artcount
  • News
  • Köpfe
  • Jobs
  • Digitalisierung & KI
  • Termine
  • edition
  • podcast
  • suchen auf turi2
  • FAQ
  • Media
  • Team
  • Newsletter
  • Köpfe
  • Firmen
  • Jobs
  • Termine
  • Wissen
  • Edition
  • Clubraum
  • podcast
  • turi2.tv
  • turi2 folgen
  • Partner
  • RSS-Feed
  • Datenschutz
  • Impressum

“Ich wäre ein schlechter Schauspieler.” – Investigativ-Reporter Günter Wallraff im epd-Interview.

1. Oktober 2022

Ganz oben: Er arbeitete als türkischer Leiharbeiter Ali in Jobs, die keiner in Deutschland machen wollte und deckte auf, wie die “Bild” Nachrichten verfälschte. Günter Wallraff, der am 1. Oktober 80 wird, hat mit seinen Undercover-Recherchen die deutsche Gesellschaft durchleuchtet wie kein Zweiter. Auch turi2 graturiliert der Investigativ-Legende in einem kleinen Text. Im Gespräch mit Diemut Roether von epd Medien erzählt Wallraff von den Prozessen, die er durchfochten hat, um seine Publikationen zu veröffentlichen, seinen Vorbildern und warum er sich nicht als klassischen Journalisten begreift. turi2 veröffentlicht das Interview in der wöchentlichen Reihe Das Beste von epd Medien bei turi2.

Von Diemut Roether / epd Medien

epd: Sie sind mit Ihrer Arbeit Vorbild für mehrere Journalistengenerationen. Viele sind Ihretwegen und wegen ihrer Bücher Journalist geworden. Hatten Sie auch ein Vorbild, als Sie angefangen haben, als Journalist zu arbeiten?

Günter Wallraff: Ich bin kein Journalist im klassischen Sinne. Damals gab es an den Journalistenschulen welche, die ihre Orientierungen aus der NS-Zeit hatten und auch in diesem Geist unterrichteten. Aber ich habe eigentlich der Bundeswehr zu verdanken, dass ich das mache, was ich mache. Ich war als Kriegsdienstverweigerer in der Armee, wo damals alte Nazis noch das Sagen hatten. Da wurden Nazilieder gegrölt, es gab judenfeindliche Sprüche und Holocaust-Verharmlosung. Das habe ich zehn Monate durchgehalten.

Als Sie entlassen wurden, hieß es, sie seien “verwendungsunfähig auf Dauer für Krieg und Frieden”. Damals waren Sie gerade 21 Jahre alt. Ist das nicht ein Urteil, an dem ein junger Mensch schwer zu tragen hat?

Heute sehe ich das als Ehrentitel. Ich hatte damals schon die Lehre als Buchhändler abgeschlossen. Dass ich dann meinen Beruf nicht weiter ausgeübt habe, hing mit dieser “Auszeichnung” zusammen: “Abnorme Persönlichkeit, für Krieg und Frieden untauglich.” Die Vorgeschichte war: Die Vorgesetzten hatten herausbekommen, dass die Zeitschrift “Twen” Berichte von mir über die Bundeswehr drucken wollte.

“Twen” war damals, in den 60er Jahren, eine sehr erfolgreiche Zeitschrift.

Ich wurde damals zum Kompaniechef zitiert und gedrängt, ich sollte unterschreiben, “Veröffentlichungen gegen die Bundeswehr zu unterlassen”. Ich habe gesagt: Nein, dafür habe ich hier schon zu viel erlebt, lasst mich doch als Kompanieschreiber weiter gewähren. Doch sie merkten schnell, dass ich unbelehrbar war. Um mich unglaubwürdig zu machen, wurde ich in die geschlossene Abteilung der Psychiatrie des Bundeswehrlazaretts Koblenz eingewiesen und später mit dem Etikett, oder besser mit diesem Ehrentitel nach zehn Monaten wieder in die Freiheit entlassen. Das war schon eine Irritation. Danach bin ich erst mal ein halbes Jahr durch Skandinavien getrampt und habe in Obdachlosenheimen gelebt. Das war auch eine romantisierende Reise auf den Spuren von Literatur wie Jack London, B. Traven oder Jack Kerouac… Das, was ich damals geschrieben habe, habe ich allerdings nie veröffentlicht.

Wie kam es dann dazu, dass Sie anfingen, für Reportagen undercover zu arbeiten und in die Rollen anderer zu schlüpfen?

Mit den Rollen ist etwas Spielerisches verbunden. Ich kann mich auch dumm stellen. Um sich aber dumm stellen zu können, dürfen Sie nicht ganz blöd sein. In meinen Rollen reiße ich scheinbar Mächtigen die Maske runter. Das provoziert Reaktionen. Diese Rollen anzunehmen, ist oft auch eine Art Identitätssuche. Ich fühle mich Menschen zugehörig, die nicht dazugehören.

Ich stelle mir das schwer vor, nicht aus der Rolle zu fallen, wenn Sie undercover recherchieren. Sie müssen dann sehr konzentriert sein.

In der Rolle bin ich meist authentischer, als wenn ich zum Beispiel bei einer Podiumsveranstaltung oder in einer Talkshow sitze und kluge Sachen absondern muss.

Haben Sie als Schüler Theater gespielt?
 
Nein. Ich glaube, ich wäre überhaupt ein schlechter Schauspieler, ich würde immer wieder aus der Rolle fallen. Ich war als Kind mal mit der Katholischen Jugend in Mölln, das ist die Stadt, wo Till Eugenspiegel lebte und begraben ist. Dort mussten wir im Sinne von Till Eugenspiegel Fragen beantworten, und da war ich wohl am authentischsten und wurde als “Ober-Till-Eugenspiegel der Jugend zu Köln” ausgezeichnet. In meinen späteren Rollen hat mir immer wieder mal Schwejk über die Schulter geschaut.

Sind Sie katholisch erzogen worden?

Nein, eigentlich evangelisch. Meine Mutter war Protestantin, hugenottischer Abstammung, keine Kirchgängerin, aber sie lebte nach den christlichen Werten im positiven Sinne. Mein Vater war Taufscheinkatholik, hatte aber mit der Kirche nichts am Hut. Mit Anfang 20 hatte ich mal vor, in ein Kloster einzutreten, eine Art Weltflucht. Da ich aber nicht gläubig war, war das nicht mein Weg. Obwohl in meinem Wertesystem die Bergpredigt heute noch ein Anker ist. Dann habe ich mich in Richtung der Trappisten orientiert, die haben mir imponiert. Die schliefen damals noch in ihren eigenen Särgen und haben dem Tod die Stirn geboten. Damals schrieb ich in mein Tagebuch: “Leben, als ob es der letzte Tag sei und trotzdem nicht anders leben.”

War die Katholische Soziallehre für Sie wichtig?

Inspiriert hat mich das Buch “Junge Pfarrer berichten aus der Fabrik” von Horst Symanowski und Fritz Vilmar. Die französischen Arbeiterpriester, die aber aus der katholischen Kirche ausgeschlossen wurden, haben mir ebenfalls imponiert. Für mich war ein Erlebnis als Kind prägend: Als ich fünf oder sechs Jahre alt war, war mein Vater dem Tode nah und meine Mutter brachte mich unter Tränen in ein Kinderheim, weil sie nun arbeiten gehen musste. Man nahm mir meine Kleidung ab und steckte mich in Anstaltskleider; es fühlte sich an, als würde mir meine Identität genommen. Mein Vater wurde entgegen aller Prognosen wieder gesund. Die Nonnen in der Klinik hatten ihm aber so lange zugesetzt, bis er – infolge einer Sepsis halb im Delirium – einverstanden war, mich zum zweiten Mal taufen zu lassen, diesmal katholisch, und selbst die Ehe wurde von einem Priester katholisch neu geschlossen. Mein Vater wurde wieder gesund. Die Nonnen sprachen von einem Wunder. Das Wunder bestand darin, dass mein Vater mit Penizillin behandelt wurde. Seitdem war ich katholisch.

Was haben Sie heute für ein Verhältnis zum Glauben?

Als bekennender Agnostiker muss ich aufpassen, nicht am Ende noch zu einem gläubigen Menschen zu werden. Doch davor bewahre mich Gott! Ich habe immer wieder Erlebnisse, bei denen ich mich frage: Kann das wirklich Zufall sein? Wäre ich gläubig, machte jenseits von Himmel und Hölle noch am ehesten die Reinkarnationslehre Sinn.

Glauben Sie an Schicksal?

Ich wehre mich dagegen.

Wann haben Sie angefangen, sich in Ihren Reportagen mit der Arbeitswelt zu beschäftigen und mit den Ausbeutungsverhältnissen in der sozialen Marktwirtschaft?

Das hing vielleicht mit meinem Vater zusammen, der lange Jahre Ford-Arbeiter war. Er arbeitete am Anfang in der sogenannten Lackhölle, da hat er sich gesundheitliche Schäden zugezogen. Es war vielleicht kein Zufall, dass meine erste Reportage am Fließband bei Ford war. Und ich musste auch Geld verdienen. Ich hatte Glück, bei der IG Metall gab es einen Chefredakteur der Zeitschrift “Metall”, Jakob Moneta, der meine Reportagen veröffentlicht hat.

Die Reportagen, die Sie gemacht haben, stießen auf sehr viel Resonanz. Sie haben in sehr vielen Unternehmen gearbeitet, bei Thyssen, bei McDonald’s. Oft haben die Unternehmen später versucht, die Veröffentlichung Ihrer Artikel zu verhindern. Und Sie haben für Journalisten viele wichtige Urteile erstritten.

Das war oft genau so viel Arbeit wie die Reportagen. Eine Klage wurde über Gerling initiiert, es war damals Kurt Ziesel, Strauß-Intimus und Alt-Nazi, der auf Anregung Gerlings Anzeige gegen mich erstattete wegen “Ausweispapier-Missbrauchs”. In erster Instanz wurde ich verurteilt. Das hätte das Ende meiner Arbeit bedeutet. In zweiter Instanz habe ich einen Freispruch zweiter Klasse erreicht. In dem Urteil hieß es, ich hätte “im blinden Drange irrend” gehandelt. Inzwischen gibt es ja das Grundsatzurteil…

… vom Bundesgerichtshof in Karlsruhe, 1981, da ging es um Ihre Recherchen als Hans Esser bei “Bild”, die Sie in dem Buch “Der Aufmacher” öffentlich gemacht haben.

In der Urteilsbegründung heißt es unter anderem, dass die Öffentlichkeit ein schutzwürdiges Interesse an der Aufdeckung von “Fehlentwicklungen des Journalismus” habe. Damit war “Bild” gemeint. Daher müsse meine Methode rechtmäßig sein.

Der Prozess in Sachen “Bild” ging bis zum Bundesverfassungsgericht, das 1984 entschied, dass auch die Veröffentlichung rechtswidrig beschaffter oder erlangter Informationen vom Schutz der Meinungsfreiheit umfasst ist, wenn diese für die Unterrichtung der Öffentlichkeit wichtig sind. Das war für Journalisten ein sehr wichtiges Urteil, weil es ihnen ermöglicht, auch verdeckt zu recherchieren.

Bei den Recherchen, die wir mit “Team Wallraff” bei RTL veröffentlichen, erlebe ich neuerdings, dass Konzerne keine Prozesse mehr führen, sondern es aussitzen oder sich sogar der Kritik stellen.

Sie sagen, Sie seien kein Journalist im klassischen Sinne. Wie würden Sie sich selbst bezeichnen?

Das ist eine Mischung. Es geht auch um Identitätssuche. Ich bin in meinen Rollen mit Menschen zusammen, die unter unwürdigen Zuständen leiden. Da werde ich einer von ihnen. Man sagt ja, der Journalist muss Distanz halten. Es gibt dieses Zitat von Hanns Joachim Friedrichs…

“Einen guten Journalisten erkennt man daran, dass er sich nicht gemein macht mit einer Sache – auch nicht mit einer guten …”

Das ist das meistmissbrauchte Zitat im Journalismus. Er hat das so nicht gemeint. Er hat mir einige Male beigestanden. Es gab auch Aktionen, wo ich sagen würde, da war ich nicht Journalist, es war eine Menschenrechtsinitiative. Als ich mich in Griechenland in die Rolle des politischen Gefangenen begab…

Als Sie sich in den Jahren der Militärdiktatur in Griechenland in den 70er Jahren auf dem Syntagma-Platz anketteten, wurden Sie verhaftet und gefoltert.

Vorsorglich hatte ich ein Testament verfasst, denn ich musste mit allem rechnen. Wenn Sie das über längere Zeit machen, dann träumen Sie sogar in der neuen Identität. Das heißt, Sie werden ein anderer. Anders war die Rolle bei “Bild”. Das war die schlimmste Schmutzrolle, der ich mich jemals ausgesetzt habe.

Sie haben einmal gesagt, das war die Rolle, die Sie psychisch am meisten beschädigt hat. Warum?

Sie mussten ständig liefern. Sie mussten Geschichten aufbauschen oder erfinden. Ich habe mich bestimmten Sachen verweigert oder habe sie unterlaufen. Wenn Kinder Opfer eines Sexualmordes wurden und die Eltern nicht bereit waren, einem Reporter der “Bild” ein Foto ihres Kindes herauszugeben, dann hörten die Eltern den Standardsatz: “Wenn Sie uns das Foto nicht freiwillig geben, wir haben auch Fotos aus dem Leichenschauhaus, und das sieht dann gar nicht so gut aus.” Ich habe in solchen Fällen den Eltern geraten, kein Foto herauszugeben und mich bitte nicht zu verraten.

Damals ist auch ein Film entstanden über “Bild” in Zusammenarbeit mit dem WDR, dieser Film durfte jahrelang nicht gezeigt werden in Deutschland.

Der Film lag bei der ARD Jahrzehnte im Giftschrank. Dass er überhaupt entstand, war dem damaligen WDR-Programmdirektor Werner Höfer zu verdanken. Der hat das auf seine Kappe genommen, der Film entstand unter dem Tarntitel “Informationen aus dem Hinterland”.

Wie sehen Sie “Bild” heute?

Ich lese die Zeitung nicht. Ich habe immer noch einen Rechtshilfefonds, den Opfer der “Bild”-Berichterstattung in Anspruch nehmen können.

Wird dieser Fonds noch in Anspruch genommen?

Ganz selten. “Bild” hat heute nicht mehr die Bedeutung, die es damals hatte, auch die Auflage ist von fünf Millionen auf etwa eine Million zurückgegangen. Zu meiner Zeit durfte man die Zeitung “Zentralorgan des Rufmords” nennen.

Aber “Bild” ist nach wie vor sehr einflussreich und setzt für viele Redaktionen die Agenda.

Sie versuchen immer wieder, Feindbilder zu schaffen, und nehmen Einzelne ins Visier. Karl Lauterbach zum Beispiel.

Sie sagen, Ihre Arbeit ist mehr als Journalismus. Sie möchten etwas verändern und Sie wollen auch nicht unbedingt Distanz zu den Betroffenen halten. Derzeit wird viel darüber diskutiert, ob Journalisten auch Aktivisten sein dürfen. Wie würden Sie diese Frage beantworten?

Ich mache zum einen Journalismus im klassischen Sinn, auch Reportagen im klassischen Sinn. Ich muss das, was ich schreibe, selbstverständlich vor Gericht beweiskräftig belegen können. Auf der anderen Seite sind es Menschenrechtsinitiativen. Böll hat mal gesagt, “das Recht ist aufseiten der Opfer”. Ich kann und will nicht verleugnen, dass meine Zugehörigkeit aufseiten von Unterdrückten und Ausgebeuteten ist.

Sie haben jahrzehntelang allein recherchiert. Jetzt machen Sie schon seit einigen Jahren für RTL “Team Wallraff”. Wie ist es für Sie, im Team zu arbeiten?

Es gibt bestimmte Rollen, die mir altersbedingt nicht mehr vergönnt sind. Lange konnte ich mich jünger machen, aber irgendwann ist eine Grenze erreicht. Ich bin damals auf RTL zugegangen, weil ich beim Öffentlich-Rechtlichen die Jüngeren nicht mehr erreiche. Es gibt Jüngere in meinem “Team Wallraff”, bei denen ich sehe, wie ernst sie das angehen und die sich solchen Recherchen auch längerfristig aussetzen.

Wenn Sie immer wieder die Identität wechseln, auch undercover recherchieren, müssen Sie Ihr Privatleben opfern.

In letzter Konsequenz hätte ich zölibatär leben müssen. Aber diejenigen, die das Gelübde ablegen, schaffen es bekanntlich oft auch nicht.

Haben Sie das Gefühl, dass Sie mit “Team Wallraff” eine Art Journalistenschule begründet haben?

Das könnte sich dahin entwickeln, müsste aber noch unter Beweis gestellt werden. Es ist allgemein ein Problem, in der Politik und auch im Journalismus, dass die meisten, schätzungsweise 80 oder 90 Prozent, aus bessergestellten Familien kommen. Vielleicht wäre so ein soziales Jahr für manche gar nicht schlecht, um Einblicke in andere, prekäre Arbeitsbedingungen und Lebenswelten zu erhalten.

Gibt es Journalisten, die Sie als Ihre Nachfolger bezeichnen würden?

In Italien zum Beispiel Fabrizio Gatti, in Mexiko Lydia Cacho, in Ghana Anas Aremeyaw Anas. Sie haben sich auch durch persönliche Begegnungen von mir inspirieren lassen und mich zum Vorbild genommen. So sind sie auch für mich inzwischen zu Vorbildern geworden. Gatti hat das Buch “Bilal” geschrieben, für das er Flüchtlinge in Afrika begleitet hat. Oder Florence Aubenas in Frankreich, die sagte, ohne den Erfolg von “Ganz unten” wäre sie nicht auf die Idee gekommen, in prekären Arbeitssituationen undercover zu recherchieren. Ihr Buch “Wie im echten Leben” ist gerade verfilmt worden.

Sie sind 2008 in die Rolle eines Somaliers geschlüpft, der in Deutschland eine Wohnung sucht. Sie hatten sich die Haut schwarz gefärbt. Da wurde Ihnen vorgeworfen, Sie hätten Blackfacing betrieben und sich Erfahrungen angeeignet.

Das geht heute sehr schnell. Die Kritik daran war sehr vordergründig. Ein Hauptargument war, dass so kein richtiger Schwarzer aussieht. Aber wie hat denn ein echter Schwarzer auszusehen? Oder wie hat ein echter Weißer auszusehen? Ich habe ein paar Tage in einem Asylbewerberheim in München gelebt, da sagte mein Zimmernachbar aus Somalia: Du siehst aus wie mein Onkel. Mich hat damals ein Freund beraten, Mouctar Bah, das war der beste Freund von Oury Jalloh, der in einer Polizeizelle in Dessau verbrannt wurde. Ich hatte am Anfang vor, einen Bootsflüchtling zu begleiten, der auf die Kanaren flieht. Ich hatte schon einer Organisation Geld gegeben, um das vorzubereiten, aber das scheiterte. Der Film über meine Erfahrungen als Schwarzer in Deutschland lief damals bei Arte. Ich habe mehr als 100 Zuschriften von hier lebenden Schwarzen bekommen, die das ähnlich oder schlimmer erlebten und sich darin wiedererkannt haben: Endlich macht das mal jemand! Uns glaubt man ja nicht. Es ist natürlich längst überfällig und sehr wichtig, wenn Menschen selber über ihr Schicksal schreiben, wie zum Beispiel Aminata Touré…

… die inzwischen in Schleswig-Holstein Sozialministerin ist. Wenn Sie zurückblicken auf die 60er Jahre, als Sie angefangen haben, und sich den Journalismus heute anschauen: Wie hat sich der Journalismus verändert?

Es gibt Jüngere, die nach meiner Methode recherchieren möchten, aber keine Möglichkeiten haben, das umzusetzen. Darum habe ich eine Stiftung gegründet, die Menschen unterstützt, die sich ein Thema vornehmen und bereit sind, sich dem längerfristig auszusetzen. Daraus ist zum Beispiel ein Buch entstanden: “Die Lastenträger”.

Sie sagen, es gibt die kritischen Journalisten, aber sie können nicht veröffentlichen – heißt das, dass die Medien nicht mehr so kritisch sind wie früher?

Das will ich nicht sagen. Es gibt Möglichkeiten, auch in sogenannten bürgerlichen Zeitungen, aber die Ressourcen sind nicht da oder werden nicht bewilligt, um jemanden für einige Wochen oder längerfristig freizustellen.

Und was ist mit den öffentlich-rechtlichen Medien? Die hätten doch das Geld dafür.

Ich musste meine Arbeit im öffentlich-rechtlichen Fernsehen sehr häufig den juristischen Bedenkenträgern unterordnen. Der Film “Ganz unten” zum Beispiel war an einem 1. Mai im Programm der ARD angekündigt, wurde dann aber auf Intervention des Bayrischen Fernsehens abgesetzt. Der Film wurde aber in zahlreichen Ländern, sogar in Japan, im Fernsehen gezeigt und erhielt unter anderem den British Academy Award. Ein weiteres Beispiel: Bei RTL wurden Szenen, in denen ich einem gemeingefährlichen Rechtsbrecher, einem bekannten Mobbing-Anwalt, eine Falle stellte, unverpixelt und im Originalton gesendet. Das Öffentlich-Rechtliche, das die Aufnahmen ursprünglich senden wollte, hätte die Szenen nicht mal in totaler Anonymisierung ausgestrahlt. Dabei hätten sie die Mittel und die Möglichkeiten. Es gibt dort auch mutige KollegInnen und Redaktionen, die aber immer häufiger ausgebremst werden.

Wenn Sie auf Ihre vielen Recherchen und Bücher zurückschauen: Was war für Sie im Rückblick Ihre wichtigste Recherche?

Prägend war sicher für mich meine Aktion in Griechenland. Diese Zeit in der Haft hat mich auch von Oberflächlichkeiten befreit. Auch “Ganz unten” war wichtig, weil ich zwei Jahre in der Rolle des türkischen “Gastarbeiters” Ali gelebt hatte. Einmal bin ich zu Hause auf meine Mutter getroffen. Ich hatte sie zuvor nicht über die Rolle aufgeklärt und sie erkannte mich mit dunklen Kontaktlinsen und schwarzer Perücke nicht. Als ich dann einige Zeit später umgezogen als ihr Sohn zurückkam, hat sie mich vor Ali gewarnt und meinte: “Was war das für ein unangenehmer Mensch gerade?” Ich erwiderte: “Das ist mein bester Freund, der mir bei meiner Arbeit hilft.” Sie antwortete: “Du bist immer viel zu vertrauensselig. Ich habe Menschenkenntnis. Du wirst sehen, der wird dir noch mal sehr schaden.”

Der Politiker Cem Özdemir sagt, das Buch “Ganz unten” steht in ganz vielen türkisch-deutschen Haushalten.

Ich erlebe heute noch Menschen auf der Straße, für die dieses Buch eine Orientierung war. Oder sie wurden von ihren Eltern auf das Buch hingewiesen und erklären mir, dass “Ganz unten” sie politisiert habe. Ich muss manchmal aufpassen, dass ich nicht von Erdogan-Anhängern falsch verstanden werde. So bin ich es heute auch den türkischen Einwandererfamilien schuldig, mit aller Deutlichkeit Position gegenüber der Politik Erdogans zu beziehen. Ich war in den letzten Jahren mehrfach in der Türkei, wo andere wegen Meinungsäußerungen inhaftiert werden, und habe dort Oppositionelle und politische Gefangene besucht und teilweise unterstützt. Ich habe ein Übersoll an “Präsidentenbeleidigung” erfüllt und denke manchmal, es wäre folgerichtig, wenn ich dort eingesperrt würde. Ich lasse es darauf ankommen.

(Foto: Guido Schiefer / epd)

Alle Beiträge aus der Reihe “Das Beste aus epd Medien bei turi2” >>>

    • “In ländlichen Gebieten zahlen wir drauf” – Michael Tallai über Digitalisierung bei den Funke-Zeitungen in Thüringen.

      Lange Leitung: Während alle von KI sprechen, stehen Lokalzeitungen vor einer anderen digitalen Herausforderung: Die Leserschaft hängt an der gedruckten Ausgabe, die für Verlage aber immer unrentabler wird. In Thüringen streicht Funke 300 gedruckte Abos in abgelegenen Orten und versucht, mit der ...
      weiterlesen
    • Die Welt im Rückspiegel: 3 Gründe, warum ChatGPT überschätzt wird.

      Künstliche Konkurrenz: “Viele menschliche Tätigkeiten sind nicht so ausgefeilt, wie wir heute noch denken”, ist Neurowissenschaftler Henning Beck überzeugt. Dennoch glaubt er nicht, dass ChatGPT in naher Zukunft Steuerberaterinnen, Grafikdesigner oder Medienschaffende ersetzen wird. ...
      weiterlesen
    • “Anstrengend und schön wird das” – Christoph Keese über die KI-Zukunft der Medien- und Kreativbranche.

        Veränderungs­maschine: Künstliche Intelligenz markiert den “funda­mentalsten Wandel, den unsere Branche jemals erlebt hat”, schreibt Christoph Keese. “Reihen­weise Geschäfts­modelle werden hin­fällig”, prophezeit der Geschäfts­führer von Spr...
      weiterlesen
    • “Das größte Live-Experiment in der Geschichte der Menschheit” – Miriam Meckel und Léa Steinacker über Chancen und Risiken von KI.

        Mensch und Maschine: “Je früher wir Kinder, Jugend­liche und die Menschen überhaupt sensibilisieren, dass hier eine Revolution im Gange ist, desto besser”, sagt Miriam Meckel im Doppel-Interview mit Léa Steinacker zum Auftakt der turi2 Themen­woche Digitalisierung ...
      weiterlesen
    • “Ein systemisches Problem” – Volker Lilienthal über gut entlohnte Regierungs­aufträge für Medienschaffende.

      Staattlich bezahlt: Die Debatte um Regierungs­aufträge für Medien­schaffende ist “nicht nur eine Blamage für den Journalismus, sondern ebenso für die regierungs­amtliche Öffentlichkeits­arbeit”, schreibt Volker Lilienthal bei epd Medien. Er schaut genau in die verfügbaren Daten und s...
      weiterlesen
    • Alle gemeinsam? Otfried Jarren wünscht sich “maximale” Zusammenarbeit im Journalismus.

      Nächster Schritt: Der Journalismus als Ganzes sollte auf “eine eigen­kontrollierte Infra­struktur der publizistischen Branche” hinarbeiten, schreibt Otfried Jarren bei epd Medien. Dafür brauche es im Kampf gegen die großen Tech-Konzerne branchen­intern ein “maximale...
      weiterlesen
    • Bürgersache: Timo Rieg will die Bevölkerung per Losverfahren in die Rundfunkräte bringen.

        Auf die Plätze, fertig: Das Los ist die Lösung, die Timo Rieg für die stärkere Einbindung der Bevölkerung bei der Aufsicht von ARD und ZDF einbringt. Der Journalist glaubt, dass eine hinreichend großen Gruppe zufällig ausgewählter Menschen mitbringt, “was Experten und Funktionären f...
      weiterlesen
    • Macht New Work aus der Deutschen Welle eine neue Welle, Felix Kaiser?

      Krönt das neue Arbeiten: New Work darf kein Selbstzweck sein, glaubt Felix Kaiser. Bei Veränderungs­prozessen “gehören Bedenken der Mitarbeitenden dazu”, weshalb deren “frühzeitige und umfassende” Information und Einbindung wichtig sei. Der Brand Manger ist Teil des New-W...
      weiterlesen
    • “Einmal im Jahr feiern wir ein fettes Fest.” – BVG-Kommunikatorin Maja Weihgold über New Work und Personal-Werbung im ÖPNV.

      Einsteigen, bitte: Modernes Arbeiten ist mehr als Home-Office, ist Maja Weihgold überzeugt. Die Kommunikationschefin der Berliner Verkehrsbetriebe wirbt mit Vielfalt, Flexibilität und Job-Sicherheit um Bahnfahrerinnen, Busfahrer und Gleisbau-Mitarbeitende in Deutschlands größtem Nahverkehrs-Unte...
      weiterlesen
    • “Ich hatte nicht das Gefühl, dass ich eine wichtige Rolle im Team spiele.” Warum Vidi Legowo-Zipperer die Indonesisch-Redaktion der DW auf New Work trimmt.

        Loslassen lernen: Für Vidi Legowo-Zipperer ist New Work mehr als nur ein Buzzword. Ihr Indonesisch-Team der Deutschen Welle ist die Pilotredaktion in Sachen New Work beim deutschen Auslandssender. Im Interview mit turi2-Chefredakteur Markus Trantow erklärt die Journalistin, die seit zwanz...
      weiterlesen

    Artikel-Navigation

    ← turi2 am Morgen: Benjamin von Stuckrad-Barre, Alice Schwarzer, Christoph Magnussen. turi2 am Abend: Werbeverbot, Florian Hager, RBB. →

Suchen auf turi2

Loading...
Banner Themenwochen

Newsletter abonnieren

E-Paper gratis!
E-Paper gratis!
E-Paper gratis!
E-Paper gratis!
E-Paper gratis!
E-Paper gratis!
E-Paper gratis!
E-Paper gratis!
E-Paper gratis!
E-Paper gratis!
E-Paper gratis!
E-Paper gratis!
E-Paper gratis!
E-Paper gratis!
E-Paper gratis!
E-Paper gratis!
E-Paper gratis!
E-Paper gratis!
E-Paper gratis!
E-Paper gratis!

Generic selectors
Exact matches only
Search in title
Search in content
Search in posts
Search in pages
Impressum, Datenschutz, Mediadaten, FAQ, RSS-Feed, Termine
Dieses Blog läuft mit WordPress
  • home
  • faq
  • media
  • team
  • turi2.tv
  • edition
  • termine
  • köpfe
  • tags
  • abo
  • datenschutz