Demokratie ohne lokale Medien? – Michael Konken über das Zeitungssterben.
30. Juni 2023
No Future? Spätestens Ende der 20erJahre werden auf lokaler Ebene die letzten gedruckten Zeitungen erscheinen, in 40 % der Städte und Gemeinden droht das Sterben der Lokalzeitungen – Michael Konken prognostiziert in einem Gastbeitrag für turi2 eine düstere Zukunft für den Regionaljournalismus ohne die gedruckte Zeitung. Der frühere DJV-Chef sieht auch E-Paper nur als vorübergehende Rettung und fragt sich, wer künftig die Politik kontrolliert, wenn privatwirtschaftliche Medien weitgehend ausfallen. Für eine staatsferne Presse-Förderung sei es nun zu spät, konstatiert er und stellt der Verleger- und Journalismus-Lobby ein schlechtes Zeugnis aus: Die Verbände “haben fahrlässig und verantwortungslos dieses Thema nicht öffentlich gepuscht”.
Von Michael Konken
10,55 % verlor die Gesamtauflage der gedruckten Tageszeitungen im 1. Quartal dieses Jahres im Vergleich zum Vorjahreszeitraum. Eine dramatische Entwicklung, die allerdings kaum in der Öffentlichkeit, auch nicht in der medialen, registriert wird. Sie bestätigt die bereits 2012 von Prof. Klaus Meier von der Universität Eichstädt in einer Studie errechneten, kontinuierlich sinkenden Auflagen. 2034 ist nach seiner Prognose das Ende der gedruckten Zeitungen zu erwarten. Berechnungen, die sich bisher jährlich exakt bestätigten. 2034 ist mittlerweile eine optimistische Annahme. Spätestens Ende der 20er Jahre werden auf lokaler, etwas später auf regionaler Ebene, die letzten gedruckten Zeitungen erscheinen. Die aktuellen Quartalszahlen beweisen den rasanten Niedergang, auch bei den großen Zeitungstiteln. Nur noch 17,4 % der Menschen lesen laut Statista mehrmals in der Woche eine Zeitung. Je jünger, umso weniger.
Für Springer Konzernchef Mathias Döpfner hat die gedruckte Zeitung “keine Zukunft mehr”. Die “Bild”-Zeitung sei mittlerweile unter eine Million Auflage gefallen, sagte er im März dieses Jahres. Der Bund Deutscher Zeitungsverleger sieht die Zukunft der Lokalzeitung ebenfalls bedrohlich. Lokalzeitungen, so der BDZV im vergangenen Jahr, werden in 40 % aller Kommunen in fünf Jahren nicht mehr wirtschaftlich sein. In 4.400 Gemeinden drohe das Sterben der Lokalzeitungen. 2014 seien sie noch in allen 11.000 deutschen Gemeinden betriebswirtschaftlich zustellbar gewesen. In diesem Jahr in 720 Gemeinden nicht mehr. Bis 2025, schätzt der BDZV, betreffe der Versorgungsengpass 4.400 Kommunen, also 40 % aller Städte und Gemeinden. Eine Situation, die zu existenzbedrohenden Abo-Verlusten führen wird.
Die aktuellen Gründe für den Auflagenverlust sind vielschichtig. Zu guten Zeiten konnte sich die Tageszeitung noch zu zwei Dritteln aus Anzeigen, also Werbeeinnahmen, finanzieren. Dieser Wert liegt aktuell teilweise deutlich unter 40 %. Folge: Die Abo- und Einzelverkaufspreise werden kontinuierlich erhöht. Eine finanzielle Todesspirale, da als Reaktion Abonnenten kündigen, der Einzelverkauf weiter schwindet. Der Niedergang der Lokalzeitungen beschleunigt sich. Die Auflagen werden Ende dieses Jahrzehnts so niedrig sein, dass eine wirtschaftliche Basis nicht mehr vorhanden ist. Eine überlebenswichtige staatliche, staatsferne Förderung (Beispiel: Skandinavische Staaten) ist nicht zu erwarten. Politik, aber auch Journalisten- und Verlegerverbände haben fahrlässig und verantwortungslos dieses Thema nicht öffentlich gepuscht. Für eine staatsferne finanzielle Förderung ist es jetzt zu spät.
Wer soll die Politik kontrollieren?
Die inflationäre wirtschaftliche Situation der Privathaushalte beschleunigt den Auflagenverlust. Um Geld zu sparen, wird zuerst das Zeitungsabo gekündigt, Zeitungen werden weniger häufig im Einzelverkauf erworben. Auf Seiten der Verlage sind u.a. Preissteigerung für Papier und Energie erhebliche Kostentreiber, aber auch der steigende Mindestlohn für Zusteller*innen sowie turnusmäßige Tariferhöhungen. Zusätzlich wird es immer schwieriger, Zusteller*innen zu finden, die zu morgendlicher Stunde die Lokalzeitung verteilen. Ist sie aber nicht zu morgendlicher Stunde zugestellt, folgen weitere Abo-Kündigungen. Wie sollen künftig Menschen in Städten, Landkreisen und Gemeinden kommunalpolitische Informationen erhalten? Auf welcher Informationsbasis ihre Wahlentscheidungen treffen? Wer soll Politik und Verwaltung kontrollieren?
Das stetig zunehmende Desinteresse an politischen Prozessen, Entscheidungen, vor allem an der Kommunalpolitik, ist ein weiterer Grund für den Auflagenverlust. Eine dramatische Entwicklung, die schon seit Jahren in abnehmenden Berichten über kommunalpolitische Themen und ausgedünnten lokalen Berichten deutlich wird. Die Universität Bielefeld stellte 2022 in einer Studie u.a. fest, dass 75,8 % der Jugendlichen den Zeitungen misstrauen, 71,6 % misstrauen Journalisten*innen und 32,8 % glauben, dass Medien nur ihre eigene Meinung verbreiten. Die Medienkompetenz fehlt, um die Arbeit der seriösen Medien zu werten, von unseriösen Medien zu unterscheiden. Die schnelle, kostenlose, allerdings oberflächliche Headline-Info über Social-Media, egal ob seriös oder nicht, ist einfacher, reicht vielen.
Das Sterben vieler Lokalzeitungen begann Anfang unseres Jahrtausends. Es führte zu einem Rückgang der medialen Vielfalt in den Berichten, da wirtschaftlich stärkere Verlage notleidende Lokalzeitungen aufkauften. Folge: Lokale Berichte wurden und werden zunehmend ausgedünnt, Meinungsvielfalt negiert. Die Zahl festangestellter Journalisten*innen in den Redaktionen verringerte sich ständig. Waren es im Jahr 2000 noch 15.300, dürfte die Zahl aktuell unter 10.000 liegen. Tendenz sinkend. Auswirkungen: Immer mehr Einheitsbrei in der Berichterstattung, also Vielfaltsverlust. Immer mehr Agenturmeldungen, Informationen aus Pressemitteilungen, Schreibtischjournalismus, zusätzlich, bedingt durch immer weniger Journalisten*innen, ein zunehmender Qualitätsverlust.
E-Paper die Alternative?
Der Bund Deutscher Zeitungsverleger verkündete im vergangenen Jahr nach einer eigenen Studie freudig, dass die Steigerungsrate von E-Paper im Vergleich zum Vorjahr um 16,6 % betrug. Erfreulich: Zwei Drittel (65,8 %) der Digitalleser*innen sind unter 50 Jahre alt. Nachdenklich macht: 65 % davon haben einen höheren Bildungsabschluss, sind voll berufstätig. E-Paper-Nutzer verdienen zu 43 % über 3.000 Euro netto im Monat, jede*r fünfte mehr als 4.000 Euro Haushaltsnettoeinkommen. E-Paper – nur etwas für Besserverdienende?
Die Steigerung der E-Paper-Zahlen ist kein Grund zum Jubeln. Die realistische Analyse der Zahlen zeigt ein anderes Bild, lässt die Jubelarien schnell verstummen. Die Auflage der Tageszeitungen lag im Jahr 2000 noch bei 24,1 Millionen, Ende 2022 betrug sie nur noch 11,4 Millionen (ohne E-Paper). Mittlerweile werden die E-Paper-Verkäufe dazugerechnet, um das Gesamtbild zu schönen. Die E-Paper-Nutzung im Bereich der Tageszeitungen, ohne Komplettabonnement Print und E-Paper, lag im 1. Quartal 2023 bei nur 2,19 Millionen. E-Paper kompensiert nur vorübergehend den Auflagenverlust. Die Zahlen beweisen, wer sein Printabonnement kündigt, abonniert nicht automatisch dafür die E-Paper-Ausgabe. E-Paper wird den Abwärtstrend des Zeitungssterbens nicht aufhalten. Auch andere Paywall-Modelle wie “Freemium” oder “Metered” sind keine finanzielle Alternative. In absehbarer Zukunft werden nur noch der öffentlich-rechtliche und private Rundfunk, freie, seriöse Onlinezeitungen, Blogs und bedingt Influencer, Mittler politischer Themen sein. In einigen Bundesländern vielleicht noch der nichtkommerzielle Rundfunk. Letztere, oft durch finanzielle Zuschüsse der Kommunen, dann staatsnahe, unkritische Medien. Das zeigen die Beobachtungen kommunal gesponserter Sender.
Alternativen für die Kommunen
Für die Information von Seiten der Kommunen stellt sich die Frage, welche Kommunikationskanäle künftig Einwohner*innen erreichen. Der Bundesgerichtshof wertete im vergangenen Jahr kommunale Öffentlichkeitsarbeit als “Pflicht zur Information”. “Städte müssen zeitgemäß digital kommunizieren”, stellte der BGH im vergangenen Jahr im Hinblick auf moderne Kommunikationskanäle fest. Nur so würden sie der Erwartung der Bürgerinnen und Bürger nach Transparenz der Arbeit von Verwaltungen gerecht und ermöglichten den Dialog über die Politik der Städte. Social Media ist mittlerweile das meistgenutzte Angebot der Information. Aber auch Newsletter, kommunale Apps, die eigene Homepage, die eigene Stadtzeitung, LED-Wände im Stadtbild etc., werden unverzichtbar im Mix für die kommunale Informationsarbeit. Doch Vorsicht. Es sind immer staatsnahe, also in eigener Regie betriebene subjektive Medien. Kommunale Informationsplattformen sind keine objektiven Medien im Sinne einer funktionierenden Demokratie. Sie sind PR-Instrumente. Gefährlich dann, wenn sie zum Spielball rechts- oder linksextremer Parteien werden. Kommunen ohne objektive lokale Informationen sind der Willkür der Informationen ausgesetzt. Als Keimzelle demokratischer Abläufe werden sie künftig ihren Anspruch verlieren.
Zum Autor:
Michael Konken lehrt Journalismus, Politik und Öffentlichkeit an der Universität Vechta und beschäftigt sich wissenschaftlich mit der Stadt- und Regionalkommunikation. Er war von 2003 bis 2015 Bundesvorsitzender des Deutschen Journalisten-Verbandes und acht Jahre Mitglied im ZDF-Fernsehrat.