. „Und dann kann man anfangen, vom wissenschaftlichen Hintergrund zu erzählen.“ Denn Spinnenseide kann so viel mehr sein als ein Faden, der zu einem Netz gesponnen wird. Auf der Haut bildet sie einen Film, auf dem Bakterien nicht haften bleiben und einfach mit Wasser abgespült werden können. So eignet sie sich als Zusatz in Cremes und Salben. „Auch in der Medizin eröffnen sich ganz neue Möglichkeiten“, sagt Scheibel. Die Forscher haben zum Beispiel entdeckt, dass mit Spinnenseide beschichtete Implantate vom Körper nicht als fremd erkannt und daher nicht abgestoßen werden. Gerade werden solche Brustimplantate im praktischen Einsatz am Menschen getestet. Sie könnten noch dieses Jahr auf den Markt kommen. Eine andere Eigenschaft von Spinnenseide macht sie zur idealen Füllung für medizinische 3-D-Drucker: Sie ist formkonstant. Das heißt, unter Druck lässt sie sich verformen und behält diese Form anschließend bei. „Ein bisschen wie Zahnpasta“, findet Scheibel, „die drücken Sie aus der Tube und dann bleibt sie oben auf der Bürste liegen.“ Man könnte theoretisch irgendwann ganze Organ-Implantate aus Spinnenseide drucken. Das liegt aber noch in weiter Ferne. Im Augenblick forschen Scheibel und seine Kollegen an Herz-Pflastern aus Spinnenseide, die abgestorbenes Muskelgewebe nach einem Infarkt ersetzen könnten. Was sie bisher wissen: Setzt man Herzmuskelzellen auf ein Geflecht aus Spinnenseide, fangen diese an, sich zu verknüpfen und turi2 edition #6 · Netze

synchron anzuspannen. Und bilden so nach und nach wieder ein winziges, schlagendes Stückchen Herz. Auch außerhalb der Medizin lässt sich Spinnenseide verwenden. Am Lehrstuhl in Bayreuth versuchen sie gerade, damit Treibstoff für einen Fahrzeug-Antrieb zu entwickeln. Dafür haben die Forscher Fasern hergestellt, die mithilfe von Licht Wasser in Sauer- und Wasserstoff spalten. Daraus wollen sie stabile und gleichzeitig filigrane Netze weben, durch die man Wasser so pumpen kann, dass dieser Vorgang konstant abläuft. Dann könnte man einen Motor entwickeln, der mit Wasser betankt wird, mit Wasserstoff läuft und nichts als reinen Sauerstoff ausstößt. Ein bisschen Richtung Spiderman wurde natürlich auch geforscht: Für Adidas haben sie einen Laufschuh aus Spinnenseide entwickelt. Die Seidenfasern werden dafür maschinell zu Fäden gesponnen, aus denen man individuelle Schuhe 3D-stricken kann. Den Prototyp hatte Thomas Scheibel schon an. Leicht fühlt er sich an, sagt er. Fußgeruch sei auch kein Problem, die Bakterien kann man schließlich mit Wasser abspülen. „Und wenn Ihnen das Design nicht gefällt, können Sie ihn aufessen: reines Protein. Nur ein bisschen zäh.“ Vielleicht ist das eine Hilfe für alle, die beim Anblick einer Spinne erschaudern: Sich eine Zukunft vorzustellen, in der wir alle ein bisschen Spiderman sind. Wenn wir unsere Spinnenschuhe schnüren, in unseren Spinnennetz-betriebenen Autos fahren und mit Spinnenseide-Pflastern unsere Herzen am Schlagen halten. Thomas Scheibel zumindest sagt: Früher hat er Spinnen in seiner Wohnung mit dem Glas gefangen und nach draußen gesetzt. Heute trägt er sie auf Händen.

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Thomas Feicht ist kein Verleger, sondern Werber. Und hat einen genialen Dreh gefunden, erfolgreich Verlagsgeschäfte zu machen – ganz ohne Verlag: Er setzt auf eine Community von „Gut-Machern“


Zwanzig Netzwerker 19.) Thomas Feicht

Print bringt’s nicht mehr? Von wegen: Thomas Feicht hat „Lust auf Gut“

In einem Alter, in dem andere die Rente genießen, zieht Thomas Feicht ein raffiniertes Netzwerk von anzeigenfinanzierten Stadtmagazinen im Buch-Look auf Von Peter Turi und Baschi Bender (Fotos)

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kay, wie ein jung-dynamischer Startupper sieht Thomas Feicht nicht gerade aus. Und er spricht auch nicht wie ein glühender Medien-Disrupter. Und doch hat Feicht – schütteres Haar, Fusselbart, Kassenbrille, Schlabberpulli, leiser hessischer Singsang – einen ganz eigenen Weg gefunden. Einen eigenen Weg, hochwertige Stadtmagazine quer durch Deutschland zu etablieren und sie auch in die Schweiz und nach Österreich zu bringen. Thomas Feicht, Jahrgang 1950, könnte ein netter 68er-Opi sein, der von

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Vietnam- und Friedensdemos erzählt; von Heldentaten im Hüttendorf an der Startbahn West. Doch der Eindruck täuscht: In Wahrheit zieht Feicht mit bemerkenswerter Energie und einer Riesenportion Chuzpe ein Netzwerk von klug durchdachten Stadtmagazinen auf – oder sollte man sagen: Werbebroschüren? Es erscheint mit über 100 Ausgaben und 22 Lizenznehmern in 29 Städten und Regionen in drei Ländern. Bauernschlau und wortgewandt hat Feicht das eigentlich profane Geschäft mit lokalen Anzeigen auf ein neues Niveau gehoben: Seine Magazine sind

gebunden wie Bücher, 100 und mehr Seiten dick, fühlen sich mit starkem, offenem Papier gut an – und sind doch getarnte Werbung. Seine Marktlücke definiert Feicht so: „Wir machen für den Mittelstand was Visuelles.“ Es gibt fast keine längeren Texte, dafür jede Menge ästhetische Bilder von netten Menschen, leckerem Essen und schönen Objekten. Das Wort Anzeige taucht nirgends auf. „Wir sagen Darstellung, nicht Anzeige“, betont Feicht. „Lust auf Gut“ sieht Feicht als die „neue Art, angenehm unwerbliche Werbung herzustellen“. Das erreicht

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„Lust auf Gut“ arbeitet nicht mit Anzeigenkunden, sondern „Gut-Machern“ und „Für-Sprechern“. Die loben und liken sich auch mal gegenseitig

er mit einem simplen Trick: Die Seiten sind mit PR-Texten und -Bildern über den lokalen Kunden gefüllt – aber immer ohne dessen Logo und Schriftzug, stattdessen in der durchgängigen Gestaltung eines Magazins. Die Artikel sind zwar pure PR, aber irgendwie doch nicht plumpe Werbung. Feicht vermeidet es geschickt, als Werbeplattform rüberzukommen. Er setzt auf Kultur und Netzwerk – was er allerdings weit definiert: „Wir vernetzen (sagt man ja heute so) die klassische Kultur mit der Auftrags-Kultur (Architektur, Design, Fotografie, Gestaltung), der kommerziellen Kultur (Marken) und dem qualifizierten Handel (auch Galerien)“, heißt es in einer Selbstdarstellung. Am Ende ist irgendwie alles Kultur, auch wenn es nur um Brillen, Bürostühle oder Badewannen geht. In seinem Vorleben war Feicht erfolgreicher Werber. Trust hieß seine Agentur in Frankfurt, die in besten Zeiten mit Werbung und Corporate Design 12 Millionen Euro Jahresumsatz machte und 120 Mitarbeiter beschäftigte. In einem Porträt aus dem Jahr 2005 notierte die „FAZ“ bei Feicht drei Visitenkarten, Lederjacke, Dreitagebart und sein Lebensmotto: „Ich will so spät wie möglich verblöden.“ Das gilt bis heute. Feicht ist jetzt 67 Jahre alt. Geboren wurde er 1950 in Stuttgart, 1967 begann er eine Schriftsetzerlehre bei der Deutschen Verlags-Anstalt. Ab 1970 studierte Feicht in Mainz an der Fachhochschule für Gebrauchsgrafik. Der Gebrauchsgrafiker Feicht – und mehr noch der Werber – kommt in seinem Projekt überall durch. Er legt Wert auf edle Gestaltung, findet immer

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schöne Worte für profane Dinge: Die Firma hinter „Lust auf Gut“ heißt hochtrabend Republic of Culture (RoC), die Lizenznehmer stehen im Impressum als „RoC-Botschafter“. Die Anzeigenkunden sind „GutMacher“, sie loben und liken sich im Internet unter lust-auf-gut.de gegenseitig und sind dann „Für-Sprecher“. Bei der Vorstellung neuer Magazine treffen sie sich bei einem der Inserenten – Pardon: Gut-Macher. Aus einem simplen Treffen wird die „persönliche NetzwerkPlattform“. Da lädt dann Zahnarzt Dr. Pimplhuber zur Launchparty in die Praxis und darf Sekt und Schnittchen bezahlen, sich wichtig fühlen und auf neue Kunden hoffen – die Party als Brücke zur Brücke quasi. Der Community-Gedanke führt bei Feicht zum „Koch-Schwätz-Kennenlern-Dinner“. Corporate Publishing heißt bei ihm Culture Publishing. Wenn der Kunde ein ganzes Heft zahlt, wird aus „Lust auf Gut“ für das Hofgut Liederbach schnell mal ein „Lust auf Hofgut“. Die Kunden gewinnt Feicht mit günstigen Preisen und hält sie mit dem Gefühl, bei einer guten Sache dabei zu sein. „Bei uns ist das ganze Heft bezahlt, außer Kultur und Soziales.“ Das liegt ihm am Herzen, das schmückt seine Magazine. Dafür räumt er bis zu 20 unbezahlte Seiten ein. Für den Kunden ist die Werbung billig: 700 Euro für eine Seite gestaltete Werbung, 80 Beleg-Exemplare, mit denen man bei Freunden und Kunden Eindruck schinden kann, sind im Preis mit drin. Die doppelseitigen Anzeigen – Pardon: Darstellungen – kosten 1.250 Euro. „Für kleines Geld ein großer Auftritt“, sagt Feicht.

Für 300 Euro extra kriegt der Kunde auch noch schöne Fotos von sich, die Lizenznehmer vor Ort – Pardon: RoC-Botschafter – sind meist Werber oder Gestalter, die ihre „Lust auf Gut“Ausgaben nach Feichts vorgegebenen Standards komplett selbst bauen. Ihr Hauptvorteil: Akquirieren sie genug Gut-Macher, schreiben sie ordentlich Umsatz und bekommen zusätzlich Kontakt zu möglichen neuen Auftraggebern. Der Copypreis von 9 Euro ist nur pro forma aufgedruckt, ein „schwäbisches Geschenk“, sagt der Schwabe Feicht: Der Schwabe lässt den Preis eben gern drauf, damit der Beschenkte sieht, was er ihm wert ist. Verteilt wird das Magazin hauptsächlich über die Anzeigenkunden. Feicht hält die Organisation und die Kosten schlank – auch weil ihm die Insolvenz seiner Agentur in Frankfurt noch in den Knochen steckt. Neue Magazine erscheinen nur da, wo es einen Lizenznehmer gibt und genug Inserenten mitziehen. Wenn 60 oder 80 Seiten verkauft und 50.000 Euro Umsatz zusammen sind, druckt Feicht das nächste Magazin. Reich wird er damit nicht, sagt er: Tausend Euro Lizenzgebühr zahlen ihm seine Botschafter pro Ausgabe. „Ich will keine Redaktion, wir sind eine Agentur“, sagt Feicht. Er hat den Verlag ohne Redaktion und ohne Vertrieb erfunden – und eigentlich auch ohne Anzeigenabteilung und ohne Mediadaten. Praktisch ein Verlag ohne Verlag. Startpunkt war 2010 das südbadische Freiburg, wo Feicht zusammen mit Lebensgefährtin Margot HugUnmüßig und deren Agentur Medirata sein eigener Botschafter ist. Thomas Feicht arbeitete sich über Frankfurt, Stuttgart, Karlsruhe, Baden-Baden und München vor bis nach Berlin. Und in Basel, Zürich, St. Gallen und Wien soll noch lange nicht Schluss sein. So gelingt Thomas Feicht im Kleinen, was mancher Verlag im Großen macht: Mit hochwertig Gedrucktem eine Bühne zu bauen, die Lesern und Anzeigenkunden das Gefühl gibt, Teil von etwas Größerem zu sein: einer Community, einer Lebenshaltung.

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ie Haare sind das Problem. Die kupferroten Haare verraten Patricia Schlesinger immer, auch, als sie mit knalligen Highheels in der Hand – für ihre 17-jährige Tochter – in der Kassenschlange eines Billigschuhladens steht. Der Mann hinter ihr grüßt mit Blick auf die hohen Hacken: „Guten Tag Frau Schlesinger, Sie sind meine Chefin.“ Zum Glück stört sich Schlesinger selbst beim Schuhshopping nicht daran, erkannt zu werden. Gehört zum Job. Auf Wochenenden „im Lieblings-T-Shirt zu Hause“ freut sie sich trotzdem. Die stehen nur nicht häufig auf dem Plan, denn Schlesinger ist ein Veranstaltungs-Tausendsassa. An drei bis vier Abenden in der Woche geht die 56-Jährige nach dem Büro nicht nach Hause, sondern zu Podiumsdiskussionen, Jubiläen und Co – oft auch am Wochenende. Kein Wunder, dass ihr Büro im 13. Stock des RBB-Gebäudes ein bisschen wie ihr Wohnzimmer wirkt. Dort verbringt sie die meiste Zeit. Berlin liegt im Nieselgrau, aber selbst das sieht von hier oben beeindruckend aus. Schlesinger, blaue Augen mit vielen Lachfältchen, dunkler Hosenanzug, spinnt von hier aus ihr Netzwerk. Dabei mag sie die Formulierung nicht: „Sie gibt das Richtige wieder, aber es ist schade, dass es kein besseres Wort dafür gibt.“ Drei wesentliche Aufgaben hat sie als RBB-Intendantin: „Strategie, Struktur und Kommunikation.“ Anders formuliert: Wo will sie hin mit dem Sender? Wie baut sie ihn dafür auf, wie überzeugt sie die Mitarbeiter? Überredungskunst muss Schlesinger selten anwenden, „viele sind bereit zur Veränderung“. Aber sie braucht Informationen von der Basis, Flurfunk. Wann immer es geht, setzt sie sich in der Kantine zu Mitarbeitern, plaudert auf dem Parkplatz und fragt im Fahrstuhl Mitfahrer, wer sie sind und wo sie arbeiten. Und dann ist da noch das Frühstück. Anfangs rieten ihr viele von der Idee ab, inzwischen hat sie Tradition: Alle paar Wochen lädt Schlesinger zwölf Mitarbeiter zu Kaffee und Croissants ein. Die Plätze werden per Los vergeben, oft bewerben sich bis zu 100 Leute. Es gibt keine Tagesordnung und kein Protokoll bei der informellen Runde

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„Treten Sie notfalls mal eine Tür ein. Tun Sie irgendwas, das andere nicht machen“ aus Redakteuren, Technikern, Fahrern und Poststellen-Mitarbeitern. „Die Befürchtung, alle würden hier Nörgeleien abladen, hat sich nicht bewahrheitet“, sagt die Intendantin. Beim Frühstück erfährt sie viel, etwas, das sonst „in so einem großen Laden“ nicht immer möglich ist. Doch Schlesinger netzwerkt nicht nur nach innen. Sondern auch mit den Intendanten der anderen Sender, mit Zuschauern, in letzter Zeit viel mit Verlegern – „aus bekannten Gründen.“ Journalistin ist sie nicht mehr. Ob ihr das fehlt? Eine richtige Antwort gibt sie nicht. Es sei ja kein harter Schnitt gewesen, sie habe schon vorher beim NDR den Weg ins Management eingeschlagen. Mit 16 Jahren weiß Schlesinger, dass sie Journalistin werden will. Kontakte in die Medienbranche hat sie keine, dafür Eltern, die sie lieber in der Wirtschaft sähen: „Medien waren etwas anrüchig“. Sie studiert in Hamburg Wirtschaftsgeographie, politische Wissenschaft, Sozial- und Wirtschaftsgeschichte. Ihre erste Station ist ein Volo beim NDR, wo sie für das ARDMagazin „Panorama“ arbeitet. „Meinem Vater war wichtig, dass ich unabhängig bin von Männern, wirtschaftlich gesehen. Mein Ding mache.“ Die Welt um sie herum ist damals noch nicht so emanzipiert. Ein älterer Kollege fragt, warum sie mit ihrem Aussehen denn politischen Journalismus machen wolle – statt Modethemen. Er spornt sie an, „weil mich das geärgert hat.“ Motivierender Ärger: Sie wird die erste Südostasien-Korrespondentin des Senders, geht später in die USA. Nach ihrer Rückkehr nach Deutschland steigt Schlesinger beim NDR zur Leiterin des Programmbereichs Kultur und Dokumentation auf. Ihr Team produziert den Dokumentarfilm „Citizen Four“ über Edward Snowden mit. 2016 zieht sie schließlich von der Elbe an die Spree: Der RBB-Rundfunkrat hat sie in sechs Durchgängen als Nachfolgerin von Dagmar Reim gewählt.

Ohne ihr Netzwerk wäre das nicht passiert, denn beworben hat sie sich nicht. „Intendant“, weiß auch Pressesprecher Justus Demmer, „ist eines dieser Ämter, die man nur bekommt, wenn man gefragt wird.“ Schlesinger wird empfohlen, der RBB-Rundfunkrat sucht einen Quotenretter. Dagmar Reims Idee, Quote mit dem Nachmittagsprogramm zu machen, hat nicht funktioniert. Deshalb klingen Schlesingers Primetime-Pläne doppelt sexy. Als sie nach Berlin zieht und den neuen Job antritt, besucht sie sämtliche Redaktionen. Sie trifft sich exzessiv mit Leuten, um die Struktur und Dynamik der Stadt kennen zu lernen, die wichtigsten Köpfe aus Politik, Wirtschaft und Kultur. Mit Berlin schließt sich auch ein Kreis in Schlesingers Familiengeschichte: Ihr Vater stammt aus dem Osten, die Eltern haben in Berlin geheiratet. Ihre Großeltern dürfen nicht raus aus der DDR, ihre Eltern und sie nicht rein – nur nach Ostberlin. Eines der beiden Bilder in ihrem Büro, das Schlesinger sich aus dem Kunstbestand des Senders ausgesucht hat, zeigt deshalb die Berliner Mauer: „Ich kann bis heute nicht am Brandenburger Tor vorbeigehen, ohne dass es mich berührt.“ Im Herbst 2016 bläst Schlesinger beim RBB zum Aufbruch. Am meisten geändert hat sich bisher das Fernsehen: In der Primetime zeigt der RBB jetzt an vier bis fünf Abenden der Woche eigenes Programm. Als Nächstes will sie den Hörfunk angehen, danach die Produktion: „Wir werden in Zukunft anders produzieren, ausschließlich digital. Die klassische Produktion wird sich verändern, das wissen wir alle.“ Schlesinger mit ihrem journalistischen Hintergrund verfolgt den Wandel ihres Senders nicht von der Zuschauertribüne aus, sie ist mittendrin. Und hat kein Problem damit, das auch ihren Mitarbeitern zu raten: „Treten Sie notfalls mal eine Tür ein. Tun Sie irgendwas, das andere nicht machen.“ Zum Beispiel frühstücken.

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Zwanzig Netzwerker 20.) Patricia Schlesinger

Die Frühstücksfrau RBB-Intendantin Patricia Schlesinger baut mit 3.500 Mitarbeitern Image und Programm des Senders um. Und holt sich wichtige Ideen dafür per Losverfahren Von Anne Fischer und Gundula Krause (Foto)


Internet in Zahlen von Tatjana Kerschbaumer

Prozent aller deutschen Haushalte haben einen Internetanschluss. Weltweit sind es rund 51 Prozent

Kilometer reist eine Google-Suchanfrage im Schnitt vom Nutzer zum Rechenzentrum und als Antwort wieder zurück. Sie braucht dafür rund 0,2 Sekunden

16 bis 20 Prozent aller täglichen GoogleSuchanfragen wurden noch nie zuvor gegoogelt

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Prozent der in Armenien genutzten Software sind Raubkopien. Unter den anständigsten Usern finden sich die Schweizer – bei ihnen beträgt die Raubkopie-Rate nur 25 Prozent

Zehn 149,45 2008 Zweitausendundfünf

lädt Gründer Jawed Karim das erste YouTube-Video überhaupt hoch. Es ist 18 Sekunden lang, trägt den Titel „Me at the zoo“ und zeigt Karim vor einem Elefantengehege

Euro kostet der schnellste derzeit käufliche GlasfaserAnschluss für Privathaushalte in Deutschland. Er liefert bis zu 1000 MBit/s Übertragungsgeschwindigkeit

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eröffnet die Uniklinik Mainz die erste deutsche Ambulanz für Computerspiel- und Internetsucht Prozent der deutschen Internet-User shoppen mindestens einmal pro Monat online. Nur Briten und Südkoreaner kaufen noch lieber im Netz

31 Millionen

Deutsche haben ein aktives Facebook-Profil. Weltweit verdrahtet das Netzwerk über 2 Milliarden Nutzer

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Jahre lang lebte die Chinesin Xiao Yun in Internet-Cafés. Sie war im Alter von 14 Jahren von zu Hause weggelaufen und hatte ihre Zeit danach hauptsächlich mit dem Shooter-Spiel Crossfire verbracht

Millionen WhatsApp-User gibt es in Deutschland. In China und Togo ist der Messenger seit September 2017 gesperrt

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etabliert sich der Begriff „surfen“. Erfunden hat ihn die amerikanische Bibliothekarin Jean Armour Polly – auf ihrem Mauspad war ein Surfer abgebildet turi2 edition #6 · Netze

Quellen: absatzwirtschaft.de, allfacebook.de, computerbild.de, kontor4.de, neubox.ch, pcwelt.de, statista.de, thieme.de, watson.ch, wikipedia.de

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Unter drei: Zwischen Jesus und Maria sucht Bischof Gebhard FĂźrst nach neuen Kommunikationswegen fĂźr den Glauben


„Was nicht im Netz ist, ist nicht in der Wirklichkeit“

Jahrhundertelang war die katholische Kirche das wichtigste Netzwerk in Politik, Kultur und Medien. Jetzt braucht sie neue Kanäle für ihre Botschaft – glaubt Bischof Gebhard Fürst Von Peter Turi und Sebastian Berger (Fotos)


MEDIENBISCHOF DR. GEBHARD FÜRST Der 69-Jährige ist Bischof der Diözese RottenburgStuttgart und Vorsitzender der Publizistischen Kommission der Deutschen Bischofskonferenz. Er ­ treibt einen Umbau der kirchlichen Öffentlichkeitsarbeit voran und setzt dabei vor allem auf Social Media und Video. Fürst ist Ehrenmitglied bei Rotary International und twittert unter @bischofgebhard In der Augmented-RealityApp zur „turi2 edition“ beantwortet Gebhard Fürst den turi2-Fragebogen – und verrät seine heimliche Schwäche turi2.de/edition/bischof


Herr Bischof, die katholischen Kirche lebt seit 2000 Jahren davon, eine frohe Botschaft zu teilen. Wie lautet Ihre Botschaft im Jahr 2018 nach Christus? Wir haben eine Botschaft, die zeitlos ist und den Menschen in seiner konkreten Situation so anspricht, dass sie ihm hilft, ihn tröstet, ihm Hoffnung und Perspektive gibt. Die Botschaft lautet: Das Heil ist durch Jesus Christus in die Welt gekommen.

„Das Erlebnis einer Osternacht ist unersetzlich. ­ Alle sitzen im Dunkeln, dann wird die Osterkerze als Symbol hereingebracht. Das Licht wird verteilt, es gibt Gemurmel und Bewegung, dann wird gesungen ‚Lumen Christi‘ – wow!“

War es früher einfacher, mit dieser Botschaft durchzudringen? Das ist gar nicht so leicht zu beantworten. Wenn wir mal zu den Wurzeln des Christentums gehen, circa 50 nach Christi Geburt: Da gab es nur wenige Christen im Römischen Reich, vielleicht ein paar Tausend. Die haben die christliche Botschaft durch ihr christliches Leben verbreitet, durch ihre Handlungen. Durch ihre Taten, sich besonders den Menschen zuzuwenden, die im Imperium Romanum nicht die großen Heroes waren, nicht im Rampenlicht standen, sondern eher die Schwachen, die Ausgegrenzten waren.

Und hat auch Medien genutzt – wir kennen ja die Paulus-Briefe. Das erste Medium war er selbst, sein Leben, seine Taten. Aber auch die Predigt, die gesprochene Sprache. Und dann hat er sehr viele Briefe geschrieben. Und es waren keine Tweets, sondern lange Briefe mit einer breiten und durchaus spekulativen Sprache. Aber die Leute haben die Briefe gern gelesen, weil sie wussen, dahinter steht die Person des Paulus.

Die Botschaft der Nächstenliebe. Vielleicht die größte Idee von allen. Das hat sich herumgesprochen, denn die Menschen haben sich gewundert. Das wissen wir aus der säkularen Literatur der damaligen Zeit. Sie haben sich gefragt: Warum gehen Christen mit den Menschen so anders um? Die Antwort war wieder die Praxis: Christen sehen und schätzen jeden Menschen unabhängig von seiner Leistung und seiner Produktivität und wollen ihm beistehen. Darin verkünden wir unser Gottesbild. Das heißt: Die Botschaft ist noch aktuell nach 2000 Jahren – aber müssen die Kanäle wechseln? Nur zum Teil. Am Anfang der Botschaft steht die Tat. Der große Apostel Paulus war unentwegt unterwegs...

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Also ohne das Medium Brief, die beschriebenen Papyri, kein Christentum? Ohne die Briefe und ohne Paulus als Briefschreiber wäre das Christentum im Römischen Reich nicht verbreitet worden. Paulus war eine große Autorität, von der alle wussten, dass er Zeugnis von Christus ablegen will, damit die Menschen das Heil finden. Dass sie Trost, Segen und eine Perspektive über das Leben hinaus haben. Also hat die Kirche von Anfang an neue Medien genutzt, um ihre Botschaft zu verbreiten. Absolut. Paulus hat einen ganz neuen Briefstil genutzt, ebenso die Evangelisten, also die Verfasser der Evangelien, die uns vom Wirken Jesu erzählen. Sie haben eine ganz neue Literaturgattung entwickelt, eine neue Art der medialen Vermittlung. Es sind Berichte über das Leben eines Menschen in seinen Abgründen, in seinem segensreichen Wirken, auch Nacherzählungen seiner

Geschichten und Gleichnisse. Also das, was wir heute Narrative nennen. Oder Storytelling... Unsere europäische Gesellschaft wäre nicht zu denken ohne das Medium des Buches und die große Präzision der mittelalterlichen Mönche, die Schriften so abzuschreiben, wie sie im Ursprünglichen verfasst sind. Wir haben von keinen frühen, auch weltlichen Schriften – ob das jetzt Platon ist oder Sokrates – eine so präzise und genaue Überlieferung wie von den Mönchen. Das kommt vom Respekt gegenüber der schriftlichen Botschaft. Die Experten sagen, dass das Zeitalter des Buches zu Ende geht und die Herrschaft des Digitalen beginnt. Für die Kirche ist es nur eine neue Art, wie die Botschaft zu den Menschen gebracht wird. Ich formuliere es mal ganz einfach: Was nicht im Netz ist, ist nicht in der Wirklichkeit. Deshalb müssen wir unsere Botschaft – und das dürfen dann keine ganzen Bücher sein, die man einfach digitalisiert – in die heutige Zeit übersetzen und auch mit den entsprechenden Bebilderungsmedien, also Bewegtbild, so arrangieren, dass die Menschen darauf aufmerksam werden. Und vielleicht den Aha-Effekt erleben: Das ist etwas, das für mich neu ist, hilfreich und sich lohnt, da mal hinzuschauen. Würden Sie sagen, dass die Kirche alle Medien nutzen muss, die es gibt?

Ja. Die Botschaft muss auf allen Kanälen zu den Menschen kommen. Wenn ich die Urbotschaft anschaue, war die immer auch dialogisch. Jesus spricht mit seinen Jüngern, er erzählt, beantwortet Fragen. Er spricht übrigens sehr bildhaft: Das Reich Gottes ist ein Schatz im Acker, sagt er. Das ist ein Bild. Dialogisch, visuell – da sind wir fast automatisch bei Social Media und Video. Hat die Kirche da Nachholbedarf? Sicher ist die Kirche noch nicht dort, wo wir sein müssten. Aber es gibt große Bemühungen, eine große Bereitschaft, es wird in den einzelnen Diözesen viel investiert an Manpower, Equipment und Kreativität. Was mir noch etwas fehlt, ist, dass wir das nicht nur in einzelnen Ortskirchen machen, sondern als Katholische Kirche in Deutschland insgesamt über die verschiedenen Kanäle crossmedial auftreten. An zentraler Stelle müssen wir noch weiter vorankommen. Sie sind Medienbeauftragter der Bischofssynode und damit zentral zuständig. Sie sind aber auch Bischof in der Diözese RottenburgStuttgart. Was machen Sie hier vor Ort? Wir haben seit vielen Jahren eine Pressestelle und haben auch schon früher Videos auf unsere Homepage gestellt. Aber jetzt setzen wir konsequent auf eine crossmediale Medienarbeit. Neben den Text treten Bilder und vor allem Video – das macht Kirche lebendiger. Dank meiner Mitarbeiter bin ich jetzt auch auf Twitter unterwegs. Es ist eine besondere Herausforderung, die Botschaften in den wenigen Zeilen so prägnant zu fassen, dass es gut rüberkommt und nicht missverstanden wird. Twittern Sie selbst? Aus zeitlichen Gründen komme ich nicht dazu, aber mir ist dieses Medium inzwischen vertraut. Wir besprechen den Inhalt

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„Beim Einzug in Jerusalem hat Jesus sich auf einen Esel gesetzt, weil er wusste, wie das wirkt. Wenn er das auf YouTube hätte präsentieren können, das wäre schon ein Event gewesen.“ eines Tweets vorab, meine Mitarbeiter setzen ihn auf und von mir wird er dann – in Anführungszeichen – abgesegnet. Folgen Sie dem Papst? Ja. Wo? In seiner wunderbaren Weise, den Menschen nahe

zu sein und zu begegnen. Er spricht durch die Gesten und die Orte, an die er geht, er gibt kaum Instruktionen – und das gefällt mir. Was der Papst jetzt macht, versuchen wir mit unseren bescheideneren Mitteln seit 15 Jahren in der Diözese. Wir gehen zum Beispiel an Heiligabend zu ­Menschen im Gefängnis. Oder wir gehen in die Hospi-

ze, wo Menschen sterben. Ich gehe an die Orte, an denen Menschen in existenziellen Situationen sind und möchte durch meine Gegenwart den Menschen Wertschätzung entgegenbringen. Wir wollen eine Geh-hin-Kirche sein, die nicht belehrt, sondern Solidarität mit den Menschen zeigt, die es notwendig haben.

Folgen Sie dem Papst auch auf Twitter? Neuerdings ja. Angenommen, zu Zeiten von Jesus hätte es YouTube schon gegeben – wäre der Menschenfischer aus Galiläa zum YouTube-Star geworden? Ich kann nur schwer in die innere Welt des Jesus von Nazareth hineinkriechen. Aber: Da hat sich einer auf nicht ganz erklärbare Weise auf uns, auf die Menschen eingelassen, hat ihnen Heil gestiftet und hat durch sein Leben den Menschen eine Botschaft übermittelt. Er hatte ein Gefühl für die Wirkung seiner Worte und Taten: Beim Einzug in Jerusalem hat er sich auf einen Esel gesetzt, weil er wusste, wie das wirkt. Er hat nicht das Kriegsross genommen, sondern den Esel, der Frieden bedeutet. Wenn er das auf YouTube hätte präsentieren können, das wäre schon ein Event gewesen. Jesus als Influencer! Ich glaube, die persönliche Begegnung kann das nicht ersetzen. Wir wissen, dass Jesus so eine Ausstrahlung hatte, dass die Menschen ihn berühren wollten. Ich glaube, das wäre digital nicht vermittelbar. Das Berühren ist ja auch heute für viele Menschen heilsamer als alles andere. Wenn sie einem Sterbenden, der nicht mehr sprechen oder hören kann, die Hand streicheln, ist das etwas Tröstendes – und digital nicht möglich.

Sankt Martin ist der Patron der Diözese RottenburgStuttgart, deren Bischof Fürst ist. Die Inszenierung des Sakralen – etwa durch SanktMartins-Umzüge – sieht er als „Ass im Ärmel der Kirche“

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Da sind die Grenzen des Digitalen? Absolut. Je stärker wir digitalisieren – was ja sein muss – desto mehr müssen wir Räume schaffen, wo die Menschen sich auch real treffen und berühren. Das kriegt das beste Video nicht hin. turi2 edition #6 · Netze


Trotzdem: Wenn es Jesus auf YouTube geben würde, wie groß wäre Ihr Wunsch, ihn zu sehen? (überlegt lange) Das wäre natürlich sehr gut. Aber die Zeit ist so lange zurück, dass es nicht denkbar ist. Video wird in der Kommunikation immer wichtiger – mancher sagt, Bewegtbild wird das Wort weitgehend ersetzen. Nicht für die Kirche. Das Wort bleibt wichtig. Und das gemeinsame Event. Das Erlebnis einer Osternacht ist unersetzlich. Alle sitzen im Dunkeln, dann wird die Osterkerze als Symbol hereingebracht. Das Licht wird verteilt, es gibt Gemurmel und Bewegung, dann wird gesungen „Lumen Christi“ – wow! Das ist auch ein Raumerlebnis, das Erleben von Gemeinschaft, das ist per Video nicht zu vermitteln. Die Kirche ist die älteste Marke der Welt, ihr Logo – das Kreuz – das größte und bekannteste überhaupt. Trotzdem leidet die Kirche wie alle Institutionen unter Machtverlust und Mitgliederschwund. Ist Ihr größter Feind die Zerstreuung, das Vesprechen des Smartphones, nie wieder Langeweile zu haben? Was kann die Kirche tun? Wir müssen das Erleben von Gemeinschaft hoch halten. Wir müssen die Menschen zur Osternacht einladen. Schwimmen lernt man nicht im Trockendock. Die Menschen müssen die Gemeinschaft erleben – und einander davon erzählen. Auch in Social Media? Teilen ist ja ein zentraler Begriff der Kirche. Absolut. Wir hatten Kinderchöre aus Puerto Rico da, ich war erfreut, wie sehr die jungen Leute über ihre Smartphones Bilder und Videos geteilt haben. Da ist Social Media eine echte Chance für die Kirche. Was ist die Digitalisierung – eher Segen oder Fluch? Fluch schon deshalb nicht, turi2 edition #6 · Netze

Über Kreuz: Einzelne Diözesen bemühen sich sehr um crossmediale Kommunikation. Die gesamte Kirche muss nachziehen

weil hier nicht etwas Unheilvolles passiert, ohne dass wir Einfluss nehmen können. Ich glaube, dass wir die Digitalisierung so gestalten können, dass sie positiv ist. Aber da haben wir eine große Aufgabe vor uns. Die Kirchen bemühen sich hier sehr, auch um medienpädagogische Begleitung. Die Menschen möchten sich weniger binden, sie meiden Vereine, Parteien, Gewerkschaften, ZeitungsAbos. Vernetzen sich nur noch lose, temporär und digital miteinander. Was kann die Kirche tun? Ich lese zur Zeit ein kleines Büchlein über die Asse, die die katholische Kirche noch im Ärmel hat. Ein Ass ist ihre ästhetische Dimension – die entdecken wir gerade neu. In einer Zeit, in der vieles totgeredet wird, wird das Zeichenhafte, das Sakramentale wieder wichtiger. Die evangelische Kirche merkt das und hat zum Beispiel unseren Diozösanpatron, den Heiligen Martin, der seinen Mantel teilt und den die Kinder im Kindergarten feiern, entdeckt

und ihn in ihren Kalender aufgenommen. Obwohl sie Heiligenverehrung eigentlich ablehnt. Sie spüren, dass über dieses Medium des Zeichens, der zeichenhaften Handlung, der Inszenierung des Martin-Umzugs in den Kindergärten, eine Dimension rüberkommt, die man durch noch so gute Predigten im schwarzen Talar nicht erreichen kann. Rein marketingtechnisch gesprochen ist die Kirche seit Jahrhunderten ein Meister der EventInszenierung. Wenn in einer Kathedrale ein Chor das Te Deum singt, ist das schon erhebend. Das Sinnenhafte, die Leibhaftigkeit des Menschen kommt in der Inszenierung, den Gesten und Zeichen, den Sakramenten und Symbolen zum Ausdruck. Den Zukunftsforscher Matthias Horx schätze ich sehr, er sagt: Die katholische Kirche hat die Kraft zur Illusionierung – und er meint das positiv. Die Kirche hat die Kraft, uns zu verzaubern und damit in eine Welt hinein zu heben, die für uns tröstlich ist.

Die katholische Kirche gilt als sinnlicher als die evangelische Kirche. In einer Barock-Kirche in Bayern sehen Sie jede Menge Samt, Gold und nackte Haut. Der Katholik weiß auch, im Notfall kann er seine Sünden beichten und auf Vergebung hoffen. Damit kann man natürlich auch Schindluder treiben – es ist ja nicht so gemeint, dass ich tun und lassen kann, was ich will, weil ich weiß, der Pfarrer wird mir schon Vergebung spenden. Aber zum Thema Sinnlichkeit: Ich glaube, dass wir eine ganzheitlichere Kirche sind als eine nur wortorientierte. Wir nehmen die Inkarnation Gottes, also die Menschwerdung im Leib eines Menschen, ernster als andere. Jesus hat ja nicht einfach Zettel ausgeteilt mit einem Programm drauf und wie auf einem Parteitag darüber abstimmen lassen. Er war eine lebendige Erfahrung. Die moderne Mediengesellschaft ist als Netz organisiert, nicht als Hierarchie: Jeder kann senden und empfangen, die Macht

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Ein iPad ist der ständige Begleiter des Bischofs. Seine Tweets segnet er vorher ab – im übertragenen Sinne

der alten Autoritäten schwindet zunehmend. Kann die katholische Kirche so hierarchisch bleiben, wie sie es heute ist? Nein. Wir müssen eine dialogischere Kirche werden. Eine Kirche, in der es nicht nur top down geht, sondern in der eine große Vernetzung untereinander stattfindet. Es muss aber auch Instanzen geben, die darauf achten, dass das, was sich in den Netzen entwickelt, nicht der christlichen Botschaft widerspricht. Ein Beispiel: Die AfD nennt sich christlich und beruft sich auf ein christliches Familienbild. Da muss es weiterhin eine Institution geben, die sagt: Nein, wir sehen Ehe und Familie und das Kinderkriegen nicht unter völkischen Aspekten, bitte beruft euch also nicht auf uns.

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Wie stark soll sich die Kirche dem Zeitgeist a ­ npassen? Wie stark muss sie ihre Botschaften verkürzen, popularisieren, konsumierbar machen? Und wo ist Ihrer Meinung nach die Grenze? Ich habe da keine generelle Lösung. Wir müssen Mut haben, neue Wege gehen, risikobereit sein. Es wird nicht ohne trial and error gehen. Hat die Kirche Humor? Ja. Ich wünsche mir das. Humor heißt immer, dass man eine gewisse Distanz zu sich selbst hat – eine fröhliche Gelassenheit auch im Umgang mit eigenen Fehlern. Man muss humorvoll sein, sonst erträgt man die Welt nicht. Erzählen sich die Bischöfe, wenn sie zusammensitzen, Papstwitze? Papstwitze nicht, aber kuriose Begebenheiten. Anekdoten. Wollen Sie eine hören?

Ja. Franziskus geht mit seinem Trainer, einem Jesuiten, raus aus dem Vatikan in ein Fitness-Studio, beide haben einen Jogginganzug an. Als sie zurückkommen, stellen sich ihnen zwei Schweizergardisten in den Weg. Normalerweise rufen sie, wenn ein Bischof im Ornat kommt „Vescovo“, also Bischof auf italienisch, und treten zur Seite. Franziskus im Jogginganzug haben sie nicht erkannt und ihm den Weg versperrt. Der Papst redet mit ihnen, am Schluss sagt er: „So, jetzt lasst mich rein, ich bin der Papst.“ Darauf ein Gardist: „Das kann ja jeder sagen!“ Das ist wirklich passiert? Ja. Ich könnt noch viele solcher Geschichten erzählen.

Jesus und Petrus spielen Golf. Petrus legt mit einem guten Schlag vor, Jesus haut daneben, aber als der Ball in einen See fallen will, kommt ein Karpfen und schluckt ihn. Im nächsten Moment stößt ein Seeadler herab, packt den Karpfen und fliegt mit ihm davon. Plötzlich zuckt ein Blitz über den Himmel, trifft den Adler, der lässt den Karpfen los, der Karpfen spuckt den Golfball aus, der Ball hoppelt übers Green und landet im Loch – hole in one. Jesus guckt triumphierend, Petrus ist sauer: „Jesus, spielen wir Golf oder albern wir rum?“ (lacht) Dann hätte Jesus wohl gesagt: „Siehst du, ich wirke auf vielfache Weise, aber immer zielführend.“

Darf ich meinen LieblingsJesus-Witz erzählen? Gern.

turi2 edition #6 · Netze



PT Peter So, Schlussbesprechung. Wir müssen noch das Titelbild absegnen, dann gehen wir in Druck. Ich würde die ganze #6 mal so zusammenfassen: doofes Thema, geiles Buch.

Peter Eigentlich sollte es bei Netze ja auch ums Internet gehen – aber das kommt irgendwie kaum vor. Warum eigentlich nicht? Johannes Das fotografiert sich nicht. Da kann man fast nur Bildschirme und Kabel zeigen

Tatjana Doofes Thema, hallo?! Ich arbeite da seit einem halben Jahr dran!

Uwe Peter

Kein Vorwurf. Ich hab‘ das Thema ja selbst gesetzt. Aber im Nachhinein finde ich das Thema zu abstrakt. In Zukunft sollten wir geile Bücher zu tollen, konkreten Themen machen. TV! Kinder!! Fußball!!!

Ist doch in Ordnung, wenn unser Buch eher analog als digital daherkommt. Peter Jedenfalls sollten wir mit der nächsten Ausgabe frühzeitig starten, am besten gleich. Ich schlage ein Treffen im Mai vor, da zurren wir den Plan fest und dann laufen alle los

Lea-Maria Fußball Tatjana Kinder Uwe A propos Fußball. Ich habe nochmal übers Titelbild nachgedacht. Wie findet ihr das hier?

Tatjana Äh, ich bin im Mai dreieinhalb Wochen in Kamerun. Hatte ich dir doch gemailt Lea-Maria Und ich wandere durch Schweden! Johannes Puh, bei mir wirds eng. Ich bin für ein Shooting in Jordanien... Peter Johannes Ach, passt doch: die nächste Ausgabe heisst „Unterwegs“. Uwe Ich muss den Anker vorbereiten! Ahoi zusammen und bis bald

Johannes

Peter


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Die „turi2 edition“ wurde gedruckt auf Heidelberg Speedmaster XL 106-4P+L (Umschlag) Heidelberg Speedmaster XL 106 8-Farben-Maschine (Inhalt) Papier Inhalt: Sappi Magno volume 135 g/qm 1,08 vol. Papier Umschlag: Sappi Algro Design® Duo 300 g/qm 1,25 vol. Der Umschlag wurde 1-seitig veredelt mit einer vollflächigen UV-Lackierung (glänzend) Aufbindung zu 16-seitigen Falzlagen, fadengeheftet auf einer Aster Pro Das Einhängen der Buchblocks mit gefälzeltem Buchrücken erfolgte auf einem Kolbus KM 600 Klebebinder, eingehängt wurden die Seiten als Klappenbroschur mit freihängendem Broschurrücken



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Personenregister Adenauer, Konrad 42 Arlt, Johannes 9, 78, 83, 137, 142, 190 Bauer, Frank 56, 152 Bauer, Yvonne 78 Bäumer, Marie 65 Behnke, Till 157 Berger, Sebastian 116, 183 Bertram, Heribert 12, 78 Beyer, Uwe C. 9, 190 Biedenkopf, Kurt 127 Boateng, Kevin-Prince 34 Bonnet, Pierre 168 Bowie, David 162 Brandau, Norbert 13, 160 Brodda, Laura 138 Büchner, Wolfgang 131 Burda, Hubert 56 Burke, Markus 112 Cerf, Moran 65 Chu, Ingo 110 Czerny, Steffi 56 del Rey, Lana 64 Demmer, Justus 178 Diepgen, Eberhard 128 Ditz, Rüdiger 131 Dovak, Peter 36 Düffert, Thomas 130 Dunbar, Robin 102 Eco, Umberto 93 Eggert, Heinz 127 Feicht, Thomas 175 Fischer, Anne 156, 179 Fürst, Gebhard 7, 13, 182 Gerster, Gaby 31 Graßmann, Burkhard 13, 112 Hagemann, Anne-Nikolin 71, 104, 132, 162 Haller, Florian 154 Hillbricht, Daniela 124 Hobbes, Thomas 112 Horx, Matthias 187 Howe, Jörg 12, 116 Huber, Katharina 104 Hug-Unmüßig, Margot 176 Jäger, Peter 162 Jauch, Günther 114 Jarvis, Jeff 131 Jolie, Angelina 114 Kalanick, Travis 58 Karim, Jawed 180 Karl der Große 97 Kauffeld, Elisa 41 Keese, Christoph 60 Kempf, Peter 138 Kerschbaumer, Tatjana 9, 36, 39, 56, 60, 102, 112, 124, 127, 152, 180, 190 King, Stephen 125 Köster, Philipp 32 Krause, Gundula 179 Kubrick, Stanley 125 Kut, Lea-Maria 9, 190 Lachmann, Jennifer 110 Lafrenz, Rolf-Dieter 131 Lionti, Franco 34 Meckel, Miriam 12, 62 Melanchthon, Philipp 93 Middelhoff, Thomas 119 Minsky, Marvin 67 Musk, Elon 67 Nadler, Lothar 138 Nannen, Henri 136 Noltemeyer, Laura 138

Pallenberg, Sascha 120 Papst Franziskus 186 Pater Gottfried 84 Polly, Jean Armour 180 Pratz, Gunter 138 Rätzke, Thies 62 Reetz, Oliver 130 Reidel, Sophia 88 Reim, Dagmar 178 Reuther, Heike 83 Roth, Claudia 128 Rüdell, Norbert 125 Saraceno, Tomás 19 Schefers, Hermann 86 Scheibel, Thomas 162 Schilling, Mathias 146 Schlesinger, Patricia 178 Schneiderbanger, Elke 124 Schwarz-Schilling, Christian 54 Seifert, Christian 30 Seneca 97 Söder, Markus 128 Spahn, Jens 128 Steinmetzger, Tim 60 Straube, Heike 13, 26 Sugarman, Stan 138 Talinski, Holger 26, 60, 127, 156 Tanija, Richa 160 Tauber, Peter 128 Thürke, Michael 13, 151 Thürke, Sven 13, 142 Trantow, Markus 76, 108, 142 Troger, Paul 93 Turi, Peter 9, 31, 62, 78, 116, 130, 137, 175, 183, 190 Twiehaus, Jens 26, 160

AS&S 124 Audi 60 Axel Springer 60, 80, 128, 138 Barbara 138 Bauer Media Group 78, 138, 140 Bayerischer Rundfunk 124 BBC World News 122 BDZV 131 Beef 114, 138 Bertelsmann 128, 140 betterplace.org 157 Bibliotheca Laureshamensis 97 Bibliotheca Palatina 99 Bild 60, 114, 138 BlaBlaCar 133 Bookelo 133 Brigitte 138 Bunte 114, 138 Burda 56, 80, 112, 138, 140, 157 car2go 118, 133 Carat 138 Coca Cola 127 Daimler 116 DAZN 32 DB Netz AG 77 Designdschungel 138 Deutsche Bahn 36, 46, 76, 133 Deutsche Bank 138 Deutsche Post DHL 26, 50, 161 DFL 31 DLD 56, 60 DLD Campus 58 dpa 119, 131 Dresdner Druck- und Verlagshaus 131 Drivy 133

Vergil 97 Vogel, Frank 12, 136 Vollmann, Christian 134, 156 Vollmoeller, Thomas 13, 108 von Baskerville, William 93 von der Pfalz, Ottheinrich 99 von Melk, Adson 93 von Taxis, Francesco 36 von Taxis, Janetto 36 von Tours, Gregor 88

Ebay 134 eDarling 158 Eurosport 32

Wahlforss, Eric 57 Wallrabenstein, Axel 13, 127 Weiwei, Ai 57 Weiß, Rüdiger 13, 76 Welte, Philipp 56, 112 Wichmann, Dominik 120 Wick, Lukas 70 Will, Anne 65 Willis, Bruce 165 Wolff, Christiane 13, 152

Google 34, 66, 119, 127, 140, 180 Gruner + Jahr 80, 131, 136

Yun, Xiao 180 Zimmermann, Karin 82 Zuckerberg, Mark 57 Zuse, Konrad 54

Medien und Marken ADAC 44 Adidas 138, 173 AirBnB 132 Alando 158 allthatchoices 138 Amazon 26, 32, 133, 140, 160 Antenne Bayern 124 Apple 34, 66, 119 Arcandor 119 Architektur und Wohnen 57 ARD 32, 124, 178

Facebook 34, 57, 66, 102, 122, 125, 133, 138, 140, 157, 180 FAZ 131, 140, 176 Focus 112 Focus Online 114 Funke 80, 140

Helmholtz-Zentrum 72 Henkel 78, 138 Hessischer Rundfunk 125 Hiddenseer Kutterfisch 146 Hundelieb 133 Hy 60 IBM 66, 110 Ikea 134 iLove 158 Instagram 34, 134, 138 Jamba 158 J. Paul Getty Museum 99 Karstadt-Quelle 34 Klambt 80 Kleiderkreisel 134 Kloster Lorsch 86 Kloster Melk 84 kress pro 80 Lakestar 157 Landau Media 68 Landlust 138 Lidl 80 L‘Oréal 78 Lufthansa 36, 38, 58 Lust auf Gut 175

Madsack 130 McKinsey 109 MDR 119 Melitta 138 Mercedes Benz 116 Microsoft 110 MSL Germany 127 MTV 34 Munich Inquire Media 114 NDR 119, 178 nebenan.de 134, 156 Netflix 34, 66 Neue Welle Bamberg 124 Neuralink 67 nextdoor 157 n-tv 65 Obermain-Tagblatt 124 Otto 26, 132 Playboy 58, 112 Pressevertrieb Nord (PVN) 80 Procter & Gamble 78 ProSieben 34 Publicis 128 Radio Charivari 124 Radio NRW 125 RBB 178 Roast Market 114 RTL 65, 138, 140 Sanofi 128 Sat.1 119, 124 Serviceplan 152 Sky 32, 154 Snapchat 67 SnappCar 133 Spiegel 80, 114, 124, 131, 138 Sportschau 125 Statista 114 stern 138 StudiVZ 133 Süddeutsche Zeitung 131, 140 Tchibo 109 Tina 78 Trust 176 Tui 106 TV 14 80 TV Movie 78 TV Spielfilm 112 Twitter 34, 125, 128, 185 Uber 58, 132 Unesco 84 Universal Music 138 Universitätsbibliothek Graz 100 Universitätsbibliothek Heidelberg 82 Valora 108 Vicampo 114 Victoria and Albert Museum 99 Vox 64 VW 42 Warner Music 138 WDR 64 Welt 140 Whatsapp 125, 180 Wirtschaftswoche 62 Xing 108 Yale University 94 YouTube 66, 122, 138, 180, 186 Zalando 26 ZDF 32, 124 Zeit 124, 140


Eigentlich wollten wir ein ganzes Buch über das Internet machen. Aber dann fiel uns auf, dass das Leben viel spannendere Netze bietet.

turi2 edition 6 – Netze

Deutschland EUR 20,– Österreich EUR 20,– Frankreich EUR 20,– Schweiz SFR 20,– England £ 20,–

9 783981 915518 ISBN 978-3-9819155-1-8 ISSN 2366-2131


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