turi2 edition #16: Was muss die Spezies Mensch 2022 ändern, wenn sie eine Zukunft haben will, Fritz Habekuß?
31. Januar 2022
Das große Ganze: Jeder spricht über den Klimawandel. “Das ist wichtig und überfällig”, sagt “Zeit Wissen”-Redakteur Fritz Habekuß. Es bringe allerdings nichts, nur Treibhausgase einzusparen. In seinem Gastbeitrag für die turi2 edition #16 kritisiert der Co-Autor des Bestsellers “Über Leben” falsche Ansätze und betont die Bedeutung von Ökosystemen.
Von Fritz Habekuß
Ich glaube, dass wir als Gesellschaft noch viel besser darin werden müssen, in Netzwerken zu denken. Momentan tun wir so, als wären wir losgelöst von ökologischen Zusammenhängen. Wir agieren als Individualisten in einer Welt, obwohl nichts und niemand allein existieren kann. Das fängt bei unserem eigenen Zoo von Mikroben an, ohne den wir verhungern würden, setzt sich fort in den sozialen Beziehungen, ohne die wir depressiv werden, bis hin zur Biosphäre, die für alles Leben die Grundlage bietet.
Momentan ist das Klima in den Kern der politischen Debatte vorgedrungen. Das ist gut, es ist wichtig und überfällig. Aber wenn die Diskussion jetzt beim CO2 aufhört, haben wir nicht viel gewonnen.
Der Direktor des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung, Johan Rockström, hat mit einem Team vor einigen Jahren untersucht, wo Menschen die Belastungsgrenzen des Planeten strapazieren oder sogar überschreiten. Jede einzelne dieser Grenzen hat das Potential, das gesamte Erdsystem aus dem Gleichgewicht zu bringen. Die dazu gehörige Grafik sieht ein bisschen so aus, wie ein Kind eine Sonne malt: in der Mitte ein runder Ball, die Erde, von der neun Strahlen abgehen, die für die einzelnen Belastungen stehen. Je weiter sie von der Mitte entfernt sind, desto mehr sind die Belastungsgrenzen überschritten, desto gefährlicher sind sie für das Ganze. Diese Grafik zeigt deutlich, dass besonders die biologische Vielfalt schon weit im roten Bereich ist. So stark, wie sie gerade zerstört wird, droht sie, das ganze System ins Kippen zu bringen.
Das klingt abstrakt. Aber es hat für uns Menschen unmittelbare Konsequenzen, wenn Ökosysteme ihre Funktionen nicht mehr erfüllen. Degradierte Böden produzieren dann nicht mehr genug Nahrung, einbetonierte Flussbetten und versiegelte Böden können Hochwasser nichts entgegensetzen, kaputte Wälder liefern kein Holz, und wenn nicht genügend Insekten, Fledermäuse und Vögel Blüten bestäuben, wird die Ernte schlecht.
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Das ist doppelt problematisch, denn die Intaktheit der Ökosphäre und das Klima sind die beiden Kernbereiche, die die Stabilität des ganzen Systems bestimmen.
Anders jedoch als beim Klima, für das sich die Effektivität jeder Maßnahme in CO2-Äquivalente umrechnen lässt, gibt es für die Vielfalt des Lebens solch eine simple Messgröße nicht. Das führt dazu, dass sich ihr Schutz politisch schwieriger fassen lässt. Wie gefährlich es ist, wenn die falschen Metriken angewendet werden, zeigt ein Beispiel aus dem Süden der USA. Dort werden ganze natürliche Wälder gehäckselt, um daraus Holzpellets für Europa zu machen, und auf den einst artenreichen Flächen wachsen jetzt Monokulturen. Das spart zwar auf dem Papier Treibhausgase ein, doch für das Ökosystem als Ganzes ist das eine Katastrophe – aber wer nur auf das CO2 schaut, kann das nicht sehen.
Es ist also an der Wissenschaft, hier ein gutes System zu entwickeln. An der Politik, solche Indikatoren tatsächlich zu nutzen. Und an der Zivilgesellschaft, nicht nur klima-, sondern naturverträgliches Wirtschaften einzufordern, von Unternehmern, Regierungen.
Denn das Klima zu retten, bringt wenig, wenn ringsherum die Natur stirbt (abgesehen davon, dass das auch gar nicht funktionieren würde). Deswegen müssen wir 2022 endlich lernen, das Ganze in den Blick zu nehmen. Denn während die Klimakrise nur bedroht, wie wir leben, stellt der Verlust der Biodiversität die Frage, ob wir überleben.