turi2 edition #9: BMW-Markenchef Jens Thiemer über Autowerbung früher und heute.


Freude am Gefahrenwerden: “Autowerbung hat jahrzehntelang auf Klischees gesetzt. Heute braucht ein Autobauer eine Haltung”, sagt Jens Thiemer, Markenchef von BMW, im Gespräch mit Peter Turi für die turi2 edition #9 und blickt auf legendäre Kampagnen zurück – von BMW und anderen Automarken. In den nächsten zehn bis 20 Jahren müsse es darum gehen, mehr Menschen weg vom eigenen Auto und in Mobilitätssysteme zu bringen.

Ui, gleich mal ein Fauxpas vom BMW-Markenchef: Gerade noch hat Jens Thiemer in höchsten Tönen von Bewegtbild geschwärmt als “Königsdisziplin der Kommunikation”, die “fast alle Sinne anspricht” und “über viele Kanäle die Herzen der Menschen” erreicht. Und jetzt nennt er auf die Frage nach seinem Lieblings-Spot von BMW das Motiv eines Mercedes-Autotransporters mit BMW-Autos drauf und der Zeile “Auch ein Mercedes kann Fahrfreude bringen”. Der Zeile? Ach ja, stimmt, es war gar kein Spot, der Thiemer da so beeindruckt hat, sondern eine Print-Anzeige in der “auto, motor und sport”.

Egal. Thiemer fand’s damals – obwohl er noch bei Mercedes war – “genial, genau mein Humor”. Er sei in jedem Fall “ein Riesenfan von Bewegtbild”, die Möglichkeiten seien gerade im Digitalen “schier unerschöpflich”. Erzählt Thiemer im BMW-Hochhaus-Zylinder in München mit Blick auf das Olympiastadion und die Alpen. “Mich hat Werbung immer schon begeistert”, er frage stets: “Was passiert eigentlich in den Köpfen der Menschen, die Werbung oder Filme ansehen?”

Welche Werbung hat ihn beeindruckt? Die kultigen Sprüche von Jung von Matt für Porsche in den 90er Jahren. Das Bild eines 911ers und dann die Zeile: “Das perfekte Familienauto – weil man später los muss und schneller zu Hause ist.” Der großartige Sprungschanzenfilm von Audi. Die umstrittene Ohrfeige von Mercedes. Ginge das heute noch? “Das würde man in dieser Form nicht mehr machen können”, glaubt Thiemer. Aber: “Retrowerbung funktioniert sowieso nicht.” Werbung sei immer “ein Kind ihrer Zeit”.

Jens Thiemer im TV-Fragebogen:

Thiemers Lieblingswerbung für BMW ist die für den M2 mit dem Model Gigi Hadid aus dem Jahr 2016. Der Spot funktionierte als eine Art Hütchenspiel zum Mitraten und “strahlt eine unfassbare Energie aus”. Thiemer schwärmt richtig für das Werk der damaligen Konkurrenz: “Die Protagonistin wirkt authentisch, der Film ist unterhaltsam und überraschend.” Und: “Es ist immer die Story, die fasziniert. Sie muss unter die Haut gehen.”

Jens Thiemer ist unterwegs in heikler Mission: Er soll als Markenchef für BMW die Pole Position in der automobilen Oberklasse zurückerobern. Genau dahin hatte Thiemer Mercedes gebracht, als er es zwischen 2015 und 2018 schaffte, Mercedes mit frischen Ideen und der werksnahen Agentur Antoni wieder jung und cool aussehen zu lassen. Statt die Autos stellte Thiemer die Nutzer in den Mittelpunkt. Die Grow-up-Kampagne war bei Mercedes eine kleine Revolution und sehr erfolgreich. Sie löste sich vom alten Schema “Auto vor Landschaft” oder “Auto vor Architektur”. Und stellte stattdessen Geschichten und Menschen aus dem prallen Leben in den Vordergrund.

Seit Anfang 2019 hat Thiemer nun den Auftrag, den Überholvorgang zu wiederholen – nur sitzt er jetzt im anderen Auto. Das Wort “Auftrag” mag Thiemer allerdings gar nicht, das klingt ihm “zu begrenzt, zu temporär”. Er sieht seine Aufgabe “ganzheitlich” und mag es tiefsinnig. “Autowerbung hat jahrzehntelang auf Klischees gesetzt. Heute braucht ein Autobauer eine Haltung.” Schließlich steht die Branche vor großen Herausforderungen: “Das Auto ist eine der größten Errungenschaft der Menschheit. Es hat den Menschen Unabhängigkeit gebracht. Aber es ist leider so erfolgreich, dass es sein größter Feind geworden ist.” Thiemer gibt unumwunden zu: “Es gibt zu viele Autos. Wir brauchen Mobilitätssysteme.”


Jens Thiemer, 47, soll in München das ändern, was er einst in Stuttgart bewirkt hat: Als Markenchef will er mit BMW die Pole Position von seinem alten Arbeitgeber Mercedes zurückerobern. Bewegtbild soll dabei helfen

Kann der BMW-Slogan “Freude am Fahren” eigentlich bleiben, wenn die Zukunft elektrisch und autonom oder teilautonom ist? Thiemer meint ja. Den Begriff Freude hat Thiemer in den Archiven schon in der BMW-Werbung der 30er Jahre gefunden – jetzt will er ihn neu definieren. Aktuell stehe ein BMW für Freude am Fahren, Freude am Status, Freude an einem Premium- oder sogar Luxusprodukt.

Das wird sich ändern, glaubt Thiemer: “Intellektuell vorne zu sein ist das neue Oben.” Thiemer will die Freude mit Verantwortung aufladen: “In den nächsten zehn bis 20 Jahren müssen mehr Leute vom eigenen Auto umsteigen in Mobilitätssysteme.” Und mit dem autonomen Auto kommt dann quasi die Freude am Gefahrenwerden. Auf keinen Fall dürfe Freude verantwortungslos oder egoistisch sein, das ging noch in den hedonistischen 90er Jahren – aber heute nicht mehr.

Thiemer denkt Kampagnen immer vom Inhalt her und “Bewegtbild zu allererst digital”. Snack-Content, also kurze, leicht zu konsumierende Filmchen fürs Handy, sind gefragt. Bewegtbild auf YouTube oder Instagram anzuschauen, “ist einer meiner liebsten Beschäftigungen”. Dort muss ein Spot nicht nach 30 oder 20 Sekunden zum Punkt kommen, sondern nach drei. “Wir müssen die Mechanismen verstehen bei YouTube, Instagram und TikTok, uns den Medien anpassen.” Die chinesischen Kollegen arbeiten viel mit WeChat, das sich in Asien als lebensbegleitende General-App etabliert hat.


Werbespot mit Gigi Hadid und Raserei über die Kanäle Venedigs: BMW kommt ziemlich testosteronsatt rüber

Auch auf Influencer geht Thiemer zu. Er umarmt sie geradezu. Lädt sie zum Influencer-Day ein, stellt ihnen Autos zur Verfügung. “Influencer gewinnen an Reichweite und Einflusskraft, sie erreichen Zielgruppen, die wir sonst nicht erreichen.” Thiemer gefällt “das Positive”, “die Begeisterungsfähigkeit der Influencer”. Sind sie wichtiger geworden als Journalisten? Das nun gerade nicht, aber “die Dinge haben sich miteinander verwoben”. Und über Influencer “können wir unsere Narrative ganz anders setzen“, die BMW-Themen mit Lifestyle, Design, Musik und Games verbinden. “Wir sehen im Social Web sehr schnell, ob Themen ankommen oder verpuffen.”

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