“Punk-Party mit einem Pfarrer als Türsteher” – René Bosch analysiert das Ende von “Vice”.
16. Februar 2024
Letztes Geleit: Vor 18 Jahren ist Vice Deutschland wie der “Heilsbringer der Medienlandschaft” gestartet, erinnert sich René Bosch. Seit dieser Woche ist das Aus besiegelt. In seinem Gastbeitrag für turi2 sucht der frühere “Bild”-Vize, der seine Karriere bei Vice begann, nach den Gründen für das Ende. Er findet sie in der Unentschlossenheit der US-Mutter und in der Abhängigkeit von Facebook. Andere Medien warnt Bosch vor einem “bösen Erwachen”: Viele seien heute von Google Discover abhängig – bei jeder Anpassung der Algorithmen drohe der Reichweiten-Absturz.
Die deutsche Medienlandschaft ist ein Stück langweiliger geworden, “Vice” ist tot. Vor 10 Jahren noch als Heilsbringer der Medienlandschaft gefeiert, ist das Aus der deutschen Redaktion auch so etwas wie das Ende der “New Media”-Welle um “BuzzFeed”, “Bento” und Co. Doch wie konnte ein internationales Medium, dem die Platzhirsche hierzulande nacheiferten, so scheitern?
“Vice” wusste nicht, was es sein wollte.
Woran es nicht lag, war die Zielgruppe: Ob in Deutschland oder international – “Vice” hatte die Aufmerksamkeit derer, auf die sich Werber nur allzu gerne stürzen: jung, gebildet, interessiert. Wer sie erreichen wollte, war bei “Vice” richtig und die deutsche Redaktion fand den Ton, um mit jungen Lesern zu kommunizieren.
Doch was “Vice” als Konzern sein wollte, änderte sich fast halbjährlich. Ein Fernsehstudio, das Dokumentationen für große TV-Sender produziert? Ein internationales Redaktionsnetzwerk mit Nachrichtenseiten in 35 Ländern? Eine Nachrichtensendung, die jeden Abend im amerikanischen Fernsehen ausgestrahlt wird? Die deutsche Redaktion war zu oft strategisch gelähmt, weil man sich auf internationaler Ebene nicht entscheiden konnte.
In Deutschland entschied man sich zuerst für ein ausuferndes Nachrichtenangebot: IT-News, Sport, Musik, Fashion, Essen, Politik auf der einen Seite, Sex, Drugs und Pillenwarnungen auf der anderen. Nur: Die Leser sahen diese Themenvielfalt nicht. Während die Medienwelt über das innovative Inhalte-Universum staunte, fanden die Nutzer es schlicht nicht. Denn “Vice” verschlief die entscheidende digitale Revolution.
“Vice” war für die Nutzer kaum mehr als einzelne Geschichten.
Statt in eine eigene Plattform zu investieren (450 Millionen Dollar Investorengelder wären ein guter Anfang gewesen), verließ man sich fast vollständig auf Facebook. Post für Post wurden Nutzer auf einzelne Artikel gelockt, die meisten kehrten nach dem Lesen sofort zurück in ihren Social-Media-Feed. Auf die skurrile Geschichte eines Golfloch-Schänders folgte also nicht die fundierte Recherche über eine Kinderpornografie-Plattform, sondern der nächste Social-Media-Post. Das Geld blieb zum Großteil bei Facebook, die Recherchen ungesehen. Oder wie es ein ehemaliger “Vice”-Mitarbeiter ausdrückte: “Wir predigen hier vor einer leeren Kirche!”
Der Zugang zum Punk-Universum wurde zum Nadelöhr.
Gleichzeitig stieß man Ende der 2010er-Jahre auch inhaltlich immer schneller an Grenzen. Das lag nicht an mangelndem Mut der Redaktion, sondern an der eigenen Abhängigkeit: Mit steigenden Nutzerzahlen sorgte sich Facebook immer mehr um seine Außenwahrnehmung. Der unangepasste Journalismus, der die jungen Nutzer in Scharen von den angestaubten Nachrichtenseiten in die bunte Social-Media-Welt trieb, war den Betreibern und ihren Werbekunden suspekt geworden. Heile Welt statt queere Fotostrecken war das Motto. Konnte man Mitte der 2010er Jahre mit einem Erfahrungsbericht von schwulen Sex-Partys noch zahlreiche Nutzer erreichen, sah Facebook das bald nicht mehr mit prüden amerikanischen Ethikvorstellungen vereinbar. Schlimmer noch: sichtbare Nippel oder auch nur angedeutete Sexualität. “Vice” wurde zur Punk-Party mit einem Pfarrer als Türsteher. So wild es drinnen auch zuging, kaum jemand fand mehr den Weg durch die harte Facebook-Tür.
Was Medien heute daraus lernen können.
Als Facebook nach der US-Präsidentschaftswahl 2016 seine Lust an der Nachrichtenverbreitung fast vollständig verlor, kam das harte Erwachen. Für “Vice”, aber auch News-Plattformen wie Bento oder BuzzFeed bedeutete es einen anhaltenden Reichweiten-Kater, der für die meisten zum vollständigen Aus führte. Die Schlussfolgerungen, die daraus gezogen wurden, schallen noch heute durch jede Medienkonferenz: Nutzer binden, nachhaltige Inhalte schaffen, die eigene Präsenz im Netz stärken. Doch hinter den Kulissen sieht es anders aus: Viele Nachrichtenportale im deutschen Raum sind stark abhängig von Googles “Discover”-Plattform, die Android-Handy-Nutzern News-Artikel zeigt. Kaum etwas lässt die Traffic-Manager deutscher Medienmarken so erzittern wie ein neues “Core Update”: Googles undurchsichtige Anpassungen der weltweiten Algorithmen. Einspruch bei Reichweiten-Einbruch? Zwecklos.
Sollte Google demnächst den Fokus seiner Discover-Plattform verschieben – das Thema KI lässt grüßen – könnte es für viele in der deutschen Medienbranche ein böses Erwachen geben. Wie man den Arbeitstag danach übersteht, kann man übrigens hier nachlesen – bei den Kollegen von “Vice”.
Über den Autor:René Bosch war bis August 2023 stellvertretender Chefredakteur bei “Bild”. Zuvor war er in verschiedenen Rollen bei Axel Springer tätig. Begonnen hat Bosch seine Medienlaufbahn bei “Vice”, zuerst als Social Media Editor für “Motherboard” und “Vice Sports”, danach für die deutschsprachigen Kanäle der Vice.com-Redaktion.