Berufe mit Zukunft von A-Z: W wie Welterklärerin – Mai Thi Nguyen-Kim.
9. Juli 2019
Die Chemie von YouTube:Mai Thi Nguyen-Kim hat das Labor gegen das Studio getauscht. Die promovierte Chemikerin funkt bei YouTube, im WDR und beim ZDF – gegen Fake News und für einen gemeinsamen gesellschaftlichen Wahrheits-Nenner. Anne-Nikolin Hagemann porträtiert die Wissenschafts-Journalistin im Berufe-Alphabet der turi2 edition #8 als W wie Welterklärerin.
Das Porträt über Welterklärerin Mai Thi Nguyen-Kim finden Sie auch in unserem frei zugänglichen E-Paper zur “turi2 edition #8” auf den Seiten 186 – 187.
Dr. Mai Thi Nguyen-Kim hat der Wissenschaft einen Liebesbrief geschrieben. Er beginnt so: “Hallo, ich heiße Mai. Ich bin Chemikerin.” Sie sagt den Satz direkt in die Kamera, in ihren Augen spiegelt sich das Licht. Sie schwärmt von Atomkern-Fusionen im Inneren der Sonne, von Gasmolekülen in der Luft, der Elektronendichte-Verteilung in Wasser. Das Video zeigt Bäche, wehendes Haar in Slowmotion, Bergketten im Gegenlicht. Selbst der härteste Naturwissenschaftshasser bekommt ein bisschen Gänsehaut vor dem Smartphone-Bildschirm.
Andere nennen sie Edutainerin oder Influencerin, wir nennen sie Welterklärerin. Mai Thi Nguyen-Kim selbst würde sich und ihren Beruf als “klassische Wissenschaftsjournalistin mit vielleicht etwas ungewöhnlichem Ausspielweg” vorstellen. Im Herzen, sagt sie, ist sie noch immer Wissenschaftlerin. Auch, wenn die promovierte Chemikerin heute nicht mehr im Labor steht, sondern vor der Kamera: auf YouTube für ihren eigenen Kanal “maiLab” und das ZDF-Format “Terra X Lesch und Co”, oder im TV für die WDR-Sendung “Quarks”. In diesem Jahr ist ihr erstes Buch erschienen, “Komisch! Alles chemisch” heißt es. Sie wolle möglichst viele Menschen erreichen, sagt Nguyen-Kim. Je mehr Wege sie dafür nutzen kann, desto besser.
Die Antreiber für guten Journalismus und gute Wissenschaft ähneln sich, glaubt sie: “Man arbeitet nicht in erster Linie für sich selbst, sondern ganz banal und platt für die Menschheit.” Und die kann mehr Aufklärung gerade ganz gut brauchen. Je mehr Fake News kursieren, umso wichtiger sei es für die Gesellschaft, einen kleinsten gemeinsamen Nenner zu finden, auf den sich alle als wahr einigen können. “Irgendwem muss man ja vertrauen. Und das sollte die Wissenschaft sein”, sagt Nguyen-Kim. “Wissenschaft ist kein abgefahrenes Freak-Wissen, das sich irgendwelche superintelligenten Nerds ausdenken. Sondern für uns alle Teil des Alltags.” Ob es nun um die Sonne, die Luft und das Wasser geht, oder ums Impfen, die Dieseldebatte und künstliche Intelligenz. “Je mehr wir verstehen, desto bessere Entscheidungen können wir treffen.”
Um ihren Zuschauern die Welt zu erklären, muss Mai Thi Nguyen-Kim ihnen zunächst die Wissenschaft erklären. Schon als sie noch als Chemikerin im Labor arbeitet, hat sie großen Spaß daran, über ihre Forschung zu reden. Und stellt fest, wie wenig andere über Wissenschaft und die Menschen dahinter wissen. Sie gewinnt Science Slams und spricht vor Publikum über ihre Arbeit. Dann entdeckt sie YouTube für sich, “wo man sich sein Publikum selbst sucht und nicht warten muss, bis man auf eine Bühne eingeladen wird.” Anfangs ist sie, typisch Wissenschaftlerin, eher skeptisch, wie viele Menschen sie dort tatsächlich erreichen kann. Und deshalb “total euphorisch” über das positive Feedback und die ersten paar Hundert Klicks. Inzwischen hat der Kanal, der jetzt unter dem Dach des öffentlich-rechtlichen Jugendangebots funk läuft, mehr als 260.000 Abonnenten. Dazu kommen die gut 430.000 von “Terra X Lesch & Co” und die TV-Zuschauer von “Quarks”. Nguyen-Kim hat ihr Publikum gefunden. Ihren Liebesbrief an die Wissenschaft haben in den vergangenen fünf Monaten fast 115.000 Menschen gesehen.
Dass sie nicht aussieht wie Harald Lesch und damit nicht so, wie sich wahrscheinlich die meisten Menschen einen Welterklärer vorstellen, ist dabei kein Nachteil: “Natürlich gibt es Leute, die denken: Was soll mir die Kleine schon erklären?”, sagt Mai Thi Nguyen-Kim, “aber grundsätzlich ist es immer ein Aufmerksamkeits-Vorteil, wenn man aus der Reihe tanzt.” Durch die Unmittelbarkeit von YouTube merken auch Skeptiker schnell, dass sie weiß, wovon sie spricht. “Und mit jeder Überraschung, die ich auslöse, breche ich das Klischee ein bisschen mehr.”
70 bis 80 Prozent ihres Arbeitsaufwands fließen in Recherche, sagt Nguyen-Kim. Da hat sie denselben Anspruch an Genauigkeit und Vollständigkeit wie für ihre Doktorarbeit: “Die Nerdiness, die ich aus meiner Zeit als Wissenschaftlerin mitbringe, kommt mir sehr zugute.” Manchmal fehlt ihr die Arbeit im Labor, das Handwerkliche, das konzentrierte Verfolgen einer Idee, die Spannung dabei. Trotzdem würde sie ihr Leben nicht zurück tauschen, “weil man im Labor schnell in einen thematischen Tunnel kommt, in den man immer tiefer kriecht.” Ist man Spezialist für ein Thema, sieht man irgendwann den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr. Oder besser: “Dann sieht man gar keine Bäume mehr, sondern nur die Rinde oder die einzelnen Rindenfasern. Und vergisst, warum man eigentlich im Wald ist.” Heute nimmt sie ihre Zuschauer mit in den Wald und erklärt ihn, von der Faser bis zum Baum.
Das Wichtigste dabei: Sie muss sich in ihr Publikum hineinversetzen. Auf YouTube ist das zwischen 18 und 34 Jahre alt, im TV deutlich älter. “Da habe ich ein einfacheres Thema als zum Beispiel mit Unterhaltung”, sagt Nguyen-Kim, “denn Wissenschaft ist alterslos.” Ihre Herausforderung ist, Menschen mit wissenschaftlichem Hintergrund ebenso abzuholen wie die ohne Studium. “Alles, was meine Zuschauer mitbringen müssen, ist ein bisschen Zeit. Dann können sie alles verstehen.”
Erfolg auf YouTube und im Fernsehen ist messbar, in Zuschauer- und Klickzahlen. Eigentlich der Traum für eine Wissenschaftlerin. Doch seit etwa einem Jahr versucht Nguyen-Kim, ihr Erfolgsempfinden nicht mehr davon abhängig zu machen. Als sie das Gefühl hatte, zu sehr auf Trends aufzuspringen, um mehr Follower zu bekommen, machte das Ganze keinen Spaß mehr. Seitdem spricht sie über die Themen, die sie selbst spannend findet.
Seitdem ist auch der Erfolg in Zahlen größer. “Man kann Einzigartigkeit nicht erzwingen”, sagt sie. “Wenn man sich von etwas Erfolgreichem inspirieren lässt, gibt es das ja schon. Dann ist die Wahrscheinlichkeit klein, dass ich dadurch ebenfalls erfolgreich sein werde. Wenn ich aber das mache, was mich interessiert, schaffe ich allein dadurch individuellen Inhalt. Weil ich ja per Definition eine individuelle Persönlichkeit bin.” Wer nach einem wissenschaftlichen Erfolgsrezept gesucht hat: Hier ist es.
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