Nicht vergessen – Wie ARD und ZDF den Krieg in der Ukraine dokumentieren.
23. Februar 2024
Bilder des Schreckens: Zum zweiten Jahrestag des Angriffskriegs in der Ukraine zeigen mehrere Dokus bei ARD und ZDF die Auswirkungen der Kämpfe in dem Land. René Martens wirft bei epd Medien einen kritischen Blick auf einige der Filme. Der Oscar-nominierte Film “20 Tage in Mariupol” zeigt nicht nur Bilder der damals einzigen professionellen Berichterstatter in der Stadt, sondern brilliere mit “kalten Sounds der Verstörung”. Bildlich überzeugt “10 Jahre Krieg – Wie die Ukraine für ihre Freiheit kämpft” von ARD-Studioleiter Vassili Golod Martens hingegen nicht. turi2 veröffentlicht seinen Beitrag in der Reihe Das Beste von epd Medien bei turi2.
Von René Martens / epd Medien
Im Januar veröffentlichte Vassili Golod, der Leiter des ARD-Studios in Kiew, einen mahnenden Post in verschiedenen sozialen Netzwerken: “Raketeneinschläge in Kyiv, Charkiw, Pawlohrad. Ein weiterer Kriegstag. Wieder haben russische Angriffe Ukrainerinnen und Ukrainer getötet. Wieder sehen wir zerstörte Häuser. Menschen, die aus Trümmern gezogen werden. Wir dürfen uns daran nicht gewöhnen. Wir dürfen die Ukraine nicht vergessen.” Offensichtlich hat nach Meinung Golods die mediale Aufmerksamkeit für das Land, aus dem er berichtet, in jüngerer Vergangenheit zu wünschen übrig gelassen.
Anlässlich des zweiten Jahrestags der russischen Invasion am 24. Februar haben hiesige Sender nun Dokumentationen und Dokumentarfilme im Programm und in den Mediatheken, die die Entwicklung des Krieges und die Geschichte des Landes auf eine Weise in den Blick nehmen, die in der tagesaktuellen Berichterstattung kaum möglich ist. Bei ZDF und Arte gibt es umfangreiche Schwerpunkte. Auch ARD-Studioleiter Golod hat gemeinsam mit seiner Korrespondentenkollegin Birgit Virnich eine Dokumentation gedreht.
René Martens
ist freier Fernsehkritiker und Autor von epd medien. Er ist seit Jahren regelmäßiges Mitglied der Grimme-Jurys und Nominierungskommissionen
Der bekannteste Film unter den Produktionen, die zum Jahrestag zu sehen sind, ist der Dokumentarfilm “20 Tage in Mariupol” (Foto oben). Er hat 2023 bereits zahlreiche Festival- und Kritiker-Preise gewonnen und am Tag vor der linearen Ausstrahlung kam auch noch eine Auszeichnung bei den British Academy Film Awards hinzu. Nicht zuletzt ist er für den Oscar in der Kategorie bester Dokumentarfilm nominiert.
Der Regisseur Mstyslav Chernov, der Fotograf Evgeniy Maloletka und die als “Field Producer” firmierende Vasilisa Stepanenko, allesamt ukrainische Mitarbeitende der Nachrichtenagentur Associated Press (AP), waren in der Anfangsphase des russischen Angriffs auf die ukrainische Wirtschaftsmetropole Mariupol im Frühjahr 2022 die einzigen professionellen Berichterstatter in der Stadt. Ihre Bilder werden noch jahrzehntelang gezeigt werden.
Chernov zeigt immer wieder Personen, die die Filmemacher dazu drängen, alles zu dokumentieren, was sie sehen. “Zeig dem Bastard Putin die Augen dieses Kindes und all die Ärzte, die weinen”, sagt ein Arzt, während er, letztlich vergeblich, mit mehreren Mitarbeitenden eines Krankenhauses versucht, ein vierjähriges Mädchen wiederzubeleben. Und nachdem Chernov die Folgen eines Angriffs auf ein weiteres Krankenhaus, eine Kinder- und Geburtsklinik, dokumentiert hat, richtet ein Polizist eine Ansprache an die Menschen, die die AP-Bilder in den Nachrichtensendungen von CBS, CNBC, ABC oder PBS sehen werden. Der so entstehende Kontakt zu diesem Polizisten wird für die Filmemacher später von entscheidender Bedeutung sein, denn er wird ihnen zur Flucht aus der Stadt verhelfen.
Eine wesentliche Qualität dieses Dokumentarfilms besteht darin, dass er seinen Zuschauern niemals das Gefühl vermittelt, dass er die Würde all der Toten und Sterbenden verletzt, die hier zu sehen sind, sondern dass der einzig mögliche Umgang mit diesen Bildern darin besteht, sie intensiv auf sich wirken zu lassen. Kongenial ist Chernovs Zusammenarbeit mit dem Avantgarde-Musiker und Kammermusikkomponisten Jordan Dykstra, dessen kalte Sounds der Verstörung, die die Bilder auslösen, noch eine zusätzliche Ebene hinzufügen.
Unmittelbarkeit der Bilder
Bilder und Eindrücke aus einer späteren Kriegsphase des Jahres 2022 liefert Arndt Ginzels Dokumentarfilm “White Angel – Das Ende von Marinka”. Ginzels Protagonist ist Vasyl Pipa, genannt Vasya, Polizist seit 2001. Im Sommer 2022 ist er Teil eines Teams, das mit einem weißen Transporter Bewohner der von der russischen Armee angegriffenen Stadt Marinka evakuiert – und manchmal auch auf Menschen trifft, die trotz intensiven Zuredens gar nicht evakuiert werden wollen.
Um Kriegsverbrechen zu dokumentieren, hat sich Pipa eine GoPro-Kamera besorgt, die er während der Einsätze mit dem Transporter, dem die Menschen vor Ort wegen seiner Farbe den Namen “weißer Engel” geben, an seinen Helm montiert. Diese Bilder, die im späteren Verlauf des Films auch zeigen, wie das Team um Pipa Leichen und Leichenteile birgt, bilden das Gerüst von “White Angel”. Ergänzend dazu führt Ginzel Interviews mit seinem Protagonisten, dessen Vorgesetzten sowie mehreren mit dem Transporter geretteten Personen. Diese Interviews entstanden später, Monate, nachdem russische Truppen Marinka dem Erdboden gleichgemacht haben.
“White Angel” lebt von der Unmittelbarkeit der Bilder. Von Bildern, die nur entstehen konnten, weil die Kamera immer mitlief. Zu den Szenen, die lange im Kopf bleiben, gehören jene, in denen sich der “weiße Engel” 1,2 Kilometer von der Kampfzone entfernt befand und der Transporter bereits mit Zivilsten überfüllt war. Plötzlich musste er auf dem Weg aus dem Gefahrengebiet heraus auch noch schwer verletzte Soldaten aufnehmen. Die entstehende Enge im Inneren des Fahrzeugs hätte keine zusätzliche Person dokumentieren können. Im linearen Programm zeigte das ZDF diesen Dokumentarfilm um 20.15 Uhr, das ist angesichts der recht rohen Bilder anerkennenswert.
Die Bilder sprechen für sich
Die Dokumentation “Der Kampf der Frauen – Zwei Jahre Krieg in der Ukraine” bekam dagegen nur einen Platz im linearen Nachtprogramm. Für diesen Film hat die ZDF-Reporterin Anne Brühl Frauen wiedergetroffen, über die sie im August 2023 schon kürzere Beiträge produziert hat – für das “Auslandsjournal”, das “Heute-Journal” oder das “Mittagsmagazin”. Unter ihnen ist die Ärztin Olena Juswak, die 2022 in russischer Gefangenschaft saß und nun nach ihrem Sohn sucht, der weiterhin gefangen ist – falls er noch lebt. Brühl liefert in diesem Zusammenhang die wichtige Information, dass sich derzeit noch schätzungsweise 28.000 ukrainische Zivilisten in russischer Gefangenschaft befinden.
Eine andere Protagonistin des ZDF-Films, der unter dem Label “Auslandsjournal – Die Doku” läuft, ist die Soldatin Natalia Rodriges, die Kriegsverbrechen dokumentiert, getötete Soldaten in die Gerichtsmedizin bringt und hilft, deren Beerdigungen zu organisieren. Man merke ihr “die Erschöpfung an, die Schwere, die ihr das Leben als Soldatin abfordert”, sagt Brühl an einer Stelle. Das merken allerdings auch die Zuschauerinnen und Zuschauer, sie hätten diese Einschätzung nicht gebraucht. Damit ist ein Makel dieser “Auslandsjournal”-Doku benannt: Sie hat zu viel Off-Text.
Das gilt auch für eine Passage über freiwillige Helferinnen, die im Dorf Lukaschiwka zum Wiederaufbau nach der russischen Besatzung beitragen. Als die Kamera zeigt, wie bei einem Essen mit einer älteren Dorfbewohnerin die Gastgeberin Schnaps einschenkt, kommentiert Brühl dies mit den Worten, zum Essen gehöre “auch ein guter Schluck Wodka”.
Zeit für Reformen
Die bereits erwähnten WDR-Kollegen Vassili Golod und Birgit Virnich haben einen Film gedreht, der schon im Titel deutlich macht, dass für viele Menschen in der Ukraine der Krieg nicht erst am 24. Februar 2022 begann: “10 Jahre Krieg – Wie die Ukraine für ihre Freiheit kämpft”.
Unter anderem mit der Menschenrechtsanwältin und Friedensnobelpreisträgerin Oleksandra Matwijtschuk blicken die Autoren zurück auf das Vordringen russischer Truppen in Teilgebiete der Ukraine im Frühjahr 2014. “Wenn die internationale Gemeinschaft konsequent auf die Besetzungen der Regionen Krim, Luhansk, Donezk reagiert hätte, würde es diesen großen Krieg einfach nicht geben”, sagt Matwijtschuk. “Denn so lange etwas ungestraft bleibt, wächst der Appetit der Aggressoren.”
Eine andere in der Ukraine sehr bekannte Protagonistin ist Julia Maruschewska, die zu den Gesichtern der Maidan-Protestbewegung gehörte und heute im Verteidigungsministerium damit beschäftigt ist, Strukturen zu schaffen, die weniger für Korruption anfällig sind als die bisherigen. “Der Kriegszustand ist die beste Zeit für Reformen. Es geht nicht darum, nach dem Krieg zu reformieren, nein, wir müssen uns reformieren, um diesen Krieg zu gewinnen”, sagt Maruschewska.
Golods und Virnichs Film zeigt zahlreiche solcher innenpolitischen Aspekte, die in der aktuellen Kriegsberichterstattung zwangsläufig wenig Platz finden. Auf der bildlichen Ebene überzeugt die Dokumentation allerdings nicht. Zwischenbilder zeigen Gesprächspartner in Slow Motion – ein mittlerweile ziemlich abgenutztes Stilmittel – oder auch mal im Zeitraffer rückwärtslaufend. Folgen auf solche gimmickartigen Bilder dann direkt mehrere Aufnahmen, die Kriegsverbrechen an Zivilisten dokumentieren, wirkt das etwas unausgegoren.
Kriegsverbrechen
Zwei weitere Filme zum zweiten Jahrestag der Invasion beziehen sich nicht direkt auf das Kriegsgeschehen. Dirk Schneider und Andreas Fauser widmen sich dem “Kampf um die Geschichte”, wie der Untertitel ihrer Dokumentation “Blackbox Ukraine” lautet. Der russische Präsident Wladimir Putin vertritt in diesem “Kampf” die Position, dass die Ukraine historisch betrachtet zu Russland gehöre. Schneider und Fauser, die bis in die Zeit zurückblicken, als die Stadt Kiew eine große Bedeutung für die Wikinger hatte, arbeiten dagegen in Gesprächen mit Historikerinnen und Historikern heraus, dass Putins Behauptung nicht haltbar ist. Das Gebiet der heutigen Ukraine habe beispielsweise viel länger zu Polen gehört als zu Russland, sagt der Schweizer Osteuropa-Historiker Andreas Kappeler. Im Off-Text heißt es: “Das Gebiet der Ukraine wird eine Art goldenes Land für das größte und aufgeklärteste Land des Spätmittelalters: Polen-Litauen.”
Die Autoren kombinieren die Einschätzungen der von ihnen befragten Expertinnen und Experten mit Aufnahmen von zeitgenössischen Gemälden, Ausschnitten aus (meist sowjetischen) Historienfilmen und ab der Zeit des 20. Jahrhunderts auch mit dokumentarischen Archivbildern. Das Gestaltungsprinzip trägt aber nicht über 90 Minuten. Das Durchhalten fällt einem als Zuschauer nicht leicht, obwohl es sich unter dem Gesichtspunkt der Weiterbildung lohnt – vor allem wegen der Ausführungen des unter anderem auf die Geschichte Osteuropas spezialisierten Yale-Professors Timothy Snyder.
Über dem Gesetz
“War and Justice” – wie “Blackbox Ukraine” Teil des Arte-Schwerpunkts – ist die Fortsetzung des 2013 in die Kinos gekommenen Dokumentarfilms “The Court”, den Marcus Vetter und Michele Gentile über den Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag (ICC) gedreht haben und der in starkem Maße ein Porträt von Luis Moreno Ocampo war. Er war von 2003 bis 2012 der erste Chefankläger dieses Gerichtshofs.
In “War and Justice” blickt das Autorenduo auf den russischen Angriffskrieg im Kontext anderer Aggressionskriege und Kriegsverbrechen des 21. Jahrhunderts. Eine zentrale Rolle spielen die aktuellen völkerrechtlichen Diskussionen um den Krieg in der Ukraine – wobei wieder Moreno, den die Filmemacher auf der Fahrt und bei den Vorbereitungen für einen Vortrag zur Geschichte des ICC in Nürnberg begleiten, eine zentrale Rolle zukommt.
“War and Justice”, uraufgeführt im Juni 2023 auf dem Filmfest München, aber nach dem Massaker der Hamas am 7. Oktober noch aktualisiert, ist streckenweise inszeniert. Diese Passagen sind nachvollziehbar, weil man für das Sprechen über das Völkerrecht eine lebendige Form finden muss. So schlägt hier ein – sagen wir mal: überraschend fachkundiger – Chauffeur Moreno auf der Autobahn ein “Gedankenspiel” vor und fragt, wen er anklagen würde, wenn nicht nur 123 Länder, sondern 195 UN-Staaten den ICC anerkennen würden.
Es geht um die unterschiedliche Zuständigkeit des Gerichtshofs für Kriegsverbrechen und “Aggressionsverbrechen”, also Angriffskriege. Auf den aktuellen Krieg in der Ukraine bezogen heißt das: Wenn es um Kriegsverbrechen geht, reicht es aus, dass die Ukraine die Den Haager Gerichtsbarkeit anerkennt. Bei Aggressionsverbrechen dagegen, so Moreno, verlange das Römische Statut, das die vertragliche Grundlage für das ICC bildet, “dass nicht nur das angegriffene Land das ICC anerkannt haben muss, sondern auch der Aggressor”. Russland gehört wie die USA allerdings zu den Staaten, die das ICC nicht anerkennen. “Also stehen diese Leute über dem Gesetz”, sagt Moreno.
Zahlreiche Politiker, unter anderem das Europäische Parlament, fordern aufgrund dieser Gesetzeslücke die Einrichtung eines UN-Sondertribunals für den Ukraine-Krieg. Moreno hält es für den falschen Weg, eine zusätzliche Institution zu schaffen. Sein Vorschlag: Man müsse nur eine “kleine Sache” im Römischen Statut ändern, aber es sei schwer, das einer breiten Öffentlichkeit zu vermitteln. Morenos Forderung greifen die Filmemacher in einem Textblock im Abspann auf: Es liege “nun an den 123 Mitgliedsstaaten, die Römischen Statuten zu ändern und dem ICC die Zuständigkeit für jeden Angriffskrieg zu übertragen, unabhängig davon, ob der Angreifer Mitglied ist oder nicht”.
Dass die europäischen Mitgliedstaaten des ICC durch eine Gesetzesänderung die USA brüskieren werden, ist in der derzeitigen weltpolitischen Situation allerdings unwahrscheinlich. So gesehen blickt Vetters und Gentiles Film sehr weit nach vorn.