“Wir sehen zu viel, zu schnell, zu unmittelbar und zu direkt” – Bernhard Pörksen über Vernetzung, die verstört.
18. Oktober 2023
Die Balance macht’s:Bernhard Pörksen glaubt nicht an Digital Detox. Der Medienwissenschaftler träumt von einer redaktionellen, medienmächtigen Gesellschaft. Im Interview für die turi2 edition #22 spricht Pörksen neben allen Gefahren auch über die Vorzüge des Lebens am Bildschirm und erklärt, warum die neue Medienwelt und das menschliche Gehirn kein Perfect Match sind.
Wie hoch ist Ihre tägliche Screentime?
Ich prüfe das lieber gar nicht erst. Und muss anerkennen: Selbst wenn man die Mechanismen der Dauerablenkung kennt und die Formen des Brainhackings analysiert, so wirken sie trotzdem. Und erzeugen einen Stress eigener Art. Auf der anderen Seite des Bildschirms im Silicon Valley, wo ich derzeit forsche, sitzen jede Menge extrem smarter Leute, die genau wissen, wie sie Aufmerksamkeitsströme zum Nutzen der eigenen Plattform lenken.
Bernhard Pörksen ist Professor für Medienwissenschaft an der Uni Tübingen. Er erforscht die Macht der öffentlichen Empörung und die Zukunft der Reputation und veröffentlicht – neben wissenschaftlichen Aufsätzen – Essays und Kommentare in diversen Medien.
In Ihrem Buch „Die große Gereiztheit“ schreiben Sie über die kollektive Erregung durch 24/7 am Bildschirm. Woran machen Sie das fest?
Meine These lautet: Vernetzung verstört. Wir sehen zu viel, zu schnell, zu unmittelbar und zu direkt. Und dies alles auf einem einzigen Kommunikationskanal. Information und Emotion fließen unter den aktuellen Medienbedingungen ineinander, das gerade noch weit Entfernte kommt uns ganz nah. Es ist dieser Kollaps der Kontexte, der – neben den Extremereignissen, dem Geschehen selbst – eine mediale Tiefenursache der großen Gereiztheit darstellt.
Was heißt das?
Es bedeutet, dass die feuilletonistische These von der Isolation ganzer Milieus in algorithmisch produzierten Filterblasen nicht länger haltbar ist. Wir können uns zwar in unsere Selbstbestätigungsmilieus zurückziehen, aber den Perspektiven anderer unter vernetzten Bedingungen nicht ausweichen. Die Konsequenz: Es regiert der Filterclash, das permanente Aufeinanderprallen von Parallelöffentlichkeiten; eben dies macht gereizt. Es fehlen Abkühlungs- und Ausweichmöglichkeiten, Formen der Distanznahme.
Auf Nachrichten verzichten ist doch aber auch keine Option.
Nein, absolut nicht, auch wenn wir anerkennen müssen: Nachrichtenmüdigkeit und Informationserschöpfung nehmen zu. Und gleichzeitig steigt die Notwendigkeit, als Gesellschaft im Angesicht all der Krisen und Katastrophen ein Denken in der langen Linie zu trainieren, um präventiv und programmatisch zu handeln. Dazu braucht es den kollektiven Fokus, die Konzentration auf das gemeinsame Thema und den Diskurs in der Breite, nicht die fragmentierte Aufmerksamkeit.
Waren wir medial 1975 besser dran, als noch keiner am Smartphone klebte und es im TV nur drei Programme gab?
Nein. Es gab hier ein anderes Fundamentalproblem: Informationsknappheit aufgrund der spärlich vorhandenen Medienkanäle – ohne Partizipationsmöglichkeiten des Publikums. Heute lautet das Fundamentalproblem: Aufmerksamkeitsknappheit aufgrund der totalen Medienvielfalt und der Beteiligung aller, die man früher das Publikum genannt hätte.
Ist das beste Bildschirm-Antidot Digital Detox?
Das denke ich nicht, nein. Und argumentiere hier im Kern politisch und als jemand, für den die engagierte Zeitgenossenschaft ein echter Wert ist. Natürlich, es gibt längst ganz unterschiedliche Formen des Digital-Detox-Spießertums. Sie lassen sich romantisch oder religiös begründen, aber auch bloß effizienz- und optimierungsversessen. Mein Votum: Es braucht einen Balanceakt eigener Art – zwischen selbstfürsorglicher Informationsdosierung und kraftvoller Weltzuwendung. Und diesen Balanceakt gilt es immer wieder neu und unvermeidlich individuell auszutarieren.
Screens filtern die Realität – Unschönes lässt sich wegwischen. Wie kann man gegensteuern?
Der Netzphilosoph Kevin Kelly hat einmal sehr schön gesagt: Wir waren einst Menschen des Wortes, wir wurden Menschen des Buches und werden nun Menschen des Bildschirms. Das heißt: das Leitmedium des Weltkontakts wird das Smartphone-Display. Die Folge ist eine totale Dominanz visueller Effekte, die Selbstbildstörungen eigener Art produziert. Ein Beispiel: Die Zunahme von Nasen-Schönheits-OPs, weil Menschen die eigene Nase im endlosen Strom der Selfies zu groß und zu dick erscheint. Was kann man tun, um die unterschiedlichsten Negativ-Effekte einer laufenden Medienrevolution einzuhegen? Ich bin nicht grundsätzlich pessimistisch, denke aber, dass in der aktuellen Entwicklung ein großer, gesellschaftlich noch unverstandener Bildungsauftrag steckt.
Brauchen wir einen Bildschirm-Führerschein?
Das wäre für mich noch zu klein gedacht, weil man ja einmal eine Prüfung absolviert, aber dann bis ans Ende seines Lebens klarkommt, das Zertifikat im Portemonnaie. Genau das trifft jedoch nicht zu, weil sich die technischen Innovationen förmlich überschlagen. Nur eine einzige Zahl: Rund 75 Jahre benötigte das Telefon, um auf 100 Millionen Nutzerinnen und Nutzer zu kommen. Instagram brauchte für 100 Millionen nur gut zwei Jahre. Die Symbole, mit denen wir uns austauschen, ändern sich. Die Inhalte werden andere. Und es entstehen neuartige Formen der Gemeinschaftsbildung. Das Grundprinzip: Die neue Medienwelt stößt mit Macht auf den Menschen – mit seinem evolutionsgeschichtlich so alten Gehirn, seinen Traditionen, seinen Gewohnheiten, seiner Verführbarkeit.
Was also tun?
Meine Bildungsvision ist die Idee einer redaktionellen Gesellschaft. Ich sage: In den Maximen und Prinzipien des guten Journalismus – prüfe erst, publiziere später; analysiere deine Quellen; höre auch die andere Seite; orientiere dich an Relevanz und Proportionalität – steckt eine Ethik für unsere Gegenwart, in der jeder zum Sender geworden ist, medienmächtig, aber nicht medienmündig. Diese Prinzipien sollten heute in der Schule gelehrt werden. Um nicht missverstanden zu werden: Das bedeutet nicht, dass jeder Journalistin sein oder als Journalist arbeiten sollte, aber die Grundfragen des redaktionellen Bewusstseins sollten zu einem Element der Allgemeinbildung werden. Sie lauten: Was ist glaubwürdige, relevante, überhaupt veröffentlichungsreife Information?
Können Sie der Bildschirmzeit auch etwas Positives abgewinnen?
Unbedingt ja. Nehmen wir nur YouTube. Natürlich gibt es hier Desinformation, Hassvideos in Serie, Anreize in Richtung Ideologie und Radikalisierung. All dies ist bestenfalls Zeitverschwendung und im Extremfall politisch hoch gefährlich. Aber YouTube hat auch den Charakter einer gigantischen Lernplattform, die Weltwissen auf leichte, gut aufbereitete Weise zugänglich macht. Und doch: Man muss wissen, was man sucht, um zu finden, was tatsächlich wertvoll ist.
Foto: Albrecht Fuchs
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