Smarte Formate: “Bild” hat für Snapchat einfach mal die Videokamera gedreht. Jens Twiehaus ergründet für die turi2 edition #9 den Trend, mit dem die Medienmarke täglich Hunderttausende, vor allem junge Nutzer, erreicht. Im spartanisch wirkenden Snapchat-Studio entstehen aufwendig produzierte Nachrichten und Shows, an denen ein Team aus Redakteuren, Cuttern und Motion Designern oft stundenlang arbeitet.
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Das Studio im “Bild”-Konferenzraum ist schnell eingerichtet: Moderator Morten Wenzek baut die giftgrüne Papp-Wand auf, dreht sich zur Kamera und beginnt, mit aufgerissenen Augen zu reden. Designer Lovis Lattke ist zugleich der Kameramann. Seine Kamera hängt schräg am Stativ und filmt im Hochkant-Format. Mortens Moderation ist bestimmt für Snapchat – und die Plattform nun einmal ausschließlich auf Smartphones ausgerichtet.
Auch wenn das Snapchat-Studio spartanisch wirkt: Die täglichen Nachrichten und regelmäßigen Shows sind aufwendig produziert. Aus der giftgrünen Wand wird später am Computer ein animierter Hintergrund mit Fotos. Ein Team aus Cuttern und Motion Designern arbeitet oft stundenlang an Video- und Audio-Effekten.
Für Springer ist dies die neue Bewegtbild-Realität: Rund vier Millionen aktive Nutzer erreicht “Bild” pro Monat auf Snapchat, 650.000 Zuschauer wischen sich Tag für Tag durch die Inhalte. Die werden von Werbung unterbrochen, an der Springer mitverdient. Noch interessanter für die Redaktion: 90 Prozent der Nutzer sind unter 25. Und damit Teil einer Zielgruppe, die selten Bild.de besucht und praktisch nie eine Zeitung kauft. Snapchat soll für sie die Einstiegsdroge ins “Bild”-Universum sein.
Morten Wenzek, der Redakteur für die vertikalen Video-Angebote, sagt: “Die Gesetze, die wir aus der Videoproduktion in älteren Zeiten kennen, stimmen jetzt einfach nicht mehr.” Ein Video für Social Media müsse direkt am Anfang “kicken”, dann eine Story aufbauen. Ist der Nutzer nach drei Sekunden nicht überzeugt, ist er verloren. Videos für Social Media müssen nicht kurz sein, sagt Wenzek, aber durch Schnitte, Schriften und Effekte schnell wirken. “Das Veröffentlichen auf Social Media ist eine Boulevardisierung der Inhalte. Die Bilder müssen stark sein, ich muss sofort den Promi sehen”, sagt Wenzek. Und natürlich sei dabei das handyfreundliche Hochkant-Format Pflicht.
“Wenn man auf den Plattformen ein Querformat hochlädt, ist man der uncoole, alte Medienmacher”, sagt Social-Chef Marc Biskup. Er will auch in Zukunft in Hochkant-Inhalte für “Bild” investieren. Täglich verbreiten seine Leute ein knappes Dutzend Nachrichten, die zum Klick auf Bild.de animieren sollen – beziehungsweise zum “Swipe up”, wie es auf Snapchat heißt, weil Nutzer auf dem Bildschirm nach oben wischen müssen. Zudem gibt es mehrere Spezial-Angebote: die Basketball-Show “Crunchtime”, eine Fußball-Show, ein Format zum Bild.de-Ableger Fitbook und die Auto-Show “Drive”. Fußball-Spiele und Auto-Tests sind fast immer im Querformat gefilmt, die Cutter müssen das Material für Snapchat neu konfektionieren.
Snapchat ist auch Rückkanal. Als Partner des Konzerns bekommt “Bild” nicht nur eine ungenannte Summe Geld, sondern auch exklusive Zugänge: “Bild”-Designer können sogenannte Linsen erstellen, digitale Masken, die sich Nutzer im Selfie-Modus aufsetzen können, um anonym über Themen zu sprechen. Beispiel: die Mobbing-Linse. “Bild” rief ihre Follower auf, sich virtuelle Mützen tief ins Gesicht zu ziehen und über eigene Mobbing-Erfahrungen zu berichten. Aus den Einsendungen hat die Redaktion ein Video gebaut.
Für Biskup ein Paradebeispiel: Die Community wird zu Protagonisten und produziert eigenen Gesprächsstoff – Sozial-Medium pur unter dem Markendach “Bild”. Dieser “snackable content”, den man Freunden auf dem Handy zeigt, sei prädestiniert für das Hochkant-Format. Biskup sagt aber auch: “Längere Filme werden auch weiter horizontal konsumiert, weil es für die Augen angenehmer ist und man sich zurücklehnt.” Die Zukunft ist also nicht nur hochkant.
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