Essay: Miriam Meckel über die Wiederentdeckung der Langsamkeit im Lesen.
23. Dezember 2015
„Plötzlich tut sich eine Lücke auf“.
Miriam Meckel, Medienprofessorin und Chefredakteurin der „Wirtschaftswoche“, hat für die turi2 edition 1 ein Essay über die Wiederentdeckung der Langsamkeit im Lesen geschrieben. Wir veröffentlichen es hier in voller Länge – als Weihnachtsbotschaft für die Leser von turi2. Verlag und Redaktion von turi2.de und “turi2 edition” wünschen Ihnen allen langsame Weihnachten!
Manchmal komme ich mir vor wie John Franklin, der Schnurhalter. Der kleine Junge, der zu langsam ist, einen Ball zu fangen, und deshalb am Rande steht und zuschaut. Aber er tut doch auch etwas: Er hält die Schnur, über die andere den Ball spielen, so schnell, dass John ihm nicht einmal mit den Augen folgen kann. Er fasst die Situation in einen Rahmen, in dem die anderen sich im Spiel mit- und gegeneinander bewegen. So beginnt Sten Nadolnys Roman „Die Entdeckung der Langsamkeit“. Das Buch steht bei mir im Regal. Es ist 32 Jahre alt und sehr vergilbt. Aber es hat nichts verloren von seiner Faszination.
Meine Schnur ist aus Papier. Ich halte sie ins Leben, und die digitale Welt spielt in einem Tempo darüber und darum herum, dass ich vieles gar nicht sehen kann. Aber das macht nichts. Wenn ich meine Schnur aus Papier in die Welt halte, dann entsteht eine neue Verbindung, die mir einen Halt gibt und Energie für kreative Entdeckungen. Das ist das Schönste, das in einem langsamen Moment mit einem Medium geschehen kann: dass man Verbindung aufnehmen kann zu etwas Neuem, Überraschendem, das zeitlich über den Moment hinaus bedeutsam bleibt.
Es gibt sie noch immer, diese Medienmomente, die ein Satz aus Nadolnys Roman trifft: „Dreimal hinsehen, einmal handeln. […] Langsam und fehlerlos ist besser als schnell und zum letzten Mal.“ Mit drei Mal Hinsehen ist hier nicht das wiederholte Zücken des Smartphones gemeint, der Blick auf das Display, der gelegentlich einer Pawlow’schen Reaktion auf die immer kürzeren und schnelleren Veränderungsmomente unseres Informationsalltags gleichkommt. Ein selbstbezügliches Signal für „Update! Ich bin noch in dieser Welt!“ Das muss gar nicht stimmen, aber es fühlt sich irgendwie gut an.
Drei Mal Hinsehen heißt eher, sich die Zeit zu nehmen für ruhiges, konzentriertes Lesen. Für die Entwicklung eines Gedankens, der oft noch mehr als drei Schleifen braucht, bevor er richtig sitzt. Für die assoziativen Kräfte in uns, die sich nicht anklicken, nicht beschleunigen lassen, sondern nur dort entstehen, wo beim Lesen ein sehr altbackener Spruch gilt: Der Weg ist das Ziel. Das ist dann der Moment, in dem man eine Schnur in die Welt hält und sich die Gedanken so lange an ihr entlanghangeln, bis plötzlich etwas Neues entsteht. Mit den Worten Virginia Woolfs: „Der Himmel besteht aus ununterbrochenem, niemals ermüdendem Lesen.“
John Franklin hätte heute Probleme mit seiner Schnur. Er hätte die Hände gar nicht frei, sie zu halten. Schließlich müsste er alle sieben Minuten auf sein Smartphone schauen, ungefähr 150 Mal pro Tag. Dort gäbe es viel zu sehen. Die drei Milliarden Internetnutzer weltweit erzeugen mit ihren vielen Milliarden Geräten 2.5 Millionen Terabyte Daten jeden Tag. Nicht alle sind strukturiert und konsumierbar, aber doch genug, dass wir nichts anderes mehr tun müssten, als auf unsere kleinen Bildschirme zu starren. Um im Strom der Informationen mitzuschwimmen, bemühen wir uns, immer mehr immer schneller und in immer kürzeren Zeitabständen zu verarbeiten. Im Zuge dessen hat sich die menschliche Aufmerksamkeitsspanne in den vergangenen zehn Jahren von zwölf auf acht Sekunden verkürzt. Sie liegt damit nun unter der eines Goldfischs.
Ein Grund dafür ist die ständige Unterbrechung dessen, was wir gerade tun, durch etwas Neues. Newsletter, Tweets, Facebook-Postings, Updates, Eilmeldungen wechseln sich im Sekundentakt ab – oft bereits angekündigt durch eine Mitteilung auf dem Sperrbildschirm des Smartphones – und konkurrieren um unsere Aufmerksamkeit. Maryanne Wolf, Leseforscherin an der Tufts University in Boston, folgert daraus in ihrem Buch „Proust und der Tintenfisch“, dass sich das menschliche Gehirn im Zuge veränderten Lesens umprogrammiert. Während wir digitale Informationen oft nur überfliegen, steht „in-depth reading“, das tiefgründige Lesen, für eine intensive Verarbeitung der Informationen. Je mehr und je öfter wir digitale Häppchen zu uns nehmen, desto mehr verlernen wir das echte, tiefgründige Lesen, sorgt sich Wolf.
Das klingt ein bisschen nach Kulturpessimismus und Technikschelte. Vielleicht ist es aber vor allem ein Missverständnis. Wer sich im Web umschaut, findet eine wachsende Zahl von Angeboten mit langen Stücken („long reads“), die einen Kontrapunkt setzen zum sekündlichen Alarm der Informations-Häppchen. Und so kann es geschehen, dass man am Flughafengate auf einen verspäteten Flug wartet und beginnt, einen Essay über den Islamischen Staat auf dem iPhone zu lesen, aus dem man erst nach 40 Minuten durch den sanften Schubs eines Mitpassagiers wieder auftaucht. Das schafft ein guter Text, der die Aufmerksamkeit bekommt, die er verdient – in print und digital.
Dennoch gibt es Unterschiede zwischen digitalen und gedruckten Informationen. Schülerinnen und Schüler etwa verstehen Texte auf Papier deutlich besser als auf dem Bildschirm; das sagt jedenfalls eine Studie des norwegischen Lesezentrums an der Universität Stavanger von 2012. Wahrscheinlich hat das mit unserer Geschichte zu tun, zumindest bei den Menschen, die noch mit Print groß geworden sind. Hunderte von Jahren der Verbindung zwischen Lesen und Material haben unser Gehirn evolutionär verdrahtet.
Die Seite eines Magazins, einer Zeitung oder eines Buchs öffnet einen Raum. Sie ist das Spielfeld für unser Gedanken, die wir wie Spieler auf ihr positionieren können. Was stand oben rechts, was steht unten links? Das weiß ich noch Jahre, nachdem ich ein Buch gelesen habe. Ein Blick auf die Seite lässt den Gedanken an einem Ort andocken und fasst den Raum meiner Aufmerksamkeit ein wie John Franklins Schnur die beiden Hälften des Spielfelds. Das Buch, das ich in der Hand halte, die Seite, die ich umblättere, links, rechts, lässt sich doppelt begreifen: durch Anfassen und durch Verstehen. Das ist im Web anders. Dort funktioniert nur eine Ebene des Begreifens: Wir verstehen, aber ohne mit den Augen räumlich anzufassen. Vielmehr scrollen wir durch die Inhalte in einem Informationsstrom, der fließt. Er beginnt irgendwo und endet vielleicht auch wieder. Wissen können wir das nicht.
Ein Strom ist mitreißend. Er kann auch gefährlich sein, wenn er immer schneller wird. Dann wird es schwer, sich irgendwo festzuhalten. Es braucht aber Ankerpunkte, an denen man sich festhalten, sich kurz ausruhen und etwas anbinden kann. Eine Assoziation, eine Erkenntnis oder eine Erinnerung.
Vielleicht ist das der entscheidende Unterschied zwischen dem digitalen „Livestream“ unseres Lebens und den raren Momenten des Rückzugs in ein in sich geschlossenes Medium: Es erlaubt noch die Langsamkeit, die im Zeitstrahl unseres digital beschleunigten Lebens verschwunden ist. Plötzlich tut sich eine Lücke auf, und die Welt macht kurz halt, um sich neu zu ordnen. Wir werfen einen Anker, und dann kann es weitergehen.
Nicht print oder digital macht den wesentlichen Unterschied. Es ist das Verhältnis aus Zeit, die wir für ein Medium aufwenden, und der Zeit, die uns sein Angebot dank toller Texte und anregender Analyse abknapst, die es für uns wertvoll macht. Und so gilt für diesen Gedanken das, was John Franklins Erkundungskamerad Francis McClintock am Ende von Nadolnys „Entdeckung der Langsamkeit“ sagt: „Wer nicht weiß, was Zeit ist, versteht kein Bild, und dieses auch nicht.“