“Menschen hoffen auf Marken” – Ines Imdahl über die Psychologie des Marketings.
21. Juni 2023
Sinn-Kauf: Die meisten Marken werden weder geliebt noch gehasst, sondern sollen eine Lösung für Probleme des Alltags bieten, sagt Ines Imdahl von der Marktforschungsagentur Rheingold Salon. Die Psychologin erklärt im Interview für die turi2 edition #21, wie die Psyche Brands zerstückelt, wie dehnbar Versprechen sind und warum Unternehmen heute mehr Verantwortung haben denn je.
Idealerweise machen Marken Sinn für Menschen. Und zwar über den puren Produktnutzen hinaus. Sie liefern eine seelisch relevante Lösung für ein alltägliches Problem. Das ist mehr als reine Bedürfnisbefriedigung. Tierfutter zum Beispiel liefert nicht einfach die nötigen Kalorien für ein Haustier, sondern dient immer auch der Beziehungsgestaltung zwischen Mensch und Tier. Neben der Liebe, die ausgedrückt werden soll, wird auch die Art des Verhältnisses konkreter über das Futter definiert: Ist das Tier eher Partner- oder eher Kinderersatz? Oder doch „nur“ Familienmitglied und Spielgefährte? Marken liefern Ausgestaltungsangebote jenseits des reinen Sattwerdens. Das gilt natürlich auch für menschliche Nahrung. Technik- oder Digitalmarken gestalten die Kommunikationsformen: Auf Instagram gibt es andere Kommunikation als auf LinkedIn, sogar der Ton eines einzigen Menschen unterscheidet sich auf verschiedenen Plattformen.
Also gilt: Marken sind menschlich?
Eher: Marken bedienen Menschliches. Fast jede Marke hatte bei ihrer Gründung einen echten Sinn für das Menschliche. Erstaunlicherweise ist dieser aber bei vielen Marken verloren gegangen. Sie haben ihn vergessen beim Streben nach Umsatz und Gewinn. Und dann machen Marken für die Menschen, die sie nutzen sollen, keinen Sinn.
Was entscheidet darüber, welche Marken wir lieben und welche wir hassen?
Darf ich eine Gegenfrage stellen? Wieso glauben wir, dass es bei der Markenbindung um Liebe und Hass gehen muss? Klar, wir alle kennen die altbekannte Love-Brand-Diskussion, in der immer die gleichen Marken wie Apple, Nike, Starbucks, Disney oder Coca-Cola als leuchtende Beispiele zitiert werden. Aber Fakt ist: Die allermeisten Marken werden nicht aufgrund einer expliziten Liebe genutzt. Und die wenigsten Marken werden ausdrücklich gehasst. Das Ziel einer Marke sollte nicht unbedingt eine Liebesbindung sein.
Was dann?
Eine unique und brauchbare Lösungs-Bindung. Klingt paradox, soll aber heißen, dass aus psychologischer Sicht Marken genau dann attraktiv sind, je klarer sie eine seelische Lösung für unsere alltäglichen oder Lebensphasen-spezifischen Herausforderungen darstellen. Dadurch entsteht oft die stärkste Bindung. Eine Mineralwasser-Marke kann uns lebenslang begleiten, ohne dass jemals das Wort Liebe fällt. Weil sie einfach den Alltag flüssig halten kann und zum Beispiel verspricht, dies durch ausgewogene Mineralien zu tun.
Ines Imdahl
ist Diplom-Psychologin, Autorin und Speakerin. 2011 gründet sie die Marktforschungsagentur Rheingold Salon mit, die tiefenpsychologisch arbeitet
Wie groß ist der Einfluss von Werbung und Marketing dabei überhaupt?
Das hängt auch davon ab, was man als Werbung oder Marketing definiert. Aus psychologischer Sicht ist alles, was eine Marke hervorbringt, Werbung. Jeder Berührungsmoment gestaltet die Beziehung zur Marke und wird auf die Lösungstauglichkeit im Alltag überprüft: Behindert es mich eher? Oder hilft es und unterstützt es mich? Tut es das besser als die Wettbewerber?
Was passiert im Hirn, wenn wir einer Marke begegnen?
Der Großteil dessen, was sich bei Menschen im Umgang mit Marken abspielt, ist ihnen nicht bewusst. Unbewusst beeinflusst werden wir und unser Kaufverhalten durch alles, was wir irgendwann einmal über eine Marke gelernt haben. Unser Markenerleben ist immer mehr als die Summe der einzelnen Erlebnisse. Viele Unternehmen unterschätzen die Wirkung von konkreter Customer Experience. Diese hat enorm an Bedeutung gewonnen. Denn wir erfahren Marken immer seltener in einem kompletten Zusammenhang oder einer vollständigen Geschichte.
Sondern?
Wir erleben sie zerstückelt: ein kleines Stückchen am Point of Sale, ein weiteres auf Social Media, bei Online-Bestellungen, im Kontakt mit Bots oder mit Call-Centern. Aber anders als in den 70ern bis 90ern liegen diesen Erlebnissen keine zusammenhaltenden Markengeschichten mehr zugrunde. Damals sind wir mit den Marken quasi zur Schule gegangen. Vor dem TV erfuhren wir allabendlich eine Brand Education, wie wir sie im Rheingold Salon bezeichnen: Was kann die Marke, was ist ihr Auftritt? Welche konkrete Lösung bietet mir die Marke für mein Leben? Was ist mein persönlicher Mehrwert? Im Maggi-Kochstudio haben wir gelernt, dass man mit der Marke kochen kann, ohne kochen zu können. Diese Geschichten lieferten die Basis, um andere Marken-Touchpoints zu verstehen und einzuordnen.
Und heute?
Beim zerstückelten Markenerleben finden zwei alternative Extremszenarien im Kopf des Verbrauchers statt: Entweder er konstruiert einen eigenen Zusammenhang – denn wir ergänzen immer sinnhafte Geschichten. Das kann aber eine ganz andere Geschichte sein, als das Unternehmen sich vorgestellt hat, wenn man zum Beispiel nur eine negative Service-Erfahrung gemacht hat. Oder wir nehmen die Marke gar nicht wahr – was unter anderem erklärt, warum es neue Marken heute viel schwerer haben, sich zu etablieren. Marken können nur entscheiden, ob sie ihre Botschaft aktiv mitgestalten oder sie weitestgehend der Interpretation der Menschen überlassen. Sie können nicht nicht werben.
Wie dehnbar ist das Markenversprechen?
Eher weniger dehnbar, als man lange geglaubt hat. Geht es nur um Wachstum, kommen Unternehmen leicht in Versuchung, scheinbar angrenzende Felder auch mit abzugreifen. Schokolade kann dann doch auch Kekse, Küchlein oder andere Süßigkeiten und warum dann nicht auch Pudding oder Schoko-Jogurt? Hier stecken psychologisch nicht immer ganz richtige Ähnlichkeitsvermutungen hinter, die oft dazu führen, dass Marken ihr Gesicht verlieren. Wenn jeder alles anbietet, verschwimmt auch oft der Kern.
Also lieber nicht weiterentwickeln?
Wir brauchen ein anderes Verständnis von Markenentwicklung als den reinen Brandstretch. Marken müssen sich natürlich weiterentwickeln, denn der Zeitgeist erfordert Anpassungen. Kontinuierlich und immer wieder. Dabei sollten sie ihren Sinn und Zweck für die Menschen klar vor Augen haben. Ändert sich der Zeitgeist in Richtung Nachhaltigkeit, stellt sich die Frage für Fluggesellschaften in etwa so: Wie kann das Gefühl, das die Menschen durch das Fliegen erlangen, weitergeführt werden? Was bieten wir an Freiheitsgefühlen und erhebenden Gefühlen an? Statt ständig über Dehnung der Marke zu sprechen, würde ich lieber von der Notwendigkeit der ständigen Neuzentrierung sprechen. Mit Fokus auf den ursprünglichen Sinn oder Purpose, der dem Zeitgeist angepasst werden muss. Für diese Zentrierung ist psychologische Marktforschung eine gute Idee.
Welchen Mehrwert können Marken heute bieten – außer kurzfristigen Lustgewinn beim Kauf?
Kurzfristiger Lustgewinn war nie alleiniger Mehrwert der Marken. Ihre Orientierungsfunktion wird in Krisenzeiten nochmals relevanter, vor allem da diese Halt gibt. Seit Corona und den Folgekrisen wünschen sich Menschen starke und vor allem präsente Marken. Warum? Weil sie den Glauben verloren haben. Politik und die westlichen Religionen sind kaum noch Leitbilder. Insgeheim hoffen die Menschen auf die Unternehmen und Marken. Gerade in Krisenzeiten werbende Marken geben den Menschen Zuversicht und Stabilität. Wenn die Marken nicht werben, fühlen sich viele verunsichert und vergleichen sich: Wenn selbst die Unternehmen aufgeben, wie soll ich es denn schaffen? Unternehmen haben vielleicht aktuell mehr Verantwortung, als sie jemals hatten.
Nur beim Thema Werbung oder auch generell?
Natürlich haben Unternehmen auch an anderer Stelle große Verantwortung: Wie ernst meinen sie es mit Nachhaltigkeit, Diversität auf den Führungsebenen? Nutzen sie das nur als Marketing-Feigenblatt oder sind sie echte Vorbilder? Hier können sich gerade jetzt Marken sehr gut positionieren. Und wer meint, das sei ein alter Hut, der irrt: Von 2014 bis 2021 haben sich zwei Drittel der deutschen Unternehmen laut einer McKinsey-Studie in punkto Diversität auf den Führungsebenen nicht verbessert. Ein Drittel davon hat sich gar verschlechtert. Da außerdem die Werbeausgaben insgesamt deutlich gesunken sind, können aktuell auch Unternehmen mit weniger Werbebudget viel erreichen. Marketing in Krisenzeiten – eigentlich ein alter Hut – ist noch wichtiger als außerhalb. Leider handeln viele Unternehmen dennoch anders. Dabei ist jetzt die beste Zeit sich in die Herzen der Menschen – auch der jungen! – zu werben.
Welche Marken profitieren, wenn die Welt im Krisenmodus ist?
Seit Beginn der Coronakrise finden wir eine neue Form von Produkt-Nutzen. Menschen nutzen Produkte, um ihre Fassungslosigkeit, ihre Ängste und Sorgen zu bearbeiten. Quasi als Hilfe zur Selbsthilfe. Unsere tiefenpsychologischen Studien in den letzten drei Jahren zeigen, dass Menschen mit dem Puzzle neue Struktur und Rahmen in ihren zerlegten Alltag gebracht haben, dass sie es sich im Lockdown mit der Jogginghose – einem der wenigen Kleidungsstücke, das während Corona stärker verkauft wurde – gleichzeitig gemütlich gemacht haben und trotzdem gefühlt in Bewegung geblieben sind. Das E-Bike bot die Möglichkeit, trotz Stay-at-home-Geboten und Reiseverboten den eigenen Radius zu erweitern. Mit Netflix und dem Online-Weinshop haben die Menschen im zweiten Lockdown zur glücklichen Selbst-Sedierung gefunden – und um das Leben wieder in Entwicklung zu bringen, gab es den Corona-Hund. So hatte man sich im plötzlich eintönig gewordenen Alltag, in dem jeder Tag gleich schien, doch wieder Geschichten zu erzählen und konnte am Hund ersatzweise Leben erleben.
Nach Corona schüren Krieg und Klimakrise Ängste. Was ändert sich im Multikrisen-Modus?
Im Multikrisen-Modus fällt es den Menschen schwerer, sich weiterhin mit Produkten und Marken zu behelfen. Aber: Nach wie vor boomt alles, was zumindest scheinbar krisenfest für Krieg und Klima machen könnte – Nahrungsergänzungsmittel, Ingwer-Shots, Smartwatches, Gesundheits-Apps, kleine Sportartikel für zu Hause wie Hanteln et cetera. Außerdem wird sich weiterhin zu Hause eingerichtet, da die Welt den Menschen Angst macht: Homeoffice-Artikel für den Schreibtisch, Balkon- und Garteneinrichtungen, Deko im Wohnbereich. Und beim Verreisen geht der Trend nicht nur wieder richtig nach oben, sondern hier nimmt man am liebsten gleich das Eigenheim zur Sicherheit mit – nie war die Nachfrage nach gekauften oder gemieteten Campern und Wohnmobilen so groß wie jetzt.
(Foto: Roland Breitschuh)
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