“Ein Pass für demokratiefördernde Medien” – Björn Staschen fordert Medienförderung statt Zustellförderung.
23. September 2023
Gutschein für Gedrucktes? Eine staatliche Zustellförderung für Zeitungen scheint vorerst gescheitert, das Problem, dass sich Zeitungen und Zeitschriften nicht mehr rentabel in ländlichen Gegenden zustellen lassen, bleibt. Journalist und Change-Experte Björn Staschen sieht unser Mediensystem und unsere Demokratie bedroht, wenn Informationen nicht mehr überall hin gelangen. Bei epd Medien rät er Medien und Politik, die Perspektive der Nutzenden einzunehmen und ihnen die Macht über die Medienförderung zu geben. Ihm schwebt ein Gutschein-System vor, vergleichbar mit dem Kulturgutschein für junge Erwachsene. Von der Förderung könnten dann nicht nur Print-Medien, sondern auch Bezahl-Podcasts und Newsletter profitieren. Dieser Text ist Teil der Reihe Das Beste von epd Medien bei turi2.
Die ersten Regionen in Deutschland – beispielsweise im Osten Thüringens – werden nicht mehr mit gedruckten Lokalzeitungen beliefert, weil Druck und Zustellung zu teuer geworden sind. Das ist eine Katastrophe für unsere Demokratie. Eine Vertriebsförderung würde hier wie ein Pflaster eine Wunde abdecken, sie aber nicht heilen. Denn die Förderung käme letztlich dem bedruckten Papier zugute, das ausgetragen wird. Das ist nicht besonders zukunftsweisend. Es fehlen Impulse, die auf Dauer die Zukunft unseres Mediensystems sichern.
Zu unserem Mediensystem gehören neben Printmedien und elektronischen Medien, Verlagen und Sendern auch journalistische Start-ups und Podcast-Produzenten. Sie alle sehen sich der erdrückenden Übermacht weniger multinationaler Konzerne gegenüber: Meta, der Google-Mutterkonzern Alphabet, Apple, Microsoft und Amazon in den USA und Tencent (mit Wechat) oder Bytedance (mit Tiktok) in China bestimmen nicht nur die Regeln für einen immer wichtiger werdenden Teil der öffentlichen Debatte, sie haben auch den Werbemarkt, über den die Medien jahrzehntelang mindestens einen Teil ihrer Einnahmen erzielten, in kurzer Zeit zerstört.
Insofern wäre es falsch, lediglich eine Pressevertriebskrise zu diagnostizieren: Unser gesamtes Mediensystem ist bedroht. Hamburgs Kultur- und Mediensenator Carsten Brosda stellte vor einigen Wochen in einem Interview mit epd medien fest: “Aus demokratiepolitischer Sicht haben wir kaum ein wichtigeres Thema: Wie bekommen wir es hin, auch in fünf oder zehn Jahren noch über alle Belange kommunikationsfähig zu sein?”
Was können wir tun? Möglicherweise hilft es, vom explosionsartigen Wachstum der monolithischen Plattformen zu lernen. Was macht den Erfolg von Meta und anderen Netzwerken aus? Die Plattformen haben sich radikal auf die Perspektive der Nutzenden eingelassen, um Daten zu sammeln und auf dem Werbemarkt einzusetzen. Diese Nutzerzentrierung hält langsam auch Einzug in Redaktionen – mit mehr Dialog und Debatte beispielsweise darüber, warum sich manche in unserem Mediensystem kaum noch repräsentiert fühlen.
Ließe sich diese Nutzerzentrierung auch auf ein neues Modell der Medienförderung übertragen? Ich glaube schon.
Im November 2015 stimmten die Wähler von Seattle für eine Initiative mit dem Namen “Honest Elections Seattle” (“Ehrliche Wahlen für Seattle”). Sie reformierten damit unter anderem die Wahlkampffinanzierung durch die Kandidaten. Eine Kommission gibt seitdem vier “Demokratie-Gutscheine” im Wert von je 25 Dollar an die Einwohner aus, die selbst entscheiden können, welche Kandidaten sie damit fördern wollen. Ein transparentes System, das die Entscheidung darüber, wer wie gefördert wird, den Wählern überlässt. Also: ein nutzerzentriertes Modell der Wahlkampffinanzierung.
Zeitungen und Zeitschriften in Deutschland verlieren rasant an Auflage und Werbeeinnahmen, manche Regionalverlage verabschieden sich in einigen ländlichen Gebieten bereits von der morgendlichen Zeitungszustellung per Boten. Doch eine Zustellförderung, die bereits von der alten Bundesregierung aus Union und SPD angekündigt worden war, kommt weiterhin nicht in die Gänge. Auch im Haushalt 2024, über den derzeit der Bundestag berät, ist keine Presseförderung vorgesehen. Welche andere Fördermodelle gäbe es, um das Mediensystem insgesamt – das durch Plattformen wie Facebook und Google unter Druck geraten ist – und damit die Demokratie zu stärken, fragt der Journalist und Medienberater Björn Staschen in diesem Gastbeitrag. Der Text fasst medienpolitische Vorschläge aus seinem Buch “In der Social Media Falle – Wie wir unsere digitale Freiheit retten” zusammen, das dieser Tag bei Hirzel erschienen ist. Staschen arbeitete zuletzt als Manager für Transformation und Innovation beim NDR. Seit Anfang Juni ist er dort Personalratsvorsitzender. Er hat sich Ende Juli bei den Plattformen X (vormals Twitter), Facebook, Instagram und Linkedin abgemeldet.
Solche “Voucher-Modelle” haben Konjunktur und geben die Verantwortung für das, was gefördert wird, in die Hände derjenigen, die am Ende auch profitieren sollen, der Bürgerinnen und Bürger.
Auch Deutschland sammelt gerade Erfahrungen mit einem solchen Modell: Kulturstaatsministerin Claudia Roth hat nach der Corona-Pandemie ein voucherbasiertes System zur Kulturförderung entwickelt. Mit dem “Kulturpass” bekommt in diesem Jahr jeder und jede 18-Jährige einen Etat von 200 Euro für ein Jahr, den er oder sie für Kulturangebote ausgeben kann. Das Modell leidet unter Startschwierigkeiten, Kulturstaatsministerin Roth hat aber bereits angekündigt, dass sie den Pass in den kommenden Jahren auch für unter 18-Jährige ausgeben will. Aus meiner Sicht weist das grundsätzlich in die richtige Richtung.
Ein Pass für demokratiefördernde Medien könnte ähnlich funktionieren: Alle Bürger bekommen ein jährliches Budget, aus dem sie den Zugang zu Information und Meinungsbildung bezahlen können. Sie können frei entscheiden, welche Zeitung, welches Online-Angebot, welchen Podcast sie abonnieren. Jeder kann sich mit diesem Demokratiepass kostenpflichtige Medienangebote leisten, auch Bezahl-Newsletter, die derzeit eher einkommensstarken Lesern vorbehalten bleiben.
Jeder könnte entscheiden, wofür er das Geld ausgeben will: für die regionale Tageszeitung oder den Newsletter des “Social Media Watchblog”, für das “Handelsblatt Morning Briefing” oder die “Frankfurter Allgemeine Zeitung”. So werden die Menschen in den Stand versetzt, an Meinungsbildung und Information unabhängig davon teilzunehmen, wie viel Geld sie verdienen. Ein Ziel, das ein demokratisches System ohnehin verfolgen sollte.
Ein solcher Demokratiepass umgeht auch das Problem, dass der Staat schwerlich Medien direkt fördern kann, ohne mindestens dem Anschein nach deren Unabhängigkeit zu gefährden: Wenn die Nutzerinnen und Nutzer entscheiden, für welche Medien sie ihr Geld ausgeben, stellt sich diese Frage nicht. Die Einzelnen wiederum fördern damit Projekte, die sie auch real nutzen, die folglich funktionieren. Förderung fließt damit nicht an Empfänger, die möglicherweise hehre Ziele verfolgen, aber von der Öffentlichkeit gar nicht wahrgenommen werden.
Die Einführung eines solchen Demokratiepasses für die Mediennutzung ist nicht trivial und es wird dafür grundsätzliche Debatten geben müssen. Denn nicht alle Projekte sollten mit dem Demokratiepass genutzt werden können, sondern nur solche, die im Sinne unserer Demokratie freien Zugang zu Information und Meinungsvielfalt sichern. Medien also, die inhaltlichen Qualitätsstandards genügen und zur demokratischen Meinungsbildung beitragen.
Dafür müssen Qualitätskriterien sowohl für die Inhalte als auch für die Strukturen der Angebote festgelegt werden, denn mit der Digitalisierung lässt sich das eine nicht ohne das andere denken. Für mich als Nutzer ist eine wichtige Frage, ob ich selbst entscheiden kann, ob ich Daten preisgebe oder nicht, ob ein Angebot offen und mit anderen verbunden ist oder ob es nur darauf abzielt, mich möglichst lange im eigenen Silo zu halten.
Wir brauchen eine Art Gütesiegel für demokratiefördernde Angebote, eine Demokratieampel, die ich mir analog zur Lebensmittelampel auf Verpackungen oder dem Tierwohllabel vorstelle: rot für monolithische Angebote wie Instagram oder demokratiefeindliche Plattformen, gelb für Angebote, die viele Standards erfüllen, aber (noch) nicht alle, grün für vorbildliche Plattformen wie Angebote im Fediverse, die Mediatheken der öffentlich-rechtlichen Sender oder den Bezahlnewsletter meiner Regionalzeitung.
Auf diese Weise fügen wir Apps, Plattformen und Inhalte sichtbar zu einem grünen, demokratiefördernden Verbund zusammen, weil sie sich auf bestimmte Mindeststandards verpflichten. Das wird ihnen Sichtbarkeit verleihen und gibt uns Nutzerinnen und Nutzern Orientierung. Ein solches Siegel muss verpflichtend in App-Stores abgebildet werden, wenn Unternehmen sie hierzulande anbieten wollen. Und die Gesellschaft, also Bund, Länder, aber auch Stiftungen und andere Akteure müssen Millionen in diese Ampel und in die Förderung “grüner” Angebote stecken, um der massiven Eigenwerbung der Plattformen etwas entgegenzusetzen.
Aus meiner Sicht müsste zudem geregelt werden, dass gemeinschaftlich finanzierte Inhalte auch auf “grünen” Plattformen zu finden sein müssen: Kein Politiker-Statement darf exklusiv auf X (vormals Twitter) verfügbar sein, keine Senatorin darf Instagram exklusiv anvertrauen, wen sie gerade getroffen hat. Denn dies zwingt Menschen dazu, die großen Plattformen zu nutzen. Es ist eine etwas verrückte Vorstellung, dass demokratische Institutionen Menschen auf Plattformen zwingen, die die Demokratie bedrohen.
Ich schreibe ausdrücklich “gemeinschaftlich finanziert”, weil ich damit auch die Inhalte der öffentlich-rechtlichen Sender meine. Exklusive Angebote für kommerzielle Plattformen – Videos für Tiktok, Podcasts für Spotify – sollte der Gesetzgeber ausschließen. Als Vorgabe sollten Inhalte mindestens auch auf alternativen Plattformen zur Verfügung stehen. Das können die Mediatheken der Sender sein, besser noch sind es aber standardoffene Plattformen. Das ist nicht trivial, weil auch Lizenzfragen mitschwingen. Die “Tagesschau” hat gezeigt, wie das mit Blick auf eigene Inhalte gehen kann, als sie einige ihrer Erklärvideos mit einer Creative-Commons-Lizenz versehen hat: Sie sind nun auch auf Wikipedia zu finden.
Aber wer könnte über die Kennzeichnung der Angebote entscheiden, ohne das System dem Vorwurf staatlicher Zensur auszusetzen?
Demokratiepass und Demokratieampel funktionieren nicht ohne vom Staat unabhängige Gremien, die sich mit der Frage auseinandersetzen, welche Angebote förderungswürdig sind und welche nicht. Eine Art Digitalboard könnte diese Debatte übernehmen, in dem Expertinnen und Bürger zusammenarbeiten: Dieses Gremium würde nicht nur entscheiden, welche Medien mit dem Demokratiepass gefördert werden können. Es könnte darüber hinaus Leitplanken für eine demokratiefördernde Digitalpolitik vorschlagen und weiterentwickeln. Die Amtszeiten der Gremienmitglieder sollten auf zwei Jahre beschränkt sein, damit reger Austausch für Selbstreflexion und Weiterentwicklung sorgt.
Mit Blick auf die föderale Struktur unseres Mediensystems könnte es ratsam sein, solche Digitalräte auf Länderebene zu gründen, aus deren Mitte sich dann ein bundesweites Gremium durch Entsendung zusammensetzt. Auch in den Städten und Landkreisen könnten sich Menschen finden, die an diesen Themen arbeiten. Nicht “noch ein Gremium”, sondern eine Heimat für die wichtigen Debatten dieses Landes, ein digital verbundenes Netz von Gremien mit möglichst vielen Bürgerinnen und Bürgern.
Denn diese Debatte fehlt uns: Wir sollten häufiger darüber diskutieren, wie wir uns informieren, wie wir unsere Meinungen bilden, wie wir streiten wollen: Was sind die Orte, an denen wir diskutieren, und wer richtet sie ein?
Viele dieser Orte werden digital sein – auch wenn es gut wäre, wenn wir uns in die Augen schauen, während wir unsere Gesellschaft voranbringen. Nach welchen Regeln streiten wir an diesen digitalen Orten? Wer legt die Regeln fest und achtet darauf, dass sie eingehalten werden? Übernehmen öffentlich-rechtliche und private Sender oder Verlage einige dieser Aufgaben, und wenn ja: welche? Wie stellen wir sicher, dass wir unsere persönlichen Daten nur dort einsetzen müssen, wo wir dies auch wollen? Nutzen wir Algorithmen, um beispielsweise bei der Suche bessere Ergebnisse zu erhalten? Und wenn ja: Wer wacht über diese Algorithmen, wer sorgt dafür, dass sie transparent geteilt und überprüft werden, damit sie zum Beispiel nicht diskriminieren? Über diese und weitere Fragen müssen wir eine neue Debatte in Gang setzen, die die gesamte Gesellschaft einbezieht.
Unsere Parlamente sind dafür ein ebenso guter Ort wie unsere Schulen oder Vereinsversammlungen. Denn an jeder Stelle treffen wir täglich Entscheidungen für oder gegen die Plattformen, sei es über neue Facebook-Konten oder den letzten (im doppelten Wortsinn) Beitrag auf X. Diese Debatten müssen morgens in der Schule, mittags in der Kantine, nachmittags an der Universität und abends in der “Tagesschau” stattfinden.
Wir brauchen Politiker, die offen über ihr Zukunftsbild von unserem Mediensystem streiten. Auch der Bundestag sollte zehn Jahre nach der Enquetekommission “Internet und digitale Gesellschaft” einen neuen Versuch unternehmen, diese Zukunft zu beschreiben. Seinerzeit fragten die Politiker und Experten in ihrem Abschlussbericht noch, “ob und gegebenenfalls in welcher Form der Bund oder die Länder gehalten sind, von Intermediären möglicherweise ausgehenden Gefahren für die freie Meinungsbildung entgegenzuwirken”. Im November 2020 ist der erste Medienstaatsvertrag in Kraft getreten, der auch Intermediäre wie Online-Plattformen und Suchmaschinen reguliert.
Wir können noch etwas lernen vom rasanten Aufstieg der Plattformen: “Move fast and break things”, so beschrieb Mark Zuckerberg seine unternehmerische Haltung, also in etwa: “Schnell handeln und Dinge zerbrechen.” Er meinte: Wir müssen ausprobieren, loslegen, machen – auch auf die Gefahr hin, dass nicht alles gelingt. Wir dürfen nicht erst jahrelang diskutieren, bevor wir Demokratiepass und -ampel auf den Weg bringen. Wir sollten schnell eine erste Version entwickeln und später verbessern. Veränderung muss schnell gelingen, damit unser Mediensystem überlebt.