Spielestreaming: Twitch hat die Sportübertragung für das Gaming-Zeitalter demokratisiert – und wird heute auch von Anglern genutzt. Dirk Stascheit analysiert für die turi2 edition #9 das YouTube der Gamer und Sky für alle, das als Geschäftsmodell auf viele Arten interessant ist.
Es ist das YouTube der Gamer, das Sky für alle, die am Samstagnachmittag lieber Ballersieger statt Bundesliga anschauen. Twitch heißt auf deutsch “zucken”, wie das Zucken des Zeigefingers am Abzug, Pardon, der linken Maustaste. Mit ein wenig Zynismus könnte man den Namen auch auf die nervös-muskulären Anfälle beziehen, die besonders sensiblen Zuschauern nach zu langem Verweilen auf der Livestreaming-Plattform drohen könnten.
Twitch startete 2011 als Ableger der mittlerweile trockengelegten Livestreaming-Seite Justin.tv, weil dort die Videospiel-Streams überhandnahmen. 2012 bekam das nerdige Netzwerk einen Webby-Award und 2014 mit Amazon einen finanzkräftigen und clouderfahrenen Käufer, der eine knappe Milliarde Dollar dafür hinblätterte. Bei Twitch sehen die Zuschauer, wie auch bei der klassischen Sportübertragung im Fernsehen, ihren Lieblingsspielern zu und können dabei gleichzeitig per Live-Chat fachsimpeln und anfeuern – wie Manni und Schorsch auf den Stehplätzen in der Südkurve.
Im Gegensatz zur Südkurve wird es bei Twitch jedoch weniger schnell langweilig, denn die Spieler können zwischen verschiedenen Streams hin- und herschalten und so einfach die Sportart – also das Computerspiel – wechseln. Wer mit seinen Streams gesehen werden will, muss nicht unbedingt zu den Besten der Besten gehören: Mehr oder weniger prominent zu sein, reicht wie im Privatfernsehen aus, um eine ansehnliche Reichweite zu erzielen. Corinna Kopf etwa – die vollblonde Fantasie-Freundin vieler 14-jähriger Fortnite-Spieler – liegt zwar nur auf Rang 451 der Twitch-Charts, hat aber respektable 334.000 Follower. Wieder andere Streamer fungieren gewissermaßen als Stiftung Shootertest und sind für ihre Fans kompetente Ratgeber und Prüfer frisch veröffentlichter Computerspiel-Ware.
Zunächst durften sich Streamer bei Twitch nur beim Zocken zeigen. Seit Ende 2016 kann man in der neuen Kategorie “In Real Life” (kurz: IRL) aber auch sehen, was Twitch für die Zielgruppe doch eigentlich überflüssig gemacht hatte: das echte Leben. Die Plattform befriedigt dort klassische Bewegtbild-Süchte von Arte bis RTL2 via Stream. Es gibt Bastelbrüder, Bob-Ross-Wiedergänger, Kochshows, musikalische Darbietungen für jede Schmerztoleranz. Trashige Talks finden sich ebenso wie Call-in-Shows oder mehr oder weniger zum Scheitern verurteilte Stunts und Rekordversuche.
Auch klassische Medienmarken sind auf Twitch vertreten. Die BBC zum Beispiel unterhält einen eigenen Kanal für ihre Gaming-Berichterstattung und hat alte “Doctor Who”-Folgen gezeigt – die Fans mögen das lagerfeurige Chat-Fenster unter dem Stream.
Als Geschäftsmodell ist die Plattform auf viele Arten interessant. Streamer können sich als Twitchfluencer zahlungswilligen Sponsoren anvertrauen, ab einer gewissen Bekanntheit von Twitch akquirierte Werbung anzeigen und ihre Fans für exklusive Abos zahlen lassen. Marken können Werbung schalten, Spiele-Publisher neue Ware direkt von reichweitenstarken Twitchfluencern spielen lassen. Auch Promis nutzen das Spiele-Streaming hin und wieder als eine Art Dschungelcamp für das junge Publikum: Rap-Best-Ager Bushido und sein Kollege Kollegah etwa ballern dort gerne hin und wieder gegen das Vergessenwerden und die Abschiebung ins Deutschrap-Altersheim an.
Tränende Traditionalisten seien trotzdem getröstet: Twitch wird traditionelle Hobbys nicht total verdrängen. Die Anglerliga “Fishing League Worldwide” zum Beispiel streamt bei Twitch zwar nicht den aufregenden Ansitz auf bemooste Barsche, aber immerhin das rituelle Wiegen des Fangs.
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