“Ein Gegengift gegen Populismus” – Grimme-Direktorin Frauke Gerlach über die deutsche Medienlandschaft.
11. November 2023
Schaut genau hin: “Wir sind heute verwöhnt, es gibt viel Gutes”, sagt Frauke Gerlach, Direktorin des Grimme-Instituts, über das deutsche TV-Programm im Interview mit Diemut Roether von epd Medien. Das Institut, das vor allem für die Grimme-Preise für vorbildliches Fernsehen bekannt ist, feiert in diesem Jahr sein 50-jähriges Bestehen – am Montag findet im Landtag von Düsseldorf der Festakt statt. Gleichzeitig beobachtet Gerlach aber auch “eine Popularisierung und einen schrilleren Ton” in der Medienlandschaft. Die Öffentlich-Rechtlichen sieht sie u.a. als “Gegengift” zum kapitalistischen Streben der “Plattformen aus Übersee”. Außerdem erklärt sie im Interview, warum sie überzeugt ist, dass es lineares TV geben wird, “solange es das Wort Fernsehen gibt” und was sie selber gerne schaut. turi2 veröffentlicht ihren Beitrag in der Reihe Das Beste aus epd Medien bei turi2.
Interview von Diemut Roether / epd Medien
Der erste Generaldirektor des Nordwestdeutschen Rundfunks, Adolf Grimme, nach dem das Grimme-Institut benannt ist, sagte 1949: “Der Rundfunk darf nicht der verführerischen Jagd nach Popularität verfallen.” Ist der Rundfunk heute, fast 75 Jahre später, genau dieser Jagd nach Popularität verfallen?
Frauke Gerlach: Durch das Internet und durch Systematiken der Aufmerksamkeitsökonomie und der ökonomischen Situation der Medien müssen wir eine Popularisierung und einen schrilleren Ton in der Medienlandschaft beklagen. Das hat sich deutlich verändert. Wenn man Nachrichten seinerzeit und heute vergleicht, sieht man, dass sich das extrem verändert hat. Auch bei der Information sind der unterhaltende Faktor und die Personalisierung wichtiger geworden.
Der Grimme-Preis zeichnet qualitativ besonders hochwertige Fernseh-Produktionen aus. Nach meiner Beobachtung gibt es eine sehr große Diskrepanz zwischen dem, was mit dem Grimme-Preis ausgezeichnet wird, und dem, was die Masse des Programms ausmacht.
Vielleicht liegt das in der Natur des Preises. Der Grimme-Preis zeichnet vorbildliches Fernsehen aus. Ich denke, nicht alles, was gesendet wird, kann und muss den strengen Kriterien der Jurorinnen und Juroren entsprechen. Und: Es gibt durchaus entspannendes bepreistes Programm bei Grimme. Auch die Privaten haben sich in den letzten 20 Jahren deutlich verbessert. Vorbildliches Fernsehen bedeutet nicht immer in jeder Hinsicht eine Innovation, sondern vorbildlich im Hinblick auf die Werte, für die der Grimme-Preis und das Grimme-Institut stehen. Das ist die DNA. Der Regisseur Heinrich Breloer hat den Grimme-Preis einmal als “jährliche Ermahnung” bezeichnet. Ich würde heute sagen, es geht um die Verpflichtung der Medienschaffenden der Gesellschaft gegenüber. Der Preis appelliert an das Verantwortungsbewusstsein. Das ist auch mit dem Namensgeber Adolf Grimme verbunden.
Adolf Grimme hat 1949 auch gesagt, er sei gegen eine “Fahrplan-Gesinnung” bei der Programmgestaltung. Heute sind die Sender oft sehr viel pünktlicher als die Bahn. Wäre es Ihrer Ansicht nach gut, wenn die Sender ihre festen Sendezeiten öfter mal durchbrechen oder umschmeißen und die Zuschauer überraschen würden?
Wenn Sie nach meinem persönlichen Geschmack fragen: Ja. Ich bin aber keine Soziologin und aus der Beobachtung würde ich sagen, dass eine gewisse Struktur in das lineare Programm gehört. Wahrscheinlich wird das in 10 oder 15 Jahren das sein, wonach wir uns sehnen, wenn wir keine Lust mehr haben, die Mediatheken durchzuwühlen: Ich setz mich einfach mal hin und schalte durch und bleibe bei einem Programm mit Kochsendungen hängen, um mich zu entspannen. Zum anderen sind die festen Sendezeiten wichtig für die Nachrichtenformate und Journale, die ich mir aber früher und ohne unterhaltende Inhalte wünschen würde. Gleiches gilt für Reportagen und Dokumentarfilme. Nach solchen Inhalten sollten die Zuschauenden nicht suchen müssen. Das ist ein ganz altes und immer noch aktuelles Grimme-Thema. Ich bin im Übrigen davon überzeugt, dass es lineares Programm geben wird, solange es das Wort Fernsehen gibt.
Der Grimme-Preis gilt als renommierteste Medienpreis Deutschlands. Seit 1964 wird er verliehen. (Foto: Christoph Hardt / Panama Pictures / Picture Alliance)
Sie wünschen sich Nachrichtenmagazine mit weniger unterhaltenden Anteilen. Gilt das auch für die öffentlich-rechtlichen Sender?
Ja. Ich habe kürzlich gesagt, dass sich die Öffentlich-Rechtlichen gut überlegen müssen, ob sie sich die Fußballrechte weiter leisten können und dass sie das mit Maß angehen sollten. Ich beziehe mich damit auch auf Perspektiven von Zuschauerinnen und Zuschauern, sowohl aus dem Partizipationsverfahren “#meinfernsehen” als auch auf Zuschriften. Da geht es auch um die Frage, warum in Hauptnachrichten noch einmal die Fußballergebnisse so breit ausgespielt werden. Das ist sehr kostbare Sendezeit. Auch das Emotionalisieren und Personalisieren ist eine allgemeine Tendenz. Möglich, dass man damit Leute bindet, aber zu welchem Preis?
Das Grimme-Institut hat in der Vergangenheit auch den Diskurs zu wichtigen medienpolitischen Themen organisiert. Wir haben seit 15 Monaten eine große Debatte über die Zukunft des öffentlich-rechtlichen Systems. Ich vermisse, dass das Institut zu diesem Thema eine Veranstaltung organisiert und einen Diskursraum schafft.
Den haben wir durchaus aufgemacht – nur eben nicht mit einer Veranstaltung. Wir haben im letzten Jahr an der Universität zu Köln eine Tagung zu Medienqualität gemacht und vornehmlich darüber diskutiert, wie die Qualität des Öffentlich-Rechtlichen zu vermessen ist. Mein Punkt war das Initiieren des Diskurses zu “#meinfernsehen”. Dies waren wichtige von Grimme initiierte Diskurse zur Zukunft des öffentlich-rechtlichen Rundfunks. Wenn Medienmacherinnen und die Branche sich zusammensetzen, kennt man die Positionen und tauscht diese aus. Uns hat interessiert: Was sagen die Zuschauerinnen und Zuschauer über die Zukunft des öffentlich-rechtlichen Rundfunks? Deshalb haben wir über zweieinhalb Jahre den Diskurs zu “#meinfernsehen” zusammen mit der Bundeszentrale für politische Bildung und dem Düsseldorfer Institut für Internet und Demokratie geführt. Wir haben sehr gute und vielfältige Ergebnisse, die wir den Sendern zur Verfügung gestellt haben. Im Sommer ist ein Artikel in der “Frankfurter Allgemeinen Zeitung” erschienen mit unseren Vorstellungen zur Zukunft des Öffentlich-Rechtlichen. Und wir hatten eine Veranstaltungsreihe mit der Produzentenallianz zum Wert der Unterhaltung. Die Publikation ist gerade erschienen.
“#meinfernsehen” haben Sie 2020 initiiert, also lange bevor die derzeitige Diskussion losging. Und was Sie da erhoben haben, bezieht sich hauptsächlich auf das TV-Programm. Nach meiner Beobachtung aus dem RBB-Skandal hapert es aber auch an den Strukturen. Es reicht ja nicht, über Qualität zu diskutieren, man muss zum Beispiel auch mal über Aufsicht reden. Da vermisse ich, dass das Grimme-Institut den Diskursraum öffnet. Es gab früher einmal die “Marler Tage der Medienkultur”, die regelmäßig stattfanden, es gab die “Mainzer Tage der Fernseh-Kritik”. Bei solchen Veranstaltungen wurde meiner Beobachtung nach sehr viel fundierter und kritischer – auch selbstkritischer – über Programme und Strukturen diskutiert als bei Branchentreffen wie den Medientagen München.
Für uns startete mit “#meinfernsehen” Ende 2020 die Debatte zur Zukunft des öffentlich-rechtlichen Rundfunks, die Ende 2022 erschienene Auswertung ist noch brandaktuell. Zum einen würde ich – aber das ist natürlich auch eine Finanzierungsfrage – die Veranstaltung “Ausgezeichnet, ausgehandelt, ausgerechnet” des Grimme-Forschungskollegs zu Medienqualität gerne alle zwei Jahre durchführen. Dieses Format könnte sich zu dem von Ihnen vermissten Diskursraum entwickeln – es ist aber auch “nur” ein Format, ein anderes ist unser Podcast “Läuft”, den wir gemeinsam mit epd Medien machen. Im Übrigen diskutieren wir stetig in Projekten – auch mit Mitgliedern der Rundfunkräte – über den Auftrag des öffentlich-rechtlichen Rundfunks. Ich bin aber zurückhaltend zu sagen, die Gremien müssen dies und das machen. Grimme ist nicht dazu da, Medienpolitik zu gestalten.
Wäre es nicht gut, wenn ein solcher Diskurs gerade von einer Institution organisiert würde, die keine medienpolitische Institution ist? Der Diskurs wird in der Medienpolitik ja sehr stark von dem Ansatz dominiert, dass der Rundfunkbeitrag nicht steigen darf.
Man kann sicher immer noch mehr machen. Grimme ist eng verbunden mit der Idee des Öffentlich-Rechtlichen. Es geht aber heute bei den Grimme-Diskursformaten, anders als gestern, dabei nicht nur um den öffentlich-rechtlichen Rundfunk. Wir haben extrem gute Reichweiten im Digitalen, die man mit Präsenzveranstaltungen heutzutage nur schwer realisieren kann. Ein Thema, das viele Kräfte bindet und den Handlungsrahmen einschränkt, ist zudem die finanzielle Situation des Grimme-Instituts. Wenn Sie frühere Grimme-Direktoren fragen, werden sie Ihnen wahrscheinlich alle dasselbe erzählen.
Sie sprechen die Finanzen an: Dem Grimme-Institut fehlen in diesem Jahr 320.000 Euro, im kommenden Jahr sollen 430.000 Euro fehlen. Woher kommt das?
Das war abzusehen. Wenn Sie sehen, dass die Kosten ständig steigen, aber das Budget gleich bleibt, schmelzen die Rücklagen ab und für eine gemeinnützige GmbH besteht dann die Gefahr der Überschuldung. Wir haben das sehr genau dokumentiert und immer wieder berichtet. Ab Januar mussten wir sagen, jetzt müssen wir die Reißleine ziehen. Jetzt schlägt das strukturelle Defizit zu. Als Geschäftsführerin habe ich keine Einsparpotenziale mehr. Gleichwohl ist viel entstanden, weil wir viele tolle Kooperationspartner haben, die Veranstaltungen ermöglichen. Gehälter sind zu zahlen, Mieten und Veranstaltungen sind zu zahlen. Seit dem ersten Tag habe ich mich bei Grimme immer wieder um neue Finanziers bemüht. Dankenswerterweise gibt das Land Nordrhein-Westfalen viel Geld, ohne das Land gäbe es das Grimme-Institut nicht mehr. Die Stadt Marl sorgt dafür, dass wir ein Institut haben und WDR, ZDF und 3sat sorgen dafür, dass die Preisverleihung übertragen wird. Alles in allem hat Grimme einen sehr überschaubaren Etat.
Sie sind zu drei Vierteln vom Land finanziert. Gesellschafter des Grimme-Instituts sind außerdem unter anderem der Deutsche Volkshochschul-Verband, die Landesanstalt für Medien, WDR und ZDF. Wieso kommt von den anderen Gesellschaftern nicht mehr Geld für das Institut?
Das würde ich mir auch wünschen. Alle verweisen nachvollziehbar auf eigene knappe Finanzen und Haushalte. Die Landesanstalt für Medien NRW hat das Grimme-Institut viele Jahre mit erheblichen Finanzmitteln unterstützt. Die zentrale Frage ist: Wie trägt sich eine GmbH mit so einem gemeinwohlorientierten Gedanken wie das Grimme-Institut?
Wo können Sie noch sparen? Wovon können Sie sich trennen?
Egal, wovon wir uns trennen, die Kosten bleiben gleich. Weil der Hauptteil an unser gutes Personal geht, das nicht überbezahlt ist.
Das heißt, Sie kommen um Entlassungen nicht rum?
Nein. Dafür stehe ich nicht. Es gab eine Beratungsfirma, die uns sehr gut begleitet hat. Das war eine gute Reflexionsfläche. Man muss ja als Geschäftsführerin schauen: Habe ich wirklich alles richtig gemacht? Die Beraterinnen sehen, dass sogar ziemlich eingespart wurde, trotz der Kostensteigerungen. Aber wenn man eine Institution wie Grimme möchte, müssen sich am Ende alle unterhaken. Ich muss als Geschäftsführerin immer wieder versuchen, neue Einnahmequellen zu generieren, und ich würde mir wünschen, dass auch die Gesellschafter einen weiteren Beitrag leisten, wenn die Idee tragfähig bleiben soll.
Wir haben bereits über die Krise der Öffentlich-Rechtlichen gesprochen, aber auch für die Privatsender sieht es im Moment nicht rosig aus. Sky Deutschland hat kürzlich angekündigt, dass sie in Deutschland keine fiktionalen Programme mehr produzieren wollen, die anderen Privatsender warnen vor Einschränkungen bei der Werbung. Wie stark stehen die Privatsender Ihrer Einschätzung nach tatsächlich unter Druck?
Die Werbeeinnahmen gehen aus verschiedenen Gründen zurück, ja, die Privatsender stehen sehr unter Druck, auch wenn in den letzten Jahren unglaublich viel produziert wurde.
Das wurde ja gerade auch durch die Produzentenstudie in Nordrhein-Westfalen bestätigt. Aber ist es nicht so, dass zwar immer mehr produziert wird, aber immer weniger Qualität?
Das möchte ich nicht so pauschal sagen. Beim Grimme-Preis haben wir mittlerweile zwischen 800 und 900 Einreichungen pro Jahr, als ich anfing, waren es noch zwischen 500 und 600. Da ist aus meiner Perspektive auch viel gutes fiktionales Programm dabei gewesen. Es gibt allerhand Brot-und-Butter-Geschäft. Klar wünscht man sich, dass es mehr Perlen oder Diamanten gäbe wie “Honecker und der Pastor”. Wir sind heute verwöhnt, es gibt viel Gutes. Wenn ich mir Programm von früher anschaue, auch Produktionen, die mit Grimme-Preis ausgezeichnet wurden, sehen wir, welche Qualitätssprünge gemacht wurden.
Was den öffentlich-rechtliche Rundfunk angeht, kommt aus der Medienpolitik die Ansage: Ihr verbraucht zu viel Geld. In der Tat sind 8,6 Milliarden Euro Einnahmen aus dem Rundfunkbeitrag sehr viel Geld. Wo könnte der öffentlich-rechtliche Rundfunk Ihrer Ansicht nach sparen? Sie haben vorhin das Stichwort Fußballrechte genannt …
Auch da gilt: Es gibt die Kommission für die Ermittlung des Finanzbedarfs der Rundfunkanstalten, die KEF, die den Bedarf staatsfern ermittelt. Ich maße mir nicht an zu sagen, wie das konkrete Programm aussehen soll und was der konkrete Bedarf ist. Natürlich kann man medienpolitisch sagen, man muss über Enthaltsamkeit diskutieren, aber wir haben trotz der Skandale ein funktionierendes System und dieses System ist gut, weil es staatsfern organisiert ist und das muss auch so bleiben.
Aber brauchen wir wirklich so viele Talkshows?
Talkshows sind ein eigenes Thema. Ich finde es gut, wenn Talkshowformate aufgebrochen werden, wie bei “Maischberger”. Das regt mich an, das ist multiperspektivisch und nicht so fokussiert auf eine Marke. Ich will auch nicht geschmäcklerisch werden, wir Vielguckerinnen kennen so vieles schon so lang. Bei #meinfernsehen war ich erstaunt, mit welcher großen Wertschätzung die Leute Talkshows am Abend gesehen haben. Sie wünschen sich, dass es nicht immer dieselben sind und dass es bürgernah sein soll. “Zervakis und Opdenhövel” sind mit den Themen sehr nah an den Menschen. Auch “Hart aber fair” macht das ein bisschen, wenn sie Zuschauermeinungen verlesen, aber das ist anders, wenn ich mit dem Team vor Ort bin. Ich sehe das etwas differenzierter und jenseits meines eigenen Geschmacks: Man kann so viele Talkshows machen, wie man will, aber Information und Bildung kann man nicht nur über Talkshows vermitteln. Ähnlich ist es mit politischen Satireformaten. Wir können Politik nicht nur darüber erklären, indem wir sie satirisch aufbereiten. Ich mag Satire-Formate, aber auch davon nicht zu viel.
Was sehen Sie selbst gern?
Ich gucke auch gerne leichte Unterhaltung …
“Endlich Freitag im Ersten”?
Das nun gerade nicht. Ich bin kein Krimi-Fan. Ich gucke gern Science-Fiction … Auch so was wie “Black Mirror”.
Mystery?
Genau. Wenn ich mich informiere, sind “Tagesthemen” und “heute journal” Pflichtprogramm. Ich bin gespannt, was Caren Miosga nächstes Jahr machen wird. Und Freitagabend ist der Satireabend. Ich bin auch auf Netflix oder bei anderen Streaming-Anbietern unterwegs. Ich habe mir gerade die Serie “Glow” angeschaut, darin geht es um eine Filmproduktion über Frauen-Wrestling. Einfach mal lachen und den Kopf frei kriegen. Natürlich schau ich auch gerne, was für den Grimme-Preis nominiert ist.
Das Grimme-Institut wird sehr stark identifiziert mit Fernsehen, dabei machen Sie auch den Grimme Online Award und sind beteiligt am Radiopreis. Können Sie sich vorstellen, auch in dieser Richtung noch mehr Diskurs zu organisieren?
Diskursformate des Grimme Online Awards sind GOA Talks und der GOA-Newsletter, der rund 3.500 Abonnenten hat, plus weitere Online-Formate. Und: Wir machen jährlich den Radionetzwerktag, der immer auch perspektivische Themen verhandelt. Der Radiopreis hat die Besonderheit, dass das Radio als Alltagsmedium bewertet wird. Das liegt an der Konstellation, Private und Öffentlich-Rechtliche verantworten den Preis, und es entspricht auch den Hörgewohnheiten. Es hören ja nicht immer alle Wortprogramme, und es ist wert, darüber zu sprechen, was kleine Lokalsender an Reportage-Formaten machen.
Wie wird sich das Grimme-Institut in den nächsten Jahren weiterentwickeln? Welche Themen wollen Sie angehen?
Wichtig sind die computergenerierten Inhalte, die sogenannte Künstliche Intelligenz und deren Einfluss auf die Meinungsbildungsprozesse. Der Deutsche Ethikrat hat das in einem lesenswerten Bericht zusammengefasst und gibt auch Handlungsempfehlungen, was wir als Gesellschaft tun müssen. Wir haben das Thema digitale Souveränität, auch dazu hat das Grimme-Institut viele Veranstaltungen gemacht. Wir kooperieren mit der Wissenschaft in dem Feld. Wir wollen das Thema KI auch in Seminaren der Grimme-Akademie aufgreifen. Was dringend gebraucht wird, ist ein Regulierungsrahmen. Ich bin gerade in die Task Force KI vom Center for Advanced Internet Studies berufen worden, unter der Schirmherrschaft von Minister Liminski, da sollen Handlungsempfehlungen für die Politik erarbeitet werden. Es geht um Bildung und Meinungsbildungsprozesse und die Auswirkungen der KI auf Medien und Kultur. Das hat natürlich immenses Rationalisierungspotenzial. Mich treibt vor allem die Gemeinwohlorientierung um. Informationen müssen gut recherchiert und wahr sein, da geht es nicht nach Nützlichkeit. Das ZDF hat sich gerade Regularien gegeben.
Viele Medienhäuser haben das gemacht …
Das ist auch wichtig. Man muss verstehen, was im Digitalen passiert. Es bietet große Potenziale, aber wissen wir am Ende, welche Stimme von wem kommt? Es ist gruselig. KI ist eine Technik, die ist nicht per se gut oder schlecht. Aber wie sie programmiert wird, das entspricht einem Hardcore-Kapitalismus.
Die Frage ist: Wie wird KI eingesetzt?
Exakt. Es gibt große Player, die das Interesse haben, Geld damit zu verdienen. Ich will nicht über Allmachtsphantasien dieser Männer reden – es sind fast immer Männer. Manchmal denke ich: Wir reden permanent über das Sparen beim öffentlich-rechtlichen Rundfunk, aber ein starker Öffentlich-Rechtlicher ist ein Gegengift gegen so etwas. Das sehen wir bei den Kriegen erschreckenderweise deutlich und krass: Unser Problem ist, das Netz zu regulieren. Und es so zu regulieren, dass es in unsere Werteordnung passt. Da setze ich auf Europa. Die großen Plattformbetreiber aus den USA haben es geschafft, uns bei unserer Bequemlichkeit zu packen. Ich bin wirklich alarmiert. Der öffentlich-rechtliche Rundfunk ist sehr übersichtlich, darüber kann man sich immer unterhalten, aber das sind nicht unsere wirklichen Probleme. Es sind die Plattformen aus Übersee.
Sind Sie der Meinung, dass Europa eigene soziale Plattformen schaffen müsste, die demokratischer organisiert sind?
Das wäre super. Es ist aber so, dass die Nutzer und Nutzerinnen das Bekannte nutzen. Bei Twitter sehen wir jetzt eine Entwicklung mit unkluger Unternehmenspolitik. Da wurde ein anfangs vitaler Diskursraum systematisch untergraben – aber anderswo auch. Wir werden uns bei Grimme nächstes Jahr auch aus einigen Plattformen verabschieden.
Sie sind jetzt fast zehn Jahre Direktorin des Grimme-Instituts. Wollen Sie noch einmal verlängern?
Ich kann es mir vorstellen, wenn das produktive Miteinander mit den Gesellschaftern die Unabhängigkeit des Instituts wahrt. Wenn das vereinbart wird, kann ich mir eine weitere Amtszeit vorstellen. Ich schätze auch den Teamspirit unter den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern. Ich würde die Regularien des Grimme Online Awards überarbeiten. Denn: Ich bin davon überzeugt, dass der Grimme Online Award perspektivisch eine größere Rolle spielen wird als der Grimme-Preis. Ich will die Bert-Donnepp-Idee einfach lebendig erhalten, indem wir stetig daran arbeiten, sie in die Gegenwart zu übersetzen. Also der werteorientierte Diskurs von Grimme, der wissensbasierte und unabhängige Diskurs. Und die Wechselwirkung zwischen Massenkommunikation und Meinungsbildungsprozessen. Es ging Bert Donnepp um Bildung und ein Gegengift gegen Populismus und Faschismus. Dafür stehe ich ein. Und ich sehe meine Aufgabe auch darin, den jungen Menschen Raum zu geben, sich an diese Idee anzuschließen.