turi2 edition #22: Müssen sich Medienmarken vom Screen emanzipieren, Jochen Wegner?
27. Oktober 2023
Eine Frage der Zeit: “Wir werden nie aufhören, auf Desktop- und Smartphone-Bildschirmen zu erscheinen”, schreibt Jochen Wegner, Chefredakteur von Zeit Online im Gastbeitrag in der turi2 edition #22. Er glaubt nicht, dass ein Medium von einem anderen ersetzt wird. Das Problem liegt an anderer Stelle: “Wir müssen herausfinden, wie wir diesen stetig wachsenden Kleintierzoo digitaler Angebote in Zukunft füttern sollen.”
Auf den ersten Blick kann es so scheinen, als arbeite ausgerechnet Zeit Online an der Befreiung vom Bildschirm. Wir veröffentlichen Podcasts, die mehr Reichweite haben als manche Fernseh- und Radioprogramme. Wir initiieren analoge Festivals für tausende Zwanzigjährige oder Podcast-Hörer, wir veranstalten Demokratie-Experimente, bei denen sich Zehntausende zu persönlichen Streitgesprächen treffen, all dies weitgehend abseits vom Bildschirm.
Neuerdings trainieren wir KI-Systeme, die nicht nur alle unsere Inhalte rezitieren können, sondern mit denen ich mich auch darüber unterhalten kann. “Zeit, welche Gerichtsverfahren laufen gerade gegen Donald Trump und warum?” Einen Bildschirm braucht es dafür zwar noch, bald könnte der Chatbot auch gesprochene Sprache verstehen.
Müssen sich Medien vom Screen emanzipieren? Die Frage ist nicht so neu, wie sie vielleicht klingt. Schon zur Geburtszeit der Online-Medien, Ende der 80er, prophezeite der Informatiker Mark Weiser, dass eine Zeit des “ubiquitous computing” bevorstehe. Computer würden zunehmend unsichtbar und in unserer Umgebung verschwinden, bald müsse niemand mehr auf einen Desktop-Bildschirm starren. (Den vorübergehenden Umweg über Smartphones, die in der Cloud hängen, hat Weiser nicht vorhergesehen, das Tablet schon.) Auch Kevin Kelly (der Gründer der Zeitschrift “Wired”) oder Ray Kurzweil (der einflussreiche Informatiker und Futurist) formulierten ähnliche Gedanken, und Elon Musk, Jeff Bezos, Mark Zuckerberg und Tim Cook gießen sie bereits in Produktstrategien.
Das “Rieplsche Gesetz der Medien”
Aber es ist kompliziert. Kein Medium wird jemals so ganz durch ein anderes ersetzt. Unsere technischen Vorrichtungen zum Gedankenaustausch verfeinern höchstens ihren Zweck. So ungefähr lautet das “Rieplsche Gesetz der Medien” von 1913, das eher eine grobe Faustregel ist und bis heute erstaunlich haltbar. Fernsehen hat das Kino nicht ersetzt, sondern verändert, Streaming hat das Fernsehen nicht ersetzt, sondern verändert, und so weiter.
Wir werden deshalb noch sehr lange Zeit eine Zeitung drucken, auch, wenn wir immer mehr digitale Leser gewinnen. Die Zeitung ändert nur nach und nach ihre Funktion und wird von vielen aus ganz neuen Gründen geliebt als vor 20 oder 80 Jahren. Mit der Screen-Emanzipation wird es deshalb ebenfalls nichts. Wir werden nie aufhören, auf Desktop- und Smartphone-Bildschirmen zu erscheinen, auch, wenn uns in fünf oder zehn Jahren viele Menschen vielleicht über “konversationelle Interfaces” rezipieren werden, also über so eine Art hochbegabten Urenkel von Siri, ChatGPT und Google.
In Riepls Faustregel ist deshalb eine Falle verborgen für jene, die die Zukunft der Medien gestalten: Da die alten Medien nie wirklich verschwinden und immer neue geboren werden – auf wie vielen davon können, ja müssen wir in Zukunft mit unseren Inhalten präsent sein?
Kleintierzoo digitaler Angebote
Schon heute gibt es uns nicht nur am Kiosk und auf zeit.de und in den Appstores. Es gibt uns auf Facebook und Instagram, TikTok, YouTube und Twitch. (Immerhin: Myspace und Second Life haben wir ausgelassen.) Wir livestreamen ein wöchentliches Videoformat, das man nur auf den ersten Blick mit einer Fernsehsendung verwechseln könnte und betreiben ein sehr experimentelles Roboter-Radio. Sicher wird es uns auch in den nächsten fünf oder zehn erfolgreichen Inkarnationen digitaler Medien geben, seien sie nun besonders intelligent oder nicht, mit Bildschirm, Datenbrille oder Datentapete im Wohnzimmer, mit Sprachinterface oder direkter Hirn-Schnittstelle.
Vom Bildschirm emanzipieren müssen wir uns nicht. Wir müssen herausfinden, wie wir diesen stetig wachsenden Kleintierzoo digitaler Angebote in Zukunft füttern sollen. Schließlich benötigen alle Medien ihre eigene Idee, eine adäquate Aufbereitung unseres Journalismus, einen eigenen Sound und Ansatz. So, wie wir nicht nur eine gedruckte Wochenzeitung ins Internet stellen, erfordert Instagram andere Formate als TikTok, die wachsenden Live- und Audio-Angebote gehorchen wieder anderen Gesetzen. Wer weiß heute schon, wie wir uns nächstes Jahr mit KI-Sprachmodellen unseren Journalismus noch einmal ganz neu erschließen werden?
Wenn die Zahl der Köpfe in unseren Redaktionen mit dieser Entwicklung nicht mitwächst, fällt mir nur eine Antwort auf die Frage nach dem Kleintierzoo ein. Viele verschiedene KIs werden uns bald dabei helfen, unseren Journalismus ideenreich und angemessen für eine ständig wachsende Zahl von Kanälen, Plattformen und Screens aufzubereiten. Wir arbeiten schon daran.
(Foto: Andreas Chudowski)
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