“Rapper:innen sind die Popstars von heute” – Simon Vogt über Deutschrap zwischen Kunst und Kommerzialisierung.
22. März 2024
Realtalk: Dass Marken Rap-Stars als Botschafter für sich entdecken, ist “nur logisch” angesichts ihrer “unglaublichen Reichweite”, sagt Simon Vogt. Der Host des Video-Formats Deutschrap Ideal rät zur Vorsicht bei pauschalen Urteilen über das Genre, weil Artists “teilweise meilenweit voneinander entfernt” sind. Das bedeutet nicht, dass es keine strukturelle Benachteiligung gibt: “Es ist immer noch ein Kampf, als Frau in der Rap-Industrie Fuß zu fassen.” Im Interview erklärt Vogt zudem, wie er mit Befindlichkeiten der Artists umgeht, warum Rapper und Rapperinnen nicht bloß Content-Creator sind und was der Sektempfang im Opernhaus mit Hip-Hop gemeinsam hat.
Mit Deutschrapper Apache 207 schafft sogar Udo Lindenberg nach 50 Jahren im Geschäft seine erste Nummer-Eins-Single. Deutschrap kommt in den letzten Jahren so massentauglich daher wie nie zuvor. Woran liegt das?
Da gibt es viele komplexe Gründe: Einer davon ist, dass Hip-Hop wohl die aktuell größte Jugendkultur ist, die nicht mehr nur der Nebendarsteller ist, sondern den Mainstream bestimmt. Hip-Hop ist ja größer als Musik. Deutschrap ist ein Teil davon, der dadurch immer mehr Aufmerksamkeit und Reichweite bekommt. Was früher der Traum vom Fußballer war, ist jetzt auch der Traum vom Deutschrapper. Man braucht nicht viel mehr als die eigene Stimme. Das ist anders als bei Operngesang oder im Rock. Du kannst dich mit weniger Vorwissen im Deutschrap ausprobieren. Beim Rappen gehört natürlich auch einiges an Fähigkeiten dazu, aber die Spanne dessen, was akzeptiert wird, ist vielleicht etwas breiter.
Früher waren Magazin-Marken wie “Juice” und “Backspin” wichtige Stimmen der Hip-Hop-Kultur in Deutschland. Heute sind sie tot. Ist die Hip-Hop-Zielgruppe zu jung, um Papier zu kaufen?
Es geht ja leider auch anderen Printmedien so. Da ist einiges weggebrochen. “Juice” oder auch die “Backspin” waren einer der Türöffner. “Juice” hat den Schritt leider nicht geschafft. Nichtsdestoweniger ist sie einer der Vorreiter. In der Redaktion haben wir noch einen Karton mit etwa 40, 50 alten “Juice” liegen, weil das natürlich einfach Kulturgut ist.
Ich habe immer mal wieder gelesen, dass einzelne Protagonisten der Szene mit kritischen Berichten weniger gut umgehen. Hast du auch solche Erfahrungen gemacht?
Grundsätzlich gibt es natürlich immer Menschen, die mit Kritik in jeglicher Form nicht so gut klarkommen. Da sind Rapper:innen auch nicht vor gefeit, aber das gibt es auch im Sport, in Redaktionen oder in der Politik. Es ist immer auch die Frage, wie die Kritik geäußert wird. Wer zu uns kommt weiß, dass auch kritische Fragen gestellt werden. Aber es geht um ein Gespür und ein Verständnis für die Lebensrealität des Gegenübers. Bist du respektvoll, kann die Person ganz anders mit Kritik umgehen. Außerdem ist die Musik den Artists immer sehr nah, sie kommt ja aus ihnen heraus. Da darf Kritik auch etwas feinfühliger sein. Und bei Rap darf man nicht vergessen: Viele der Künstler:innen waren immer der Underdog, sind eh viel kritisiert worden und haben nie dazu gehört. Das ist ihre Sozialisation. Leider ist meine Erfahrung, dass heutzutage Rap und Hip-Hop immer noch nicht richtig verstanden werden. Kritik kommt häufig von Stimmen, die der Kultur nicht nahe stehen, und das macht es schwieriger, diese anzunehmen.
Simon Vogt ist Host des Formats “Deutschrap Ideal” vom Hessischen Rundfunk. Der gebürtige Frankfurter studiert zunächst in seiner Heimatstadt Erwachsenenbildung und arbeitet ab 2013 als Planungs- und Event-Redakteur beim HR. Dort wird er 2019 Host einer wöchentlichen Radioshow, aus der sich “Deutschrap Ideal” entwickelt. Ab 2021 moderiert er für den HR auch im Fernsehen, im Folgejahr stößt er auch zum YouTube-Livetalk “Arte Saloon”.
Dazu passt, dass du als Interviewer auf mich eher zugewandt wirkst und eher von außen genannte Kritik aufnimmst. Muss man so “nett” mit Rap-Artists umgehen?
Ich maße mir jetzt nicht an, einen Leitfaden zu erstellen. Ich bin damit bislang gut gefahren. Mein Gegenüber kann sich immer sicher sein, dass ich mich intensiv mit ihm beschäftigt habe. Das merkt er schon am Intro, das direkt signalisiert: Ich bin in der Welt des Gastes und schaue auf seine Lebensrealität. Und ich sehe mich als Interviewer nicht in der Rolle, meine persönlichen Kritikpunkte unbedingt unterbringen zu müssen. Wir bieten ja eine Plattform, agieren als Bindeglied zwischen den Artists und der Community. Und ein großes Ziel von uns ist, dass wir mit Vorurteilen und Klischees aufräumen wollen. Wir wollen da differenzierter draufschauen und zeigen, dass die Dinge vielschichtiger sind, als sie von außen vielleicht erscheinen.
Lifestyle- und Consumer-Marken haben Deutschrap für sich entdeckt. Es gibt sogar eine auf Hip-Hop-Kultur spezialisierte Agentur. Warum finden Marken Rap-Stars jetzt als Botschafter?
Die haben eine unglaubliche Reichweite. Das ist für Unternehmen und Marken ein Jackpot, wenn sie so jemanden für sich gewinnen. Man kennt es von den großen Popstars – und Rapper:innen sind die Popstars von heute: Sie sind sehr nah an einer Zielgruppe, die sehr kaufkräftig ist. Es ist nur logisch, dass durch die Größe und Popularität von Hip-Hop immer mehr Kommerzialisierung entsteht. Das ist in der kapitalistischen Gesellschaft, in der wir leben, unumgänglich. Und es wäre ja Quatsch, die Chancen liegen zu lassen. Genauso sind viele Artists auch abseits der Musik geschäftstüchtig, auch wenn da in der Regel ein Team hinter steht. Die bauen sich selbst und ihre Marke immer mehr zu einem Unternehmen aus. RAF Camora schafft das zum Beispiel sehr gut. Es gibt aber auch ganz viele andere, die teils weniger öffentlichkeitswirksam unterwegs sind. Manchmal weiß man gar nicht, dass die Person auch noch zig Immobilien besitzt. Es kann auch künstlerisch sinnvoll sein, einen Geschäftszweig zu betreten, der zu einem passt und der nicht nur gutes Geld bedeutet.
Aber die Leute bewerben ja nicht nur um der Kunst willen irgendwelche Eistees.
Natürlich gibt es das auch anders: Es werden teils horrende Summen dafür gezahlt, dass man mit seiner Reichweite etwas in die Kamera hält, darüber redet, es im Video platziert oder in einem Song nennt. Ich weiß gar nicht, wie viele Placement-Möglichkeiten es da gibt. Wenn fünf- oder sechsstellige Summen winken, sagt vielleicht auch mal jemand: “Okay, finde ich persönlich nicht so ideal, aber die sechsstellige Summe finde ich sehr interessant.” Grundsätzlich würde ich schon behaupten, dass der Großteil schaut, dass Werbedeals zu ihnen passen. Content-Creator-Marketing ist natürlich ein großes Thema.
Sind Rapper und Rapperinnen am Ende dann “nur” Content-Creator mit Fans und ihr Content ist halt Musik?
Das greift viel zu kurz. Das ist wie bei anderen Popstars auch. Früher war Britney Spears in der Pepsi-Werbung. Im Endeffekt sind die Leute dann Markenbotschafter und machen trotzdem ihre Musik. Es gibt natürlich auch Musiker:innen, vermehrt die jüngere Generation, die das Content-Creating zusätzlich macht. Die bringen auf Social Media noch ihren privaten Content, weil sie einfach coole, lustige Leute sind. Und das funktioniert auch super, sobald die Community das Gefühl hat, dass diese eigentlich unerreichbaren Menschen aus ihrer Streaming-Playlist nahbar sind und sie erfahren, wie die ticken und was einen Artist in seinem Leben beschäftigt. Ob es dann am Ende so ist, wie es dort dargestellt wird, sei mal dahingestellt. Für die Artists ist das auf der anderen Seite aber auch interessant, weil die Community der Grund ist, warum sie Musik machen können. Wer das aus Leidenschaft macht, würde oft auch weitermachen, wenn nur drei Leute zuhören würden. Aber es gibt ja nichts Schöneres, als wenn die Musik so viele Leute erreicht wie möglich. Gerade dafür reicht es in der Regel aber nicht mehr, nur gute Musik zu veröffentlichen, weil der Markt unfassbar voll ist. Daher ist es meist sinnvoll, auch die anderen Tools zu benutzen, und das nicht nur, um den nächsten Creator-Deal an Land zu ziehen. Ein gesunder Austausch mit der Community kann dich sogar künstlerisch inspirieren.
Deutschrap Ideal startet 2019 beim HR-Sender You FM als wöchentliche Hip-Hop-Radioshow mit Host Simon Vogt und Gästen unter dem Namen “You FM feat. Flex FM”. Videomitschnitte der Interviews landen auf dem YouTube-Kanal. Mitte 2021 folgt das Rebranding mit Bewegtbildschwerpunkt als “Deutschrap Ideal”. Neben YouTube bespielt die Sendung auch die Mediathek, Instagram sowie mittlerweile auch TikTok und wird auf den jungen ARD-Radiosendern ausgewertet. Es folgen zusätzliche Formate wie “385i x Deutschrap ideal” mit dem Rapduo Celo & Abdi auf Twitch oder “Rapstories” mit dem Deutschrap-Influencer Mr Rap.
Wir Journalisten können häufig nur dann mit interessanten Menschen sprechen, wenn diese ein konkretes Kommunikationsbedürfnis haben. Bei “Deutschrap Ideal” geht es den Gästen um Album- und Tour-Promo. Wie kitzelst du da mehr heraus?
Ich sage jedem Artist, der kommt, dass wir versuchen, die Person hinter der Kunst zu beleuchten, weil das meiner Ansicht nach der Schlüssel ist, um Leute zu erreichen. Dass man auf Tour geht und ein Album releast, ist schnell erzählt und das ist eh schon auf allen Kanälen angekündigt. Interessanter sind ja Fragen wie: Ich bin über diese eine Zeile in dem Song gestolpert, was hast du eigentlich damit gemeint? Ging es dir gut in der Album-Phase. Wie bist du eigentlich groß geworden? Was hat dich geprägt? Was ist wichtig für dich? Und dann will ich auf Augenhöhe Wohlfühlatmosphäre schaffen. Man muss das Gefühl haben, dass ich wirklich ehrlich und offen interessiert bin an der Person und der Kunst. Das bin ich tatsächlich bei jedem erstmal und das ist der Schlüssel dazu, die Leute abzuholen – sowohl Fans, als auch Publikum, das bislang vielleicht noch nicht so viel mit dem Gast zu tun hatte. Wenn dann die Musik noch überzeugt, kann man bestenfalls auch wieder mit Vorurteilen aufräumen und Brücken schlagen zwischen Leuten, die Hip-Hop noch nicht für sich entdeckt haben, und denjenigen, die das wie ich seit Kindertagen verinnerlicht haben.
Wie viel geht es euch um die Kunst der Musik und wie viel um die Soap-Elemente der Rap-Szene? Muss man Freundschaften, Streits und Disstracks ansprechen, um Aufmerksamkeit für den Channel zu generieren?
Uns macht die journalistische Tiefe aus, die wir in jedes Interview reingeben mit dem gesamten Team. Wir agieren anders als andere Interview-Plattformen und versuchen journalistisch sauber, informativ und unterhaltsam das Interview zu führen. Für eine Beef-Historie oder Ähnliches gibt es andere Plattformen, die das ausschlachten und das können sie auch gerne machen. Sowas ist teilweise auch inszeniert. Wir gehen da in der Regel nicht viel drauf ein. Wenn die Faktenlage nicht ersichtlich ist, dann kann man mal nachfragen, aber unser Fokus ist nie, mehr Öl ins Feuer zu gießen, sondern Verständnis zu erreichen. Wir hatten gerade den Künstler Bojan zu Gast, der nach einem Streit mit seinem Kollegen Zuna jetzt einen gemeinsamen Song releast hat. Da haben wir natürlich nachgefragt, da ist Musik entstanden und das ist wieder eine gute Geschichte. Wenn solche Geschichten einen größeren Aufschlag in der Community hatten oder im Hip-Hop an sich, gehen wir darauf mit unserem anderen Format “Rap Stories” ein. Das hostet der Influencer Mr Rap. Aber auch da recherchieren wir so, wie wir es auch in Interviews machen.
Warum müssen die Öffentlich-Rechtlichen so ein Format machen?
Das Ziel von öffentlich-rechtlichen Angeboten ist, alle Menschen zu erreichen. Grade deshalb ist auch ein Format wie Deutschrap ideal eine Chance einer sehr bedeutsamen zum Teil migrantisch geprägten jungen Zielgruppe ein Angebot zu machen, dass auf ihre Bedürfnisse einzahlt und das es vor uns noch nicht so ausgeprägt im öffentlich-rechtlichen Kosmos gab. Unsere Community findet sich in den Themen wieder, die unsere Interview-Gäste in ihrer Musik thematisieren oder die sie in ihrem Leben bewegen. Teilweise sind Nutzer*innen, die uns zum ersten Mal sehen, auch ganz überrascht, wenn sie erfahren, dass Deutschrap Ideal ein öffentlich-rechtliches Format ist. Auch hier können wir wieder Brücken schlagen und helfen Vorurteile abzubauen, um miteinander statt übereinander zu sprechen.
Wie steht es im Deutschrap um das Frauenbild?
Hip-Hop ist sehr direkt und nimmt kein Blatt vor den Mund. Da werden Formulierungen gewählt, die man bei einem Sektempfang im Opernhaus nicht so bringen würde. Dafür reden die Leute vom Sektempfang vielleicht zu Hause so. Rap ist auch Spiegel der Gesellschaft, deswegen muss man das Frauenbild in der Musik und in der Gesellschaft immer gleichzeitig hinterfragen. Ich finde, das Frauenbild in der Gesellschaft ist auch noch nicht da, wo es sein sollte. Genauso ist es im Rap, auch wenn wir Schritte vorangehen. Natürlich muss Rap sich aber auch Fragen stellen lassen. Vielleicht muss man ja zum Beispiel keine Erniedrigungsform wählen, um eine coole Punchline zu machen.
Also gibt es im Deutschrap schon eine Tendenz zur Frauenfeindlichkeit?
Es werden immer gern Pauschalisierungen gemacht. Dabei ist Deutschrap so unterschiedlich. Wie im Pop oder Metal gibt es so viele ausdifferenzierte Spielarten. Es gibt Farid Bang, OG Keemo, Casper, Finch, Nina Chuba oder Juju. Alle bedienen andere Sparten und sind teilweise meilenweit voneinander entfernt. Disarstar macht zum Beispiel stark politischen Rap mit Aussage, der trotzdem unterhaltsam ist und auf einem sehr hohen Skill-Level stattfindet. Deswegen muss man etwas vorsichtig sein, wenn man allgemein über Deutschrap und Hip-Hop spricht. Ich hole da gern etwas weiter aus, weil man zum Beispiel nicht pauschal sagen kann: Deutschrap ist frauenfeindlich.
Und wie steht es um Frauen als Rapperinnen?
Bei Präsenz und Sichtbarkeit ist definitiv noch Luft nach oben. Aber es ist schön zu sehen, dass es immer mehr Frauen gibt, die aktiv werden. Es gibt da eine gewisse Schwelle der Sichtbarkeit, da geht es ja teils leider um Zahlen und um die Chart-Platzierung. Viele tauchen noch nicht da auf, wo Juju, Katja Krasavice, Elif oder Paula Hartmann stattfinden. Es gibt zudem ein sehr falsches Bild in den Köpfen, demzufolge Frauen sich zwangsläufig Hilfe bei der Kunst holen, weil sie es nicht allein können. Dabei wird auch männlichen Kollegen zugearbeitet, darüber wird nur nicht so geredet. Es ist immer noch ein Kampf als Frau in der Rap-Industrie Fuß zu fassen. Man muss doppelt so viel arbeiten, doppelt so viel leisten und wird härter kritisiert. Auch bei der Unterstützung untereinander ist meinem Empfinden nach noch Luft nach oben. Aber besser ist es definitiv geworden. Natürlich ist nicht jede rappende Frau auch eine gute Rapperin, aber das ist bei den männlichen Kollegen ganz genau so. Jeder kann sich ausprobieren und bestenfalls wird dann die bessere Musik überzeugen. Schön wäre eh, wenn wir an den Punkt kommen, wo wir gar nicht mehr unterscheiden zwischen Female Rap und anderem Rap und es auch egal ist, ob jemand halb angezogen oder zugeknöpft ist.
Wie entwickelt sich Deutschrap weiter? Steigt die Relevanz noch oder ist der Peak schon erreicht oder überschritten?
Ob der Peak erreicht ist, ist eine Definitionsfrage. Es gibt heute immer mehr Artists und immer mehr Sichtbarkeit für Deutschrap und Hip-Hop als Ganzes. Ob die Musik heute hohe Qualitätskriterien erfüllt, ist am Ende persönlicher Geschmack. Jeden Freitag kommen über hundert Songs raus, natürlich sind die nicht alle gut in meinen Augen. Ich würde behaupten, der Hype war schon mal intensiver. Um 2018 herum ging es gefühlt völlig durch die Decke und war überall. Als das Album “Palmen aus Plastik” das erste Mal kam, Miami Yacine mit “Kokaina” und auch Apache 207 seinen ersten Hit hatte. Das ist gefühlt gerade nicht mehr so stark. Aber es kann sein, dass sich die Szene kurz ausruht, um dann wieder Gas zu geben. Sicher kann ich nur sagen: Deutschrap wird auf jeden Fall bleiben und nicht wieder weggehen.