Blattkritik: Dirk Stascheit über “Psychologie heute”.


Psychologie heute ist die Mutter aller Mindstyle-Magazine, und die Kinder erreichen Mamas Bildungsstand nicht. Die Bauchladenartigkeit der Themenstreuung ist kein Schaden, findet turi2-Autor Dirk Stascheit: Das Heft soll schließlich als Gerüst fürs Nachdenken dienen.

Die 500. Ausgabe ist sachte-prägnant gestaltet. Vor einem milchig azurfarbenen Hintergrund freut sich eine artig – im Sinne des Kultursenders – gelockte Mittdreißigerin und schaut dabei in einem Anflug puritanischer Freudenbegrenzung zu Boden. Sie ist, könnte man denken, stolz auf das kollektiv Erreichte, unbändige Freude sieht aber anders aus.

Gleichzeitig lenkt ihr knallroter Pullover von ihrem filtriert-strahlenden Gesicht ab. Der locker sitzende Pulli und auch die durch Kopfsenkung unsichtbaren Augäpfel könnten, wenn ich denn nun unbedingt küchenpsychologisch etwas hineininterpretieren soll, dazu dienen, etwas zu verbergen. Einerseits die Figur, weil die ja auch unerheblich ist, es geht hier um Innerlichkeit und bestenfalls Verhalten. Die Augen andererseits, weil die, das wusste Omas Wandkalender schon, ja schließlich das Fenster zur Seele sind. Beim Covermodel der 500. “Psychologie heute” bleiben in dieser Hinsicht die Rollläden unten, um irgendwelchen pseudomäßigen Analysen vorzubeugen. Das gelingt freilich nur bedingt, denn anders als ein Psychoanalytiker können wir den Gegenstand unseres Interesses galant aufschlagen und einfach Seite für Seite durchlesen.


Auf Seite 70 hat sie übrigens die Augen offen.

Nach Editorial und Inhaltsverzeichnis steigt “Psychologie heute” aus dem Beltz-Verlag zunächst mit Häppchenkost ein. Zehn Faktoide aus wissenschaftlichen Studien sind jeweils zumindest akademikerpartytauglich auf ihre Kernaussagen heruntergebrochen. Verwunderlich ist, dass weitere zehn Studien-Zusammenfassungen ähnlichen Zuschnitts in der Mitte des Heftes auftauchen. Die inhaltliche Unterscheidung der zwei Blöcke in die Rubriken “Themen & Trends” sowie “Körper & Seele” erscheint wenig konsequent. In diesen Kleinformaten fällt auf: Der Fremdwortgebrauch ist nicht hemmungslos, aber fast zu entspannt. Die Quellen sind dafür sauber und zeitgemäß mit DOI-Nummern angegeben.

Danach folgt nicht etwa die Titelgeschichte, sondern eine Seite mit wissenswerten Versatzstücken zum Musikkonsum. Ein vierseitiges Interview trägt die Rubrikenüberschrift “Im Fokus”; so ganz im Fokus der Blattmacher kann es aber nicht gestanden haben, denn es ist auf der Titelseite nicht einer der drei Teaser, die Texte abseits des Titelthemas bewerben.

Nach der ersten von insgesamt drei Kolumnen im Heft – einer Doppelseite voll Patientenschicksal aus der Praxis der Therapeutin Margarethe Schindler – folgt endlich die Titelgeschichte. Auf sieben Seiten seziert Heiko Ernst das Phänomen des kontrafaktischen Denkens, also des Nachsinnens, was denn wohl gewesen wäre, hätte man in seinem Leben hie und da andere Entscheidungen getroffen. Er skizziert die üblichen Pfade dieser Grübelei und liefert gedankliche Auswege. Flankierend liefert Eva Tenzer zum Thema einen konstruktiven Vorschlag: die skizzenhafte Lebensplanung.

Es geht hier natürlich nicht um nachlebbare Anleitungen, wie es bei “Burda Style” oder “Essen & Trinken” um nachnähbare oder nachbratbare Anleitungen geht. Es geht um Selbstreflexion. Denn: Nicht jeder kommt immer gleich auf den Punkt, wenn sie oder er sich mit einer Yogamatte oder einem Ohrensessel und vielleicht Musik, aber ansonsten ungestützt, in ein Zimmer setzt und über ihr oder sein Leben meditieren möchte.

“Psychologie heute” bietet ein Gerüst dafür, ein Spektrum an mehr oder weniger anschlussfähigen Themen zum Be-, Um- und Zer-Denken je nach persönlicher Lebenssituation. In der aktuellen Ausgabe geht es neben dem vermeintlich Verpassten in der Lebensplanung auch um vermeintlichen Bewertungswahn und Konfliktfähigkeit. Wer dazu keine Meinung oder betroffene Verwandtschaft hat, kann eventuell mit gesundem Altern, Hobby-Schriftstellerei und dem vermeintlichen Verrohen gesellschaftlicher Umgangsformen etwas anfangen.

Roh sind die schriftsetzerischen Sitten hier übrigens auf keinen Fall. “Psychologie heute” kommt optisch luftig, gelassen und funktional an. Die Seitengestaltung springt ohne erkennbares Muster zwischen Drei- und Zweispaltigkeit, was aber eher auflockert und nicht unangenehm auffällt.

Die Typografie auf den Normseiten gefällt durch einen stimmigen Rhythmus aus der Serifen Überschrift, Miller Display Bold, die den Blick zuverlässig einfängt. Die zaghafte Unterüberschrift aus einer serifenlosen Gotham Book hält sich bis zum konkreten Hinschauen zurück.


Die Typografie strukturiert meist zuverlässig.

Die Brotschrift, die verbreitete Minion Regular, ist schön luftig und gut lesbar. Zwischenüberschriften und Interviewfragen sind in Gotham Bold gesetzt und bieten einen guten Kontrast und damit auch Seiteneinteilung in textlastigen Bereichen – dort, wo sie eingesetzt werden. Auf der Doppelseite 36-37 etwa dominiert der Brottext bis zur Bleiwüstigkeit.


Viel Text, wenig Struktur – das ist aber eher selten.

Von 106 Seiten plus Umschlag sind insgesamt rund 25 Seiten mit Anzeigen gefüllt. Davon sind neun Seiten mit Eigenanzeigen belegt, die restlichen preisen größtenteils thematisch konkrete Ratgeber an.

Im hinteren Teil des Heftes, nach einem brainstormigen Interview mit dem Erkenntnisphilosophen Markus Gabriel, folgt ein Dossier zum 500. Ausgabenjubiläum. Chefredakteurin Ursula Nuber knüpft die Historie des Blattes an die Etablierung des Fachs. Die einst aus Elfenbeintürmen als “Bildzeitung der Psychologen” verlachte “Psychologie heute” werde mittlerweile auch als Vermittlungsinstanz zwischen akademischer Psychologie und der Gesellschaft ernst genommen. Der emeritierte Psychologieprofessor Kurt Pawlik äußert sich im Interview zur Geschichte der Psychologie in Deutschland – und leider nicht zur Geschichte von “Psychologie heute”. Das ist an dieser Stelle schade, die Meinung eines Uniprofessors zu jener Vermittlungsinstanz, gern auch in ihrer Rollenveränderung über die Jahre, wäre interessant gewesen.

Dafür liegt ein Gimmick bei: Vier Postkarten mit in ihrer Originalität durchaus fortgeschrittenen Sprüchen, die natürlich O-Töne von Gesprächspartnern sind. Sie stammen aus den Jahrgängen 1980, 1993 und 2004 der Zeitschrift:

– Selbstbeherrschung funktioniert am besten, wenn man schwierige Situationen in leichtere, weniger frustrierende umwandeln kann.
– Frauen sollten aufhören, sich ständig zu entschuldigen. Wenn sie keine Schuld trifft, dann sollten sie auch nicht die Verantwortung übernehmen.
– Ich gehe meinen Problemen nicht aus dem Weg, ich mache nur einen Termin mit ihnen aus, weil ich mich jetzt um andere Dinge kümmern muss.
– Das Beste, was man gegen Langeweile tun kann, ist nichts tun.

Elf Seiten mit Literaturbesprechungen runden den redaktionellen Teil ab. Einfach, aber originell bebildert ist die Strecke mit einem Stapel der in der Folge besprochenen Bücher. Spätestens hier gleitet der interessierte Leser ohnehin zu einer themenvertiefenden Google-Suche, einer Buchbestellung oder einer thematisch passenden E-Mail an einen Bekannten ab.


Originell bebildert.

Das oben angesprochene Titel-Model ist übrigens untypisch in ihrer mangelnden Augen-Zeigefreudigkeit: Von den Titelseiten im kompletten Jahrgang 2016 blicken mehr oder weniger selbstwirksam posierende Damen zwischen 30 und 40, nie Männer. Ausnahme: das Schwerpunktheft “Wie geht Beziehung” aus der Reihe “Psychologie heute compact”. Da guckt sie, Vordergrund, wie Artemis nach dem erfolgreichen Jagdausflug, während der Bock, Hintergrund, zerknirscht die Augen hinter seiner Hand verbirgt.


Männer kommen auch vor: Unten rechts.

Laut Leserforschung AWA 2016 besteht die Zielgruppe zu 69 % aus Frauen, insofern stimmt diese Ausrichtung. Die Leser unter 40 Jahren machen jedoch nur 31 % aus – die stärkste Altersgruppe sind die 50- bis 59-Jährigen mit 24 %. Die Macher könnten sich also durchaus mal eine Mittfünfzigerin auf dem Titel trauen, es geht hier schließlich um Innerlichkeit und bestenfalls Verhalten.

Alle bisher erschienen Blattkritiken finden Sie unter turi2.de/blattkritik.