“Es gibt immer weniger Akzeptanz für schlechte Produkte” – Michaela Kauer-Franz und Benjamin Franz über User Experience.
28. September 2023
Ein X für ein U:Michaela Kauer-Franz und ihr Mann Benjamin Franz gestalten mit ihrer Agentur für User Experience, UX, digitale Benutzeroberflächen so, dass Menschen sie gerne nutzen. “Halte ich den Nutzenden von seinem Ziel ab, verliere ich ihn”, sagen sie im Interview für die turi2 Screen-Wochen. Sie träumen von einer Welt, in der jede Mensch-Technik-Begegnung ein Erfolg ist.
Als UX-Profis arbeitet ihr an der Schnittstelle Mensch-Screen. Was steuert, ob diese Begegnung ein Erfolg wird?
Michaela: Zu Beginn legt der Auftraggeber mit uns fest, was er durch die Überarbeitung seines Produktes erreichen möchte. Das kann eine schnellere Bedienung sein, weniger Fehler oder einfach ein cooleres Image. Um das erreichen zu können, brauchen wir ein gutes Verständnis von der Zielgruppe, müssen technische Beschränkungen verstehen und iterativ arbeiten dürfen. Heißt für uns: Wir legen Ziele fest, entwickeln die Schnittstelle Stück für Stück und prüfen mit Nutzenden immer wieder, ob wir auf dem richtigen Weg sind.
Benjamin: Nur wenn man versteht, was Nutzer mit einem Produkt erreichen wollen, kann man es so gestalten, dass sie das auch können. Klingt einfach – ist in der Praxis aber oft komplex. Daher ist es wichtig, echten Kontakt mit den Nutzenden zu haben. Nur so können wir schon in der Entwicklung verstehen, ob das Produkt auf dem Markt erfolgreich ist oder nicht.
Wie vertreibe ich eine Nutzerin von meiner App oder meiner Seite?
Benjamin: Halte ich den Nutzenden von seinem Ziel ab, verliere ich ihn. Das kann auch individuell und produktabhängig sein: Eine Person, die gerne lesen möchte, kann ich abschrecken, wenn ich ein Video anbiete. Eine, die Videos sehen möchte, mit viel Text. Dauerbrenner, die quasi jeden Nutzenden vertreiben: technische Fehler und Dinge, die dem Nutzer nichts bringen, etwa eine Registrierung oder Anmeldung, bevor jemand überhaupt Inhalte sehen darf. Generell kann man auch Nutzende die gleichen Informationen immer wieder angeben lassen oder viele technische Begriffe einsetzen. Eine sehr gute Möglichkeit, jemanden zu vergraulen, ist es, unseriös zu sein: Du könntest zum Beispiel direkt nach den Kreditkartendaten fragen.
Michaela Kauer-Franz, Psychologin, und Dr. Benjamin Franz, Maschinenbauingenieur, gründen 2013 die UX-Agentur Custom Interactions, spezialisiert auf datenbasiertes, nutzerfreundliches Design von Prozesssteuerungen, Produkten aus der Medizin und Sicherheitsanwendungen. Die beiden haben das Handbuch „Usability und User Experience Design“ geschrieben
Wo begegnen wir im Alltag noch UX-Design, ohne es zu bemerken?
Michaela: UX ist überall um uns. Die User Experience, also das Erlebnis der Nutzenden, kann ich eigentlich immer haben, wenn ich in Interaktion mit einem Produkt oder Service bin. Wenn ich Auto fahre, am Automat eine Fahrkarte kaufe oder die Mikrowelle am Arbeitsplatz verwenden will. UX fällt vor allem dann auf, wenn sie besonders gut ist, weil neuartig und anders. Oder weil sie besonders schlecht ist.
Benjamin: Auch alles um das Produkt herum gehört zur UX, beispielsweise die Werbung, der Kauf oder die Entsorgung. Daher investiert Apple so viel Geld in eigene Stores. Hier kann man sehr genau beeinflussen, wie ein potentieller Kunde mit dem eigenen Produkt in Kontakt kommt und so auch die UX sehr genau steuern. Wusstest du, dass im Apple-Store Laptopscreens auf einen Winkel von 76 Grad eingestellt werden? Damit ist der Bildschirm für eine typische Bedienung zu weit zugeklappt. Das sorgt dafür, dass ein Interessent das Produkt berührt und den Bildschirm aufklappt. So entsteht die erste Bindung zum Produkt – alles UX und bewusst gestaltet.
Habt ihr ein Positiv-Beispiel für clevere UX?
Michaela: Mein Lieblingsbeispiel ist die Entdeckungsliste bei Steam, einer Plattform, bei der man verschiedene Videospiele kaufen und spielen kann. Ich oute mich jetzt als Nerd: Ich besitze dort über 400 Spiele. Die Entdeckungsliste wird von Steam automatisch anhand meiner gekauften Spiele und meiner Wunschliste erstellt und schlägt mir neue Spiele vor, die ich bisher noch nicht besitze oder kenne. Ich liebe diese Funktion. Damit habe ich schon viele coole Indie-Titel entdeckt, die ich sonst nie gefunden hätte.
Benjamin: Ich liebe Apple CarPlay. Also das „Ich schließe mein Handy in einem Auto an und habe dann meine Bedienoberfläche“-Ding. Es vereinfacht für mich ungemein das Verstehen eines anderen Fahrzeugs – eben, indem ich es nicht verstehen muss. Ich möchte mich nicht mit den Infotainmentsystemen von Autos beschäftigen, sondern einfach einsteigen, meine Musik anmachen und losfahren. Für mich ist das übrigens ein Grund, ein Fahrzeug nicht zu kaufen: Bietet es mir kein CarPlay, kaufe ich es nicht – egal, was es sonst kann oder wie toll es aussieht.
Was wird beim UX-Design zu oft vergessen?
Michaela: Dass UX-Design nicht beeinflusst, wie etwas aussieht, sondern auch und vor allem, was es mir ermöglicht. Es geht um das Zusammenspiel aus Funktion, Bedienung, Außenwahrnehmung und Optik. UX-Design ist nichts, was man am Ende eben noch schnell draufpinselt. Es betrifft die Art und Weise, wie eine Anwendung gedacht wird und muss daher ganz zu Beginn im Mittelpunkt stehen. Wenn ich UX-Design als „Ich mach es noch schön bunt“ sehe, kann das Ergebnis schon nicht mehr besonders herausragend werden.
Benjamin: Wir vergleichen unsere Arbeit oft mit einem Baum. Die Wurzeln sind die Ergonomie: Ist das Produkt so ausgelegt, dass man es langfristig schädigungsfrei verwenden kann? Der Stamm ist die Usability: Kann ich das Produkt generell ohne Fehler verwenden? Die Krone ist die UX: Wie differenziere ich mich von Wettbewerbern, wie begeistere ich die Nutzenden? Wenn man in der Metapher weitergeht, ist das visuelle Design die Kirsche, ein wichtiger Teil der UX. Nur mit der Kirsche wäre der Baum, also das Produkt, aber nicht lebensfähig.
Wie hat sich der Stellenwert von UX verändert?
Michaela: Mit der ständigen Verbreitung von Technik in unserem Alltag steigt auch der Wert von Produkten mit gutem UX-Design. Technik ist untrennbar mit unserem Leben verbunden, deswegen wird es auch immer wichtiger, so wenig Zeit wie möglich in die Bedienung zu investieren. Die Zeit, in der Technik von Experten bedient wurde, ist vorbei.
Benjamin: Die Technik, wenn auch allgegenwärtig, sollte immer mehr in den Hintergrund treten. Bei wirklich wenigen Produkten ist das Ziel der Nutzenden die Verwendung des Produkts. Typischerweise möchte ein Nutzer mit der Produktnutzung ein Ziel erreichen. Da es mittlerweile zum Glück immer mehr sehr gut gestaltete Produkte gibt, steigt auch der Anspruch. Es gibt immer weniger Akzeptanz für schlechte Produkte. Wenn ein Produkt nicht funktioniert, findet man heute auch schnell eine bessere Alternative.
Welche Mensch-Screen-Begegnung würdet ihr gerne in zehn Jahren gestalten?
Michaela: Ich würde gerne stärker an ethischen Produkten arbeiten. Dadurch, dass Technik inzwischen omnipräsent ist, nehmen wir durch die Gestaltung starken Einfluss auf das Leben und Verhalten vieler Menschen. Wäre es da nicht schön, Technik zu gestalten, die Menschen dabei unterstützt, die beste Version ihrer selbst zu sein? Sei es moralisch oder auch im Hinblick auf Nachhaltigkeit und Umweltschutz.
Benjamin: Ich möchte Produkte gestalten, bei denen ausschließlich die positive UX im Fokus steht und man nicht mehr parallel überlegen muss, welche technischen Restriktionen es gibt. Das Resultat wäre eine Welt, in der jede Mensch-Technik-Begegnung ein Erfolg ist.
Dieser Text ist Teil der Screen-Wochen bei turi2. Bis 8. Oktober beschäftigen wir uns auf turi2.de mit Entwicklungen und Trends für Bildschirme – von der Smartwatch bis zum großen Werbescreen.
Foto: Custom Interactions/Minh Nguyen
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