NDR-Chef Joachim Knuth: Warum die Gesellschaft ARD und ZDF finanziert.
16. Dezember 2023
Sendungsbewusst: “Zu sehr vielen gesellschaftlich relevanten Themen sind wir die Auseinandersetzungsfläche. Aber wir sind nicht der Grund für die unterschiedlichen Auffassungen”, sagt NDR-Intendant Joachim Knuth vor Studierenden und Lehrenden der Hochschule für Musik und Theater Hamburg. In seinem Vortrag vom 30. November mit dem Thema “Warum finanzieren alle den öffentlich-rechtlichen Rundfunk, wenn er gar nicht von allen genutzt wird?” spricht Knuth über die Herausforderungen des NDR im Rahmen der Festsetzung des Rundfunkbeitrags ab 2025 und den zunehmenden gesellschaftlichen Gegenwind. So erklärt er etwa die wachsende Fehlerkultur, auch im eigenen Sender: “Mein Eindruck ist, dass wir besser werden, schneller, weniger verdruckst.” epd Medien dokumentiert den Vortrag in einer überarbeiteten Fassung. turi2 veröffentlicht diesen Beitrag in der Reihe Das Beste aus epd Medien bei turi2.
Stellt man sich die Frage, warum alle Menschen in diesem Land den öffentlich-rechtlichen Rundfunk finanzieren, obwohl er gar nicht von allen genutzt wird, lohnt sich zunächst der Blick auf einige Zahlen. Denn nach wie vor gilt, trotz aller Kritik am öffentlich-rechtlichen Rundfunk, dass man am NDR schwer vorbeikommt. Wir machen viele Angebote: in insgesamt vier norddeutschen Ländern, für sehr unterschiedliche Zielgruppen, auf sehr unterschiedlichen Ausspielwegen. Mehr als zwei Drittel aller Norddeutschen nutzen die Angebote des NDR täglich, innerhalb einer Woche sind es mehr als 90 Prozent. Das ist, für sich genommen, nicht schlecht und zeigt unsere publizistische Akzeptanz und Reichweite, auch wenn wir feststellen, dass unsere Vertrauens- und Glaubwürdigkeitswerte vor fünf oder zehn Jahren höher waren.
Die, die uns gar nicht nutzen, aber ganz sicher eine Meinung zu uns haben, finanzieren uns mit, weil in Artikel 5 des Grundgesetzes der Auftrag zur Gewährleistung der Rundfunkfreiheit enthalten ist. Dieser Auftrag zielt auf eine Ordnung, die sicherstellt, dass die Vielfalt der bestehenden Meinungen im Rundfunk in größtmöglicher Breite und Vollständigkeit Ausdruck findet. Ausgehend von der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts hat die Rundfunkfreiheit dienende Funktion für die Demokratie. Sie ist angewiesen auf umfassend informierte Bürgerinnen und Bürger.
Das ist recht abstrakt und ich will es anreichern mit dem Hinweis auf die Bedeutung der uns gegebenen Aufgabe, durch authentische, sorgfältig recherchierte Informationen, die Fakten und Meinungen auseinanderhalten, die Wirklichkeit unverzerrt darzustellen. Eines nehme ich für uns in Anspruch: Wir sind vielfaltssichernd, gerade in Zeiten von hoher Informationskomplexität und einseitigen Darstellungen, Filterblasen und Deepfakes. Nach den Erfahrungen der deutschen Geschichte sollen wir auch Teil der Daseinsvorsorge für plurale Meinungs- und Willensbildung sein – ein wesentlicher Bestandteil für demokratisches Miteinander. Ein Integrationsrundfunk für alle, der die freie und individuelle Meinungsbildung fördert, die Abbildung sozialer und kultureller Bedürfnisse ermöglicht, einen Beitrag zur internationalen Verständigung leistet, zum gesellschaftlichen Zusammenhalt beiträgt, bildet und vor allen Dingen informiert.
Und natürlich gehört die Kultur dazu, wie zum Beispiel auch unsere Musikensembles mit dem Elbphilharmonie Orchester in Hamburg, der Radiophilharmonie in Hannover und der Bigband sowie dem Vokalensemble. Auch sie werden aus dem Rundfunkbeitrag finanziert. Sie schaffen direktes Erleben und Ereignisse. Das gelingt auch dem Fußball, für den wir Rechte erwerben und den wir dann journalistisch abbilden. Ein Rundfunk für alle sollte beides im Blick behalten, den Sport und die klassische Musik. Aber ich meine, dass der Ball auch in Zukunft ohne uns rund bleibt, die Musiklandschaft aber ohne uns hier im Norden ärmer werden würde. Denn ich glaube, dass keines dieser Orchester ohne weiteres eine andere Finanzierungsform finden würde, weil die öffentliche Hand dafür derzeit eben keine Mittel zur Verfügung stellen kann. Das müssen wir im Blick behalten.
Und damit bin ich beim zweiten Thema, das in der Frage meines Vortrags auftaucht: bei den Finanzen. Gerade erst wurde der Entwurf der Kommission zur Ermittlung des Finanzbedarfs, kurz KEF, für die Jahre 2025 bis 2028 öffentlich. Wir wissen noch nicht genau, was die KEF am Ende vorschlagen wird, es ist ja ein Entwurf. Aber in jedem Fall ist dieses dreistufige Verfahren selbst der wirksamste Schutz, dass Entscheidungen über die Finanzausstattung öffentlich-rechtlicher Sender nicht zu politischer Einflussnahme missbraucht werden.
Und das liegt am Verfahren selbst: Wir melden an, um unseren Bedarf zu skizzieren für die Erfüllung des Auftrags, die KEF überprüft die Einhaltung von Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit, kürzt immer wieder strikt und gibt schließlich eine Empfehlung ab. Dann sind die Ministerpräsidentinnen und Ministerpräsidenten am Zug. Von denen haben sich einige – nicht alle – offenbar schon im Vorfeld festgelegt. Das ist nicht im Sinne eines abgesicherten Verfahrens. Es schafft natürlich Aufmerksamkeit, die auf Stimmungen trifft, die wir ja auch in der Berichterstattung über uns wahrnehmen – und noch in stärkerem Maße auf Social Media.
Social Media hat die Art, wie wir kommunizieren, verändert. Das ist auch eine Herausforderung für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk. Die großen Betreiber sozialer Medien sind dann mit Inhalten besonders erfolgreich, wenn diese laut sind, polarisieren, sogar spalten. Das schafft am Ende Traffic. In den sozialen Blasen treffen Menschen dann auf die Meinungen und Ansichten, die sie ohnehin gut finden, häufig garniert mit Desinformation, Propaganda und Falschbehauptungen.
Auch KI wird bei allem Nutzen, den wir heute schon sehen, wie Audiodeskription oder Untertitelung, eine Herausforderung sein, da wir auch durch KI schon Spuren des Missbrauchs vorfinden. Wir haben gerade als verantwortliches Haus für ARD-aktuell erlebt, wie gefälschte Audiodateien, auf denen mit KI generierte Stimmen von Sprecherinnen und Sprechern der “Tagesschau” zu hören waren, verbreitet wurden: auf einer Demonstration, auf der es dann bei der Anmoderation zur Begrüßung in der gefakten “Tagesschau” hieß, dass wir uns bei den Menschen entschuldigen wollen, weil wir ihnen seit über drei Jahren dreist ins Gesicht lügen. LINK
Das Audio begann mit dem offiziellen “Tagesschau”-Jingle, und weil sich das alles schnell verbreitet, müssen wir genauso schnell auch dementieren, was die Redaktion getan und dann Strafanzeige gestellt hat.
Gesellschaftspolitisch besonders interessant ist für mich die Frage, wie stark das Laute und Aggressive an den Rändern nach links und rechts tatsächlich ist und wie viel Schein dahintersteckt. Ich denke nicht, dass es sich dabei um Mehrheiten handelt. Soziologen bestätigen, dass die gefühlte Spaltung der Gesellschaft um Längen größer ist als die tatsächliche und dass sich diese Effekte der Spaltung insbesondere Strategen rechter Gruppierungen zu eigen gemacht haben. Diese Gruppen verfolgen das Ziel, das Vertrauen in öffentlich-rechtliche Medien und überhaupt in die freie Presse zu erschüttern und damit auch das Vertrauen ins politische System, unsere Demokratie.
Dem müssen wir uns entgegenstellen. Denn der Blick in Staaten, in denen Populismus grassiert, Politiker mit autokratischen Gedanken flirten oder sie gar umsetzen, zeigt, dass die Unabhängigkeit freier Medien ein besonders attraktives Angriffsziel darstellt. Das gilt auch für die Freiheit von Kunst und Kultur, von Forschung und Lehre, wie wir in der Pandemie gesehen haben, und es gilt auch für die unabhängige Justiz. Doch kann öffentlich-rechtlicher Rundfunk solche gesellschaftlichen Entwicklungen eindämmen und verhindern?
Nein, nicht allein, aber im Zusammenspiel mit anderen. Die EBU – die European Broadcasting Union – hat im vergangenen Monat eine Studie herausgebracht, die zum Ergebnis hat, dass starke öffentlich-rechtliche Medien Hand in Hand gehen mit einer gesunden demokratischen Kultur. Demokratie und das Medienvertrauen korrelieren miteinander, entwickeln sich interdependent. Das belegen auch ARD-Studien über Akzeptanz und Demokratie-Zufriedenheit. Danach sind wir als Öffentlich-Rechtliche für die Mehrheit dieser Menschen in diesem Land ein verlässlicher Anbieter für verlässliche Berichterstattung und hohe Qualität. Aber das Vertrauen in uns ist leicht rückläufig, das in die Demokratie-Zufriedenheit in Deutschland – laut dieser repräsentativen Studie von 2023 – stark.
Umso mehr braucht es öffentlich-rechtliche Medien wie uns. Wir Öffentlich-Rechtlichen versuchen mit unserer Reichweite die pralle Pluralität unserer Gesellschaft immer wieder sichtbar zu machen: zwischen Jung und Alt, Stadt und Land, Reich und Arm, zwischen den Geschlechtern, unterschiedlichen Berufen, unterschiedlichen Herkünften. Logisch, dass bei uns alles zusammenkommt, was gesellschaftlich auch umstritten ist. Wir spüren das beim Thema Sprache, wenn es ums Gendern geht; wir spüren das beim Thema Landwirtschaft – konventionell oder ökologisch – und zum Beispiel auch beim Thema Mobilität, wo uns neue Begriffe wie “Flugscham” oder “Klimakleber” begegnen und wir erkennen müssen, dass bei vielen Themen Lebenswelten in Deutschland auseinanderklaffen.
Zu sehr vielen gesellschaftlich relevanten Themen sind wir die Auseinandersetzungsfläche. Aber wir sind nicht der Grund für die unterschiedlichen Auffassungen. Sie werden allerdings bei uns und in der Diskussion über uns ausgetragen. In meiner Arbeit spielt es eine zentrale Rolle, dass wir im NDR das Meinungsspektrum breit halten, in der Berichterstattung aus der Region, aus Deutschland, aus aller Welt. Und dass sich dies nicht nur in unserem Journalismus wiederfindet, sondern in unseren Dokumentationen, in Talksendungen, in der Kultur, in der Fiktion. Gerade letztere wird in ihrer gesellschaftspolitischen Kraft und in ihrer Fähigkeit, Themen zu setzen, oft unterschätzt
Was diese Meinungsvielfalt angeht, versuchen wir auch immer wieder Neues. Gerade erst lief die zweite Ausgabe von “Die 100 – was Deutschland bewegt!” mit Ingo Zamperoni, ein Experiment, an dem sich in der Lokhalle in Göttingen 100 Bürgerinnen und Bürger beteiligten, bei dem aber auch das Publikum zu Hause die Möglichkeit hatte, abzustimmen. Anspruch dieser Sendung ist es, Raum zu schaffen für den Austausch von Argumenten und damit die Zuschauenden einzuladen, ihre Haltungen und Sichtweisen zu überdenken. Denn wie Diskurse geführt werden, wird eine elementare Frage der Zukunft sein.
Mir geht es darum, dass wir Krisen und Ursachen erklären und einordnen, Hintergrunde beleuchten und komplexe Dinge so aufarbeiten, dass sie verständlich werden. In der bereits zitierten EBU-Studie heißt es, dass vertrauenswürdige und etablierte öffentlich-rechtliche Medien ein Garant dafür sind, dass sich weniger Menschen von Nachrichten fernhalten und die Sorge vor Fake News sinkt.
Warum ist das so? Weil wir Falschnachrichten aufspüren und dann darüber aufklären: mit Faktenfindern gegen Falschnachrichten, mit Journalistinnen und Journalisten, die die Videos verifizieren und Inhalte jeder Art überprüfen, und dies akribisch, fast detektivisch tun. Daraus kann man Vertrauen ziehen, und wir wissen dies, weil wir in starken aktuellen Nachrichtenlagen die Gewissheit haben, dass die Menschen im Norden zu uns kommen, wenn es ungemütlich oder unübersichtlich wird: Bei der Geiselnahme am Hamburger Flughafen vor einigen Wochen zum Beispiel, bei der Ostsee-Sturmflut, und das nicht nur im Fernsehen und Radio, sondern auch online mit Audios und Videos, wo wir mit solchen Ereignissen manchmal das an Reichweite und Visits erzielen, was wir sonst in einem Monat zusammenbringen.
Darüber hinaus arbeiten wir daran, unsere Nachrichtenangebote weiter auszubauen. Wir planen im NDR, verantwortlich für ARD-aktuell, künftig eine tägliche Ausgabe der “Tagesschau” in einfacher Sprache, die das Wichtigste vom Tage zusammenfasst. Wir haben uns lange mit diesem Konzept beschäftigt und setzen es jetzt um, weil wir glauben, dass aktuelle Nachrichten in einfacher Sprache nicht nur Komplexität verbal reduzieren können, sondern auch die Erreichbarkeit von Menschen fördern, die sich mit dem aktuellen Geschehen bisweilen überfordert fühlen.
Unverändert halten wir auch am Ausbau aktueller Sendestrecken auf Tagesschau24 fest, nicht nur im Breakingnews-Fall mit unserem großen Korrespondentennetz und der Nachrichtenkompetenz von “Tagesschau” und “Tagesthemen”, sondern auch in normalen Zeiten. Aus diesem Grund werden wir an den Wochenenden ab Anfang 2024 zunächst an den Vormittagen reine Nachrichtenstrecken anbieten und diejenigen zu erreichen versuchen, die sich bereits am Morgen informieren wollen.
Wir brauchen also den Blick in die Welt, aber gerade wir als NDR, als “kleine ARD”, als Regionalsender für vier norddeutsche Bundesländer, brauchen den Blick in die Region und aus ihr heraus. In einer Zeit großer gesellschaftlicher Veränderungen ist es wichtig, dass wir die verschiedenen Sichtweisen – diese sind zwischen Heide und Hannover unterschiedlich – in unsere Programme gleichberechtigt einbringen. Denn die Fugen, die sich durch unsere Gesellschaft ziehen, verlaufen ja auch entlang der Lebensmodelle, zwischen Digital Natives und Menschen, die ihren Kontoausdruck auf Papier abholen, zwischen Ballungszentren mit horrenden Mieten und ländlichen Regionen, oft mit Leerstand.
Mit solchen Gegenüberstellungen hat unsere Gesellschaft viel zu tun. Sie markieren mitunter auch die unterschiedlichen Einstellungen gegenüber gesellschaftspolitischen Veränderungsprozessen. In den “Tagesthemen” machen wir deshalb seit mehr als drei Jahren die Reportagereihe “Mittendrin”, in der fast die Hälfte aller Beiträge aus kleinen Ortschaften kommt – mit weniger als 20.000 Einwohnern. Auch dies trägt zum Zusammengehörigkeitsgefühl einer Gesellschaft bei, und auch hier gilt, dass dieses durch die finanziert wird, die uns täglich nutzen, und die, die es weniger oft oder nur ganz selten tun.
Je unmittelbarer der Kontakt zu unseren Angeboten, desto größer übrigens die Akzeptanz. Man muss es sich einmal vorstellen: Es gibt nicht selten Tage, an denen das “Hamburg Journal” auf 50 Prozent Marktanteil kommt. Also schaut in Hamburg jede zweite Person, die den Fernseher einschaltet, an einigen Tagen um 19.30 Uhr NDR Fernsehen, und das bei gut 100 empfangbaren Sendern. Hier drücken sich Nähe und Verbundenheit von Menschen zu gemeinsamen, nachvollziehbaren Lebensräumen aus, die durch nichts zu ersetzen sind. Die Bedeutung regionaler Berichterstattung wird nach meiner Diagnose in den kommenden Jahren noch zunehmen.
Wir reagieren darauf, indem wir in den nächsten drei Jahren jeweils 2,5 Millionen Euro umschichten für die zusätzliche Berichterstattung aus unseren zwölf norddeutschen Regionalstudios. Dort wollen wir mehr Reporterinnen und Reporter beschäftigen. Wir haben auch die Zahl unserer Regionalvolontariate erhöht, also die Ausbildung junger Menschen. Wir verbinden dies auch mit der Erwartung, dass diese jungen Journalistinnen und Journalisten anschließend in einem dieser Studios arbeiten.
Ich bin nicht froh darüber, dass wir in strukturschwachen Regionen schon heute manchmal der einzige Anbieter journalistischer Inhalte sind. Ich weiß um die Schwierigkeiten von Verlagen und Verlegern und halte Zeitungen für einen essenziellen Bestandteil demokratischer Informationsversorgung. Auch deshalb machen wir Verlagen Angebote zur Kooperation, weil wir am Ende in einem Boot sitzen: vergleichbares Publikum, vergleichbare Interessen. Konkret bedeutet das, dass wir Verlagen unsere Videos anbieten, die sie auch hinter ihren Bezahlschranken einsetzen können. Einige Verlagshäuser machen davon schon Gebrauch. Wir bieten zudem Livestreams des NDR bei großen Nachrichtenlagen an. Aber wir müssen Interesse daran haben, dass wir uns in einer digitalen Welt mit unseren Angeboten, die von Audio und Video geprägt sind, weiterentwickeln können.
Das müssen wir allein schon deshalb tun, um alle Altersgruppen zu erreichen, auch jüngere Menschen, die inzwischen kaum mehr auf Linearität setzen, sondern auf digitale Plattformen. Sonst gefährden wir unsere Legitimation. Diese soziodemografische Spreizung wird deutlich, wenn wir uns einmal anschauen, wie Zielgruppen Medien nutzen. Ich wähle dafür das Beispiel unserer stärksten Marke, der “Tagesschau”: Auf TikTok liegt das Durchschnittsalter bei 26 Jahren (1,4 Millionen Followerinnen und Follower); bei Instagram bei 28 Jahren (4,8 Millionen); auf Facebook bei 36 Jahren, in der App bei 44 Jahren, in der linearen “Tagesschau” um 20 Uhr ist das Durchschnittsalter 63, im NDR Fernsehen 67. Auf Mastodon und WhatsApp liegen uns keine Nutzerdaten vor, aber sicher ist, dass wir mit der Marke “Tagesschau” unterschiedliche Altersgruppen vereinen.
Der Blick auf die Mediennutzung verschiedener Altersgruppen ist nur eine Herausforderung von vielen. Denn da wir allen gehören, ist die Erwartungshaltung an uns so groß und auch die Enttäuschung, wenn wir Dinge bleiben lassen. Wir sollen gleichzeitig überall präsent sein, fest verankert in der Region mit möglichst wenig Mitarbeitenden, besonders schlank, Audio, Video und Online bieten, eben alle Altersgruppen und sozialen Milieus erreichen. Wir sollen Information, Kultur und Bildung bevorzugt behandeln, aber auch weiter “Tatorte” machen, am besten aus jeder norddeutschen Stadt, um allen Standorten gerecht zu werden. Wir sollen uns auf das Wesentliche konzentrieren und besonders bei der Unterhaltung sparen. Kulturträger sollen wir sein, an Festivals teilnehmen, digitaler werden, vielfältig, diskriminierungs- und barrierefrei und, und, und.
Das ist Triumph und Tragik eines öffentlich-rechtlichen Rundfunks für alle. Darin liegt der Reiz meiner Arbeit. Dafür brauchen wir viele gut ausgebildete Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, Kraft, auch Widerstandskraft und Ideen neuer Zusammenarbeit.
So gehen wir in der ARD gemeinsam Reformen an, indem wir stärker zusammenarbeiten. Indem nicht mehr jeder allein alles macht. Zum Beispiel werden wir im NDR jetzt für die ARD die Verantwortung für das Thema Gesundheit übernehmen, die Angebote koordinieren und die gemeinsamen Inhalte und Sendungen anderen zur Verfügung stellen. Andere Häuser der ARD werden für andere Felder in Verantwortung gehen. Wir werden außerdem die Zusammenarbeit von Info-, Kulturradios, von Popwellen und Jungen Wellen ausbauen, so wie wir heute schon aus Hamburg die “Infonacht” für die ganze ARD produzieren. Wir sind also in Bewegung und tragen unseren Teil dazu bei, dass sich der öffentlich-rechtliche Rundfunk verändert bei all seiner föderalen Unterschiedlichkeit zwischen Radio Bremen und dem Westdeutschen Rundfunk.
Zu diesem Gesamtbild gehört auch, dass wir längst nicht mehr nur Sender sind, sondern auch Empfänger. In den sogenannten Community-Bereichen unserer Online-Angebote, in Sendungen mit Zuschauer- oder Zuhörerbeteiligung, in Publikumspostfächern, in zahlreichen neuen Dialogformaten – wir treten mit allen Teilen der Gesellschaft in den Dialog, mutmaßlich auch mit solchen, die behaupten, uns gar nicht zu kennen oder zu nutzen – einige davon mit erstaunlich detailliertem Wissen über unser Angebot. Aber auch dies ist ein Beleg für den Titel dieses Vortrags: Wir sind für alle da, weil wir von allen bezahlt werden, auch für diejenigen, die uns nicht nutzen, sondern vor allem kritisieren.
2024 werden wir ausgelöst durch die KEF-Empfehlung über Beiträge debattieren, durch den Zukunftsrat werden wir uns mit den Herausforderungen des öffentlich-rechtlichen Rundfunks und seiner gesellschaftlichen Rolle beschäftigen, und mit Blick auf die Rundfunkkommission der Länder werden wir dazu auch Vorschläge hören. Wir werden also ein Jahr voller Diskussionen über den gesellschaftlichen Wert öffentlich-rechtlichen Rundfunks erleben, wie übrigens so oft in unserer Geschichte. Und das ist auch gut so, weil wir allen gehören. Auch wir sind – neben vielen anderen – eine Institution, die für das Gelingen einer lebendigen Demokratie geschaffen wurde.
Und ebenso müssen wir lebendig bleiben und lernfähig. Denn zur Wahrheit gehört auch, dass wir Fehler machen. Und wenn wir sie machen, dann ist Transparenz wichtig. Dass das nicht immer so gut gelingt, wie wir uns das vorstellen, ist auch kein Geheimnis. Aber mein Eindruck ist, dass wir besser werden, schneller, weniger verdruckst. Wir lernen auch in den Sendern selbst. Ich habe es im NDR im vergangenen Jahr erlebt, dass eine Vertrauenskrise, ausgelöst in zwei Landesfunkhäusern, uns kräftig durcheinandergeschüttelt hat. Wir haben dazu eine transparente Form der Aufarbeitung gewählt: Durch einen externen Bericht, den wir nicht nur nach innen kommuniziert, sondern auch öffentlich gemacht haben. Der in der Folge eingeleitete Kulturwandel und die Arbeit eines eingesetzten Kulturkreises sind eine große Chance, das Miteinander im Haus zu verändern.
Das bietet die Möglichkeit, in turbulenten Zeiten auch für selbstbewussten Journalismus, für selbstbewusste Arbeit zu stehen. Denn wie in allen Medienhäusern erleben wir eine Arbeitsverdichtung, die Einführung neuer Technologien, den schwierigen, weil ja auch riskanten Umstieg auf die Digitalisierung – wer gibt schon gerne ein seit Jahrzehnten produziertes lineares Format auf für die Ungewissheit eines Podcasts? Und auch der journalistische Beruf verändert sich, weil er doch bei allen Vorzügen der Tätigkeit materiell und ideell hat Federn lassen müssen.
Und wenn wir über Fehlerkultur reden, dann gehört dazu auch die gründliche Aufarbeitung von Dingen, die das Programm betreffen. Wir arbeiten zum Beispiel gerade Filme und Interviews auf, die ein renommierter Autor mit und über Wladimir Putin gemacht hat – 2012 und 2014. Wir tun dies, weil der Verdacht besteht, dass der Autor nicht so unabhängig gearbeitet hat, wie es für uns zwingend erforderlich ist. Ich habe deshalb den ehemaligen “Spiegel”-Chefredakteur Steffen Klusmann gebeten, die Vorgänge um die Beauftragung und Umsetzung gründlich zu prüfen und daraus auch Empfehlungen abzuleiten, wenn etwas nicht richtig gelaufen sein sollte, und dies macht er gemeinsam mit dem NDR-Justiziar. LINK Damit wir gegebenenfalls daraus lernen können.
Sowohl für den NDR als auch für die ARD gilt: Wir gehören der Gesellschaft, wir verändern uns auch mit ihr, wir müssen lernend bleiben. Lernen müssen wir zum Beispiel, nicht jede geäußerte Meinung gleich einzuordnen und zu kommentieren und mit Achtung und Respekt das Privileg zu leben, der Gesellschaft zu gehören und von ihr finanziert zu sein.
Eine Erkenntnis aus der Studie der EBU zu Demokratie und öffentlichen Sendern möchte ich Ihnen ganz am Ende nicht vorenthalten. Das gesellschaftliche Vertrauen ist laut EBU-Studie in den Ländern am höchsten, in denen der Eurovision Song Contest am meisten und intensivsten verfolgt wird. Sie wissen: Wir landen sehr häufig sehr weit hinten, und dann setzt eine engmaschige Exegese ein. Aber für die eigentliche Frage tut dies nichts zur Sache. Denn in diesem Mai haben in Deutschland fast acht Millionen Menschen das Finale live gesehen, deutlich mehr als noch im Jahr zuvor. Daraus lerne ich zweierlei: Unterhaltung ist wichtig, und dabei sein ist alles.