turi2 edition #14: Leeroy Matata über Schubladen und Spaghetti.
29. Mai 2021
Ballwechsel:Leeroy Matata hört als Leistungssportler auf, um Menschen Fragen zu stellen, die ihn selbst interessieren. In seinen YouTube-Videos spricht er mal mit Teenie-Müttern, mal mit Ex-Nazis. Immer wieder geht es um schwere Schicksale, um Krankheiten und den Tod. Die Clips werden millionenfach geklickt. Was will er damit bezwecken? “Vorurteile aus der Welt räumen”, sagt Matata im Interview mit Elisabeth Neuhaus für die turi2 edition #14. Hier das E-Paper mit allen Interviews kostenlos lesen.
Leeroy, ist YouTube-Star ein Beruf?
Ich bin kein YouTube-Star. Zumindest sehe ich mich nicht als einer. Ich möchte ungern Fans haben, weil ich finde, dass dann kein Austausch auf Augenhöhe möglich ist. Fans gucken immer hoch, was in meinem Fall schon mal gar keinen Sinn ergibt. Was ich mache, ist aber auf jeden Fall ein Beruf, ja.
Bist du Journalist?
Klar. Ist das denn ein geschützter Titel? Muss man irgendeine Prüfung ablegen, um sich so nennen zu dürfen?
Nein.
Dann nenn mich bitte einen kleinen Journalisten.
Was willst du mit deinen Videos erreichen?
Ich will mit meiner Reichweite etwas Positives anstoßen. Über manche Themen, Krankheiten zum Beispiel, wird in der Gesellschaft gar nicht gesprochen, über manche falsch. Ich lasse die Leute zu Wort kommen, die diese Themen tagtäglich selbst erleben. Das kann dabei helfen, Vorurteile aus der Welt zu räumen.
Welche Qualifikationen bringst du für deinen Job mit? Ein ausgebildeter Interviewer bist du ja nicht.
Inzwischen kann ich sagen, dass es viel mit Empathie zu tun hat und damit, Bock auf Menschen zu haben. Es gibt Leute, die wenig Lust haben, andere Menschen zu treffen. Zu denen zähle ich gar nicht. Im Gegenteil. Es ist das Bereicherndste überhaupt an der Arbeit, egoistisch gesehen, dass ich so viele verschiedene Menschen kennenlernen darf und so viel von ihnen lernen kann. Eine andere wichtige Fähigkeit von mir ist sicher, dass ich nicht urteile. Ich kann mir eine Meinung sehr gut anhören und versuchen, sie zu verstehen, ohne voreingenommen zu sein. Ich würde sagen, dass ich das manchen Menschen voraus habe.
Anderen Journalistinnen zum Beispiel?
Das ist erstmal nichts Verwerfliches. Es ist ja eine gängige Praxis im Journalismus, Beiträge schon vor einem Interview redaktionell komplett durchzustrukturieren, einen roten Faden zu haben. Den musst du gerade auch im Kopf haben, sonst haut dir dein Chef später auf den Kopf. Ich habe in dieser Form halt keinen Chef. Nie gehabt, will ich auch nicht. Deshalb stelle ich meine Fragen so, wie ich gerade Bock habe. Das merken die Zuschauerinnen. Und es macht ihnen Spaß, mir dabei zuzugucken.
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Heißt das, du bereitest dich überhaupt nicht auf Interviews vor?
Nein. Mir persönlich wäre nach einem Vorgespräch schon langweilig, da bin ich ehrlich. Dann würde ich mir später eine Geschichte anhören, die ich mir im Kopf schon zusammen gebastelt habe. Lieber treffe ich eine Person und lasse mir ihre Geschichte zum ersten Mal richtig erzählen. Nur so kann ich die ehrlichen Fragen stellen. Wenn ich irgendwo nachhake, ist das vielleicht genau der Punkt, an dem eine Zuschauerin zu Hause auch nachhaken würde. Vor einem Treffen weiß ich Namen und Alter meines Gegenübers und das Thema. Das war’s.
Bist du privat genauso neugierig?
So eine kleine Krankheit habe ich wirklich. Mir macht das Spaß. Ich mag es, Fragen zu stellen. Das passiert ganz automatisch.
Siehst du dich als Vorbild?
Auf jeden Fall. Wenn man so viele Menschen erreicht wie ich, kann man sich davon gar nicht losmachen. Das bringt eine große Verantwortung mit sich. Die hat man schon im Kleinen, das vergessen viele. Wenn dir 300 Menschen auf Instagram folgen, hast du auch eine Vorbildfunktion. Mir ist bewusst, dass ich mit einem Fehltritt viele Menschen in eine falsche Richtung bewegen kann. In jedem Wort, das ich sage, schwingt das mit. Deshalb ist zum Beispiel öffentlicher politischer Diskurs für mich ein Thema, auf das ich keinen Bock habe. Da soll sich jeder seine Meinung bilden. Ich selbst will nur über meine Werte sprechen.
Wir können von dir also kein Zerstörer-Video wie von deinem Kollegen Rezo erwarten?
Ich fand das bei Rezo nicht verkehrt, gar nicht. Sein Video ist in meinen Augen aber keine Meinungsmache. Der Titel ist sehr drastisch, ja. Aber er weist darin auf ein grundsätzliches Problem hin. Ich motiviere alle Leute dazu, am politischen Diskurs teilzunehmen, wählen zu gehen. Ich bin aber niemand, der sagt: “Freunde, das ist die richtige Partei zur kommenden Bundestagswahl.” Das ist nicht mein Job. Ich habe meine Werte, die decken sich mit manchen Parteien mehr, mit manchen weniger.
Welche Werte sind das?
Für mich ist ganz wichtig, dass wir eine Gleichberechtigung erreichen. Zwischen Mann und Frau, aber auch zwischen Menschen mit Handicap und ohne. Ich finde, der Kampf gegen Diskriminierung und Rassismus ist immer noch elementar. Was sich da in den letzten Jahren in eine falsche Richtung bewegt hat, müssen wir mindestens doppelt so schnell wieder zurückdrehen. Ich werbe auch für das Akzeptieren anderer Meinungen, Sichtweisen und Lebensweisen. Ich will durch meine Videos zeigen, dass es nicht so smart ist, in Schubladen zu denken. Und doppelt nicht smart, Leute, die gar nicht in einer Schublade sein wollen, darin zu halten und die Schublade zuzudrücken. Das wünscht sich keiner.
Du bist also auch ein Influencer.
Natürlich.
Wie krass müssen Inhalte auf Social Media sein, damit junge Leute zuhören?
Krass ist gar nicht das Motto. Wir haben schon so viele Themen behandelt, die Hunderttausende oder Millionen von Menschen erreicht haben, bei denen man beim Titel gar nicht sagen würde: “Boah ey, wo gibt‘s denn sowas?” Wenn wir über Depressionen berichten, würde eingangs auch keiner denken: “Krass!” Dennoch ist es wichtig. Schon die Bewertung, ab wann ein Thema “heftig” ist, gehört für mich in dieses Schubladendenken. Mein Learning ist: Du kannst durch die Schildergasse hier in Köln laufen und eine beliebige Person rauspicken. Die könnte dir eine Geschichte aus ihrem Leben erzählen, die du dir drei Stunden einfach nur anhören könntest und bei der du baff wärst. Die muss nicht traurig sein, auch nicht scheiße. Sie kann auch wunderschön sein.
Macht dein Team Faktenchecks zu dem, was dir die Leute in den Videos erzählen?
Wir bereiten das Format redaktionell nach. Dementsprechend sind die Dinge, die am Ende online erscheinen, zu 100 Prozent bestätigt. Wir checken: War es wirklich nur ein Handy, das geklaut wurde? Hat er wirklich im Gefängnis gesessen? Falschaussagen würden wir so nicht veröffentlichen.
Ihr trennt also zwischen Meinungen und Behauptungen, um Fakten nach einem Dreh überprüfen zu können?
Klar. In 95 von 100 Videos geht es aber um eigene Erfahrungen, Lebensweisen und Erlebnisse. Bei dem Video mit Alex, der angeschossen wurde, ist aus meiner Sicht entscheidend, dass ich den Menschen treffe, der die Kugeln abbekommen hat. Und wenn der mir erzählt, dass er eine Gesichtshälfte nicht mehr spürt, dann muss mir das kein Arzt bestätigen. Das ist ein Moment, den man so stehen lassen kann. Sein Bein wurde zertrümmert und er allein weiß, wie es sich angefühlt hat, vor der Polizei wegzurennen. Das kann er mir erzählen. Dann bin ich einfach gespannt und höre gerne zu. Bei allem anderen kann ich kein Richter sein.
Manche Leute würden das, was ihr macht, vielleicht Betroffenheitsjournalismus nennen. Ihr beleuchtet immer nur eine Seite, auch bei Straftäterinnen.
Bei rechtlich kritischen Themen fragen wir natürlich auch die Gegenseite. Wenn es da ein Statement gibt, bauen wir das mit ein. Wenn Polizei oder Staatsanwaltschaft keinen Bock darauf haben, kann ich sie aber auch nicht dazu zwingen. Wir sind eben nicht “RTL aktuell”. Du darfst einfach nicht überall auftreten als Kriminalkommissarin. Ich denke, was auf YouTube seriös ist, ist für die vielleicht noch schwer zu durchschauen. Klar, es gibt immer zwei Seiten einer Geschichte. Im Video mit Alex, der angeschossen wurde, wird dir auffallen, dass ich mehrfach sage: “Hey, hier wird eine Seite gezeigt.”
Welche Begegnung ist dir am meisten in Erinnerung geblieben?
Ein Video, das mich wahrscheinlich nie wieder loslassen wird, ist das mit Josi. Sie war magersüchtig und ist vor der Veröffentlichung des Videos gestorben. Das ist krass. Aber auch daraus haben wir so viel Neues gelernt. Überleg mal, das Video mit ihr und das mit ihren Eltern haben insgesamt acht Millionen Menschen gesehen. Es ist Wahnsinn, wie viel Aufmerksamkeit da für ein Thema geschaffen wurde. Diese acht Millionen Menschen werden nicht mehr Späßchen machen und sagen: “Guck mal, die ist voll magersüchtig!” Das spart man sich, wenn man so etwas gesehen hat.
Wen willst du unbedingt noch vor die Kamera holen?
Ich würde am allerliebsten mal eine Überlebende aus einem Konzentrationslager treffen. Das ist ein Projekt, an dem wir schon sehr lange dran sind. Was natürlich alles andere als leicht ist…
…und mit der Zeit immer schwieriger wird.
Du sagst es. Ich will in diese Richtung aufklären. In meiner Generation gibt es dazu viel Unwissen. Da wird teilweise so viel aus dem Kontext gerissen oder verdreht. Ich könnte natürlich versuchen, das selbst aufzubereiten. Aber wenn jemand erzählt, wie es damals wirklich war, dann kann auch die letzte Zuschauerin vor dem Bildschirm nicht mehr sagen, dass sie das nicht interessiert.
Matata auf dem Basketballplatz am Rheinufer in Köln-Deutz. Nach einer Basketball-Pause trainiert er inzwischen wieder.
Wärst du heute immer noch Profi-Basketballer, wenn YouTube nicht dazwischen gekommen wäre?
Ich glaube, ich hätte das Ganze auch so ein bisschen zurückgeschraubt. Aber ich wäre noch auf einem hohen Level dabei, da bin ich mir sicher. Vielleicht hätte ich parallel meinen Bachelor gemacht.
Wann hast du gesagt: So, ab jetzt nur noch YouTube?
Mein Bruder und ich haben das zur Abi-Zeit ausprobiert, ganz unregelmäßig. Das war ein Hobby, das immer größer wurde. Ich habe gemerkt, wie viel mir das gibt, Gespräche zu führen, bin aber immer wieder in zeitliche Konflikte geraten, denn eigentlich ging es immer nur, nur, nur um Basketball. “Ball is life”, sagt man unter Spielern. Mit den Videos hat das irgendwann nicht mehr gematcht. Ich hatte damals die Chance, mich mit einer sehr erfolgreichen Rollstuhlbasketballerin zu unterhalten, die ihre Karriere gerade beendet hatte. Sie sagte mir, dass sie wahrscheinlich einiges anders machen würde, wenn sie die Zeit zurückdrehen könnte. Sie hatte 15 Jahre jedes Wochenende nur Turnhallen von innen gesehen. Das hat mich dabei unterstützt, meinen größten Lebensinhalt, den Sport, komplett aufzugeben. Das ist meine Lebenseinstellung: Wenn ich etwas mache, dann richtig. Als Vollblut-Sportler kannst du nicht sagen: “Dann trainiere ich halt nur noch zweimal die Woche und spiele ein bisschen in der unteren Liga, just for fun.” Ich war ja Leistungssportler, wir haben die Silbermedaille bei der EM gewonnen, waren bei der WM in Toronto dabei, ich wollte zu Olympia. Davon verabschiedet man sich, wenn, dann komplett. Das habe ich gemacht und es nie bereut.
Was hast du aus deiner Basketball-Zeit mitgenommen?
Sie hat mir sehr viel Selbstbewusstsein geschenkt – und einen Biss, den ich immer noch habe: 2019 bis 2020 haben mein Bruder und ich ständig sieben Tage am Stück gearbeitet, ohne überhaupt darüber nachzudenken.
Wie hat dein Umfeld auf die Entscheidung gegen den Sport reagiert?
Anfangs hat daran bis auf meinen Bruder und meinen besten Freund kein Mensch geglaubt. Das nehme ich auch niemandem übel, es ist halt etwas ganz Neues. Keiner hätte gedacht, dass ich mir damit eine berufliche Zukunft aufbauen und einen Lebenstraum erfüllen kann. Oft hieß es: “Wann fängst du endlich mal etwas Ordentliches an?” Zum Glück, sage ich heute, habe ich nicht auf die anderen gehört, sondern auf mich und das Richtige gemacht. Heute motiviere ich jeden, der sagt, er würde gerne etwas anderes machen, das auch zu tun. Dem sage ich: “Du lebst dieses Leben nur einmal.”
Wie habt ihr das anfangs finanziert?
Ich habe die ersten zwölf Monate noch mein Spielergehalt bekommen und zu Hause gelebt. In einer Hauruck-Aktion sind mein Bruder und ich ausgezogen, von Bonn nach Köln. Das war nicht leicht. Wir haben ständig Nudeln oder Reis mit Pesto gegessen, über Wochen. In dem Moment war uns das wirklich egal. Bei Mama war das Essen besser, das ist es bis heute. Aber wir haben immer an diesen Traum gedacht.
Was können Medienmacherinnen von dir lernen?
Sich etwas trauen. Mein Rat: Macht keine drei Konferenzen, um zu klären, ob ihr etwas wirklich umsetzen solltet. Seid mal ein bisschen lockerer, ein bisschen spontaner. Meine Erfahrung ist, dass Menschen aufatmen, wenn es mal natürlich, wenn mal nicht alles perfekt geschnitten ist. Es muss nicht immer heißen: “Nee, das entspricht jetzt so gar nicht unserem Produktionsstandard.” Macht einfach mal und guckt dann, wo es hinführt.
Glaubst du, dass dein Format auch schon vor zehn Jahren im linearen TV funktioniert hätte?
Wichtig wäre es auch damals schon gewesen. Ich finde, in den sozialen Medien sind wir auf einem sehr guten Weg. Egal, ob es jetzt die LGBTIQ-Community ist, die sich positionieren kann, oder Black Lives Matter. Im Internet findet das gut statt, im Fernsehen eher weniger.
Du bist mit dem Internet groß geworden, soziale Medien sind dein Job. Siehst du darin auch eine Gefahr?
Die Gefahr ist, dass wir sehr viel Zeit, manchmal zu viel, in den Netzwerken verbringen. Wenn du eine Bildschirmzeit von drei bis vier Stunden am Tag hast, dann hast du einen ganzen Tag in der Woche nur am Handy verbracht. Gesundheitliche Auswirkungen hat das sowieso. Das ist traurig. Ein Riesenproblem ist aus meiner Sicht auch, dass Medienkompetenz nicht gelehrt wird. Für viele Menschen ist es unfassbar schwer zu filtern, was real ist und was nicht. Corona zeigt uns, dass es Menschen mitunter an gesellschaftliche Endstationen führt, wenn sie – auch durch Algorithmen – in einer Bubble feststecken und fehlinformiert werden.
Was ist das Beste an Social Media?
Man hat nicht mehr das Gefühl, allein zu sein mit dem eigenen Problem. Man kann auch die große Liebe finden. Es ist alles möglich. Grundsätzlich lässt sich Awareness schaffen in alle Richtungen. Das finde ich das Beste.
Was würdest du deinem 14-jährigen Ich sagen?
Du machst alles richtig.
Vielleicht noch: Die Nudeln-mit-Pesto-Phase geht vorbei?
Das ist eine Erfahrung, um die ich gar nicht traurig bin. Im Gegenteil. Ich würde wirklich sagen: Gib dem Ganzen ein bisschen Zeit. Klar, man wünscht sich, dass der Erfolg am liebsten übermorgen passiert. Aber mach so weiter. Dann wird das schon.