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“Hersteller können fast alles auf ihre Produkte drucken” – Christiane Seidel über Werbelügen und Marken-Vertrauen.

21. Juli 2023

Zu gut, um wahr zu sein: Versprechen wie „klimaneutral” oder „recycelbare Verpackung“ verkaufen sich bestens – sind aber leider “unzureichend” reguliert, kritisiert Christiane Seidel vom Verbraucherzentrale Bundesverband im Interview für die turi2 edition #21. Dabei schadeten Werbelügen Gesundheit, Umwelt – und der Marke selbst.

Von Anne-Nikolin Hagemann

Was kritisieren Sie am Werbeverhalten von Marken?
 
Die dauerhafte Präsenz von Marken – egal ob im Supermarkt, der TV-Werbung und auf Plakatwerbung – schafft Konsumbedürfnisse und -präferenzen. Viele kennen sicherlich das freundliche Jungengesicht auf der Kinder Schokolade oder die Frau, die am Strand genüsslich in ein Raffaello beißt. Werbung löst in uns nicht nur Emotionen aus, sondern bestimmt auch, was und wie wir konsumieren möchten. Klar ist: Werbung wirkt! Allein Ferrero hat im vergangenen Jahr Werbespots im Wert von 655 Millionen Euro im Deutschen Fernsehen ausgestrahlt.

Dass Werbung wirkt, ist für die Branche eine gute Nachricht. Welche Folgen befürchten Sie?
 
Wissenschaftliche Untersuchungen zeigen, dass sich Lebensmittelmarketing für besonders Süßes, Salziges oder Fettiges, das sich speziell an Kinder richtet, nachhaltig auf deren Ernährungsverhalten und Gesundheit auswirkt. Die Folgen sind unter anderem eine erhöhte Nahrungsaufnahme und ein gesteigertes Risiko für die Entwicklung von Übergewicht und anderen ernährungsmitbedingten Erkrankungen. Das heißt: Werbung prägt und verstärkt Vorlieben für ungesunde Lebensmittel und kann krankmachen. Auch wenn es um Nachhaltigkeit geht, spielt Werbung eine wichtige Rolle.

Inwiefern?
 
Beim Einkaufen werden Verbraucher:innen immer häufiger mit umweltbezogenen Versprechen konfrontiert: „recycelbare Verpackung“, „bienenfreundlich produziert“, „klimaneutral hergestellt“ oder „aus verantwortungsvollen Quellen“ sind nur einige der unzähligen Aussagen. Sie schmücken eine wachsende Anzahl von Lebensmitteln, Elektrogeräten, Textilprodukten, aber auch Dienstleistungen. Das stellt Verbraucher:innen jedoch vor ein Problem: Möchten sie nachhaltig konsumieren, sind sie auf Informationen angewiesen, die ihnen von den Unternehmen zur Verfügung gestellt werden. Wenn aber unklar ist, wie verlässlich die Informationen sind, können sie keine echte Orientierung bieten. Bisher können Hersteller fast alles auf ihre Produkte drucken. Solche Versprechen sind nur unzureichend reguliert. Eine Konsumlandschaft, in der nahezu alle Produkte mit Umwelteigenschaften beworben werden, macht es Verbraucher:innen unmöglich, wirklich nachhaltige von nicht nachhaltigen Produkten zu unterscheiden. Das schadet auch der Umwelt: Schädliche Konsummuster können sich nicht ändern, sondern setzen sich fort.

Sind Werbelügen heute nicht insgesamt seltener als früher?
 
Nachhaltigkeit liegt im Trend. Daher beobachten wir auch eine Zunahme der Werbung mit umweltbezogenen Werbeaussagen. Von CO2-kompensiert bis klimapositiv: Produkte und Dienstleistungen werden immer wieder als besonders umwelt- oder klimafreundlich beworben. Oft werden Produkt- oder Unternehmenseigenschaften dabei positiver dargestellt, als sie es sind.

Gibt es da ein Beispiel?
 
Teilweise sind Werbeaussagen schlichtweg falsch – wenn etwa Bambusbecher als „biologisch abbaubar“ beworben werden, obwohl das gar nicht zutrifft. Eine subtilere Form von Greenwashing ist, einen einzelnen positiven Aspekt eines eigentlich schädlichen Produkts herauszustellen, um so das ganze Produkt umweltfreundlicher erscheinen zu lassen. Beispielsweise, wenn Fisch aus Aquakulturen als umweltfreundlich gelabelt wird, weil er eine Überfischung der Meere verhindert – und dabei unter den Tisch fällt, dass für Aquakulturen oftmals Mangrovenwälder zerstört werden und der Fisch damit auf eine andere Art umweltschädlich ist.

Christiane Seidel
ist Leiterin Team Lebensmittel beim Verbraucherzentrale Bundesverband, dem Dachverband der 16 deutschen Verbraucherzentralen

Wer trägt da die Verantwortung – nur die Marken oder auch die Politik und die Verbraucher selbst?
 
Die Verantwortung für eine gesunde Ernährung und einen umweltfreundlicheren Konsum allein auf die Verbraucher:innen zu schieben und die dringend notwendigen politischen Instrumente außer Acht zu lassen, würde das Ziel einer nachhaltigen und sozial gerechten Verbraucherpolitik verfehlen. Wir sollten unser Konsumumfeld so gestalten, dass die gesündere und nachhaltige Wahl die leichtere Wahl wird. Dafür braucht es einen politischen Rahmen.

Verändert Social Media die Wirkung von Markenversprechen und Werbebotschaften?
 
Mit besonderer Sorge beobachten wir, dass immer mehr Lebensmittel und Getränke über soziale Medien an Kinder und Jugendliche vermarktet werden. Dabei spielen auch bezahlte Influencer:innen eine immer größere Rolle. Hier ist die Grenze zwischen bezahlter Werbung und unabhängiger Information für Kinder und Jugendliche schwer auszumachen. Häufig identifizieren sich Kinder mit den Influencer:innen. Das erschwert eine differenzierte Betrachtung der Werbeinhalte.

Wie sehr ärgert es Marken eigentlich, wenn sie von der Verbraucherzentrale kritisiert werden?
 
Das lässt sich nicht pauschal beantworten. Gerade im Lebensmittelbereich und hier vor allem bei den Nahrungsergänzungsmitteln kommt es durchaus häufig vor, dass Unternehmen sich bei uns beschweren, wenn wir unzulässige Werbeaussagen öffentlich kritisieren. Das betrifft jedoch vor allem Unternehmen, die wissentlich mit solchen Aussagen arbeiten.

Wie können Marken verlorenes Vertrauen wiedererlangen? 
 
Marken sollten ihre Produkte transparent und auf Basis überprüfbarer Fakten bewerben. Werbeaussagen sollten so getroffen werden, dass sie für Verbraucher:innen verständlich sind und nicht in die Irre führen. Die Werbung mit Klimaneutralität zum Beispiel erweckt den Eindruck, dass die Unternehmen einen Zustand erreicht haben, den einzelne Produkte oder Unternehmen gar nicht erreichen können: eine Herstellung ohne klimaschädliche Auswirkung. Den meisten Verbraucher:innen ist oft nicht bewusst, was solche Werbeaussagen bedeuten. Marken sollten das Vertrauen der Verbraucher:innen gar nicht erst verspielen und ehrlich kommunizieren.

(Foto: Verbraucherzentrale Bundesverband)

 
Alle Geschichten der turi2 edition #21 – direkt hier im Browser als E-Paper:

 

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