“Menschliche Kreativität ist nicht zu ersetzen” – Katja Hofem über Nasen und Netflix.
13. Oktober 2023
Auf der Jagd nach Trends: Mit Formaten wie „Big Brother“ hat Katja Hofem TV-Geschichte geschrieben. Heute ist sie Vice President Content DACH bei Netflix. Im großen Interview in der turi2 edition #22 spricht sie mit Heike Turi über die Faszination Fernsehen und die Zukunft der Unterhaltung – und welche wichtigen Lektionen sie von ihrem Spürhund Kaya lernt.
„Ich bin so alt, ich starte meinen Netflix-Account um 20.15 Uhr“: Katja, was sagst du als Netflix-Chefin zu dieser Postkarte?
Das passt super. Mein Mann und ich sind genauso getaktet. Wir machen den Fernseher abends zu den Nachrichten an, und erst danach streamen wir einen Film, eine Serie oder eine Doku. An einem freien Tag gerne auch mal schon nach dem Frühstück. Früher war es ja total verpönt, tagsüber den Fernseher laufen zu lassen. Meine Mutter hat sehr darauf geachtet. Erst als ich dann ausgezogen war und in meiner eigenen Studentenbude saß, habe ich den Fernseher den ganzen Tag laufen lassen.
Deine Hündin Kaya und du, ihr führt uns heute in die Natur. Wie oft kommt es vor, dass du einfach mal so am Tag vom Bildschirm wegkommst?
Meine Arbeitstage sind oft sehr lang und sehr intensiv, aber da ich den Hund habe, bin ich am Tag schon mal zwei bis drei Stunden draußen. Ich stehe dafür auch sehr gern sehr früh auf, einfach weil es mir guttut. Natürlich habe ich das Handy dabei und führe hin und wieder auch von unterwegs einen Call – das sind meine sogenannten Gassi-geh-Calls.
Katja Hofem im Videofragebogen von turi2.
Was heißt früh aufstehen bei dir?
Viertel vor sechs. Ich habe am Morgen dann schon einiges geschafft, meinen Sport gemacht, bin mit dem Hund laufen gewesen. Um neun kann ich dann ganz entspannt in den Berufsalltag starten.
Wie viel Zeit verbringst du in der Regel am Bildschirm?
Mit allem Drum und Dran sind es schon an die 15 bis 16 Stunden. Die Zeit am Handy mitgezählt. Denn wenn ich abends im Bett liege, schaue ich auch gerne nochmal drauf. Ich checke die Nachrichten, schaue auf WhatsApp, Instagram, Facebook – einfach um zu wissen, ob etwas Neues in der Welt passiert ist.
Katja Hofem
Jahrgang 1973, studiert in Augsburg Politik, Amerikanistik und Kommunikationswissenschaft, schreibt für die „Aalener Volkszeitung“ und jobbt bei Tele5 als Aufnahmeleiterin. 1995 volontiert sie bei RTL2, wird Leiterin Unterhaltung, später Programmdirektorin. 2009 baut sie für Discovery den Männersender Dmax auf. 2010 wechselt sie zu ProSiebenSat.1, wo sie erst Sixx, dann Kabel1 leitet und schließlich die Streaming-Plattform Joyn in Deutschland einführt. 2021 geht Katja Hofem zu Netflix, wo sie heute den Content für die DACH-Region verantwortet. turi2 trifft sie mit Spürhündin Kaya auf heimischem Terrain im oberbayerischen Isartal bei Icking
Vor welchem Screen verbringst du die meiste Zeit?
Das ist der Laptop, an dem ich arbeite. Dann kommt das Handy, dann der Fernseher. Tagsüber schalte ich ihn manchmal ein, um zu sehen, was bei der Konkurrenz läuft. Am Abend findet Fernsehen dann eher im Lean-back-Modus statt. Mein Mann und ich schauen die Nachrichten auf ARD und ZDF, dann mal ein Magazin oder eine Reportage. Aber fürs Entertainment nutzen wir nur noch Streaming. Es gibt Serien, die wir gemeinsam gucken und dann hat jeder von uns noch so „seine“ Serie.
Zum Beispiel?
Mein Mann liebt K-Action-Serien oder auch die türkischen Serien auf Netflix. Ich muss immer alleine meinem Guilty Pleasure, den Reality-Shows und True-Crime-Serien nachgehen.
Kaya begleitet dich seit drei Jahren. Du lässt sie fürs Mantrailing, also als Spürhund, ausbilden.
Genau, wir absolvieren gerade eine Rettungshunde-Ausbildung für die K9-Hundestaffel. Kaya kann dann anhand eines Geruchsartikels die Spur eines vermissten Menschen nachverfolgen, und im Idealfall findet sie dann auch diese Person. Wir trainieren das, wenn es geht, so ein- bis zweimal die Woche.
Was ist deine Motivation?
Mein vorheriger Hund hatte eine Therapiehund-Ausbildung. Gemeinsam waren wir in Kinder- und Altenheimen. Das empfand ich als sehr bereichernd, und es war ein guter Ausgleich zu meiner täglichen Arbeit. Kaya ist ein Jagdhund, sie will gefördert und ausgelastet sein. Auch mir tut das gemeinsame Training unglaublich gut, denn ich muss mich fokussieren. Das ist einer der wenigen Momente, wo ich komplett abschalte und nur im Hier und Jetzt bin. Das Training macht uns beiden sehr viel Spaß.
Wie schlägt sich Kaya?
Kaya bringt alles mit, was es für einen guten Spürhund braucht. Sie hat das Talent, sie hat den Willen und den Enthusiasmus. Allein wenn ich das Geschirr in der Hand halte, fängt sie schon an zu winseln. Sie weiß dann, jetzt geht es los. Und wie immer liegt das Problem am Ende der Leine. Ich muss ruhiger werden und mehr die Kontrolle an sie abgeben. Das fällt mir nicht immer leicht. Wenn ich zum Beispiel gerade vorher noch ein schwieriges Telefonat geführt habe, fällt es mir echt schwer, umzuschalten. Dabei ist es so wichtig, die Führung abzugeben und allein seinem Hund zu vertrauen.
Kannst du aus dem Training mit Kaya auch etwas für deinen Beruf mitnehmen?
Einiges. Zum Beispiel, kein Mikromanagement zu betreiben und der Spürnase meiner Mitarbeitenden zu vertrauen. Mein Job ist es, den Rahmen und die Richtung vorzugeben, ich biete das Backup. Die Aufgabe meines Teams ist es, das Richtige zu finden und spannenden Möglichkeiten gezielt nachzugehen.
Wie leicht fällt dir das Loslassen?
Sagen wir mal so: Mit zunehmendem Alter leichter. Älterwerden hilft schon, ein bisschen gelassener zu sein. Natürlich bin ich interessiert an den Drehbüchern, an der Zusammensetzung des Casts und und und. Aber ich muss meinem Team den Freiraum geben, nur so können meine Mitarbeitenden wachsen. Wenn ich jeden Schritt kontrollieren würde oder gar müsste, dann hätte ich etwas falsch gemacht.
Wie viele Spürnasen arbeiten für dich?
Wir haben den Content-Bereich unterteilt in Serien, Film, Non Fiction und Lizenz. Dafür arbeiten mittlerweile 19 Leute.
Netflix
wird 1997 in Kalifornien gegründet und ist heute mit 238 Millionen zahlenden Mitgliedern in über 190 Ländern einer der größten Entertainment-Dienste weltweit. Produziert wird in 50 Ländern, untertitelt in 35 Sprachen und synchronisiert in 34. Allein in Deutschland, Österreich und der Schweiz, für die Katja Hofem verantwortlich ist, zählt die Streaming-Plattform zwölf Millionen Mitglieder
Wie erspürt ihr Trends?
Deutschland ist kein einfacher Markt. Es braucht also auch schon viel Erfahrung, um zu wissen, was gut funktioniert und was nicht. Es gehört aber auch ein gutes Bauchgefühl dazu, um zu entscheiden, was bei unseren Mitgliedern ankommen wird. Und last but not least orientieren wir uns natürlich auch an Zahlen und Daten.
Was wird The Next Big Thing?
Ich wollte, ich hätte die goldene Formel schon gefunden. Die sucht man natürlich immer. Im DACH-Raum besteht zu gewissen Genres eine besondere Affinität, und die bedienen wir dementsprechend auch. Dazu zählen Crime, Comedy, aber auch Drama. Bei einem bin ich mir sicher: Reality hat zahlreiche Fans und ein großes Potenzial. Als Genre wurde es ja immer wieder totgesagt und totgeschrieben. Aber wir haben gerade mit „Too hot to handle“ auch dieses Genre auf ein neues Level gehoben. Ich denke auch, dass Celebrity-Geschichten à la Kardashians hier gut funktionieren. Für die DACH-Region haben wir für das kommende Jahr einiges im Non-Fiction-Bereich geplant, von dem ich ganz sicher bin, dass es unsere Mitglieder begeistern wird.
Was macht gutes Entertainment heute aus?
Es hat sich seit den alten Griechen über Shakespeare bis in die heutige Zeit nicht viel verändert im Hinblick darauf, was eine gute Geschichte braucht. Sie braucht Emotionen, sie braucht tolle Figuren und Charaktere, denen ich folgen möchte – mit denen ich mitleiden, mitfiebern und mich mitfreuen kann. Im Grunde genommen erzählen wir Dinge, die seit Jahrtausenden funktionieren. Das sind Geschichten über Liebe, Hass, Eifersucht, Leidenschaft, Gier. Was sich geändert hat und weiter ändern wird, ist die Qualität, mit der sie erzählt und produziert werden.
Gibt es ein Strickmuster à la Shonda Rhimes, das einfach immer funktioniert?
Eine Formel gibt es nicht. Shonda Rhimes hat ein ultimatives Talent, immer wieder den Zeitgeist zu treffen und mit ihren Produktionen just in time rauszukommen. Das war schon bei „Grey’s Anatomy“ so. Und mit „Bridgerton“ hat sie für viele von uns den richtigen Ton getroffen, um etwas besser durch die Pandemie zu kommen, als wir uns gemeinsam – wenn auch nur für einen Moment – in diese ganz besondere Welt wegträumen konnten.
Wie viel Lokalkolorit darf eine Netflix-Produktion haben?
Netflix hat sich ganz bewusst dafür entschieden, in Europa einzelne lokale Büros zu eröffnen. Denn der italienische, französische, spanische oder der deutsche Filmschaffende kennt seinen Markt am besten und weiß, was dort funktioniert. Insofern darf beziehungsweise soll es auch unbedingt was mit Lokalkolorit sein.
Wie können deutsche Produktionen am internationalen Markt reüssieren?
Für uns steht das DACH-Mitglied an erster Stelle. Wir wollen unsere Zuschauer hier begeistern. Wenn uns das gelingt, dann funktioniert eine Produktion fast automatisch auch an anderen Orten rund um die Welt. „Die Kaiserin“ ist eine unserer erfolgreichsten Serien der letzten zwei Jahre. Wir standen mit dieser Produktion in 88 Ländern in den Top Ten. Der Film „Im Westen nichts Neues“ ist unser jüngstes Beispiel und sicher vielen längst ein Begriff. Mit zahlreichen Auszeichnungen, darunter auch vier Oscars bei den Academy Awards, hat er deutsche Filmgeschichte geschrieben und wurde von unseren Mitgliedern überall auf der Welt angeschaut.
Der Film wurde hierzulande kaum in den Kinos gezeigt. Warum?
In besonderen Ausnahmefällen, wie zum Beispiel bei „Im Westen nichts Neues“, entscheiden wir mit allen Beteiligten, ob der Film auf der großen Leinwand gezeigt wird. Als Streamer liegt unser Fokus aber vor allem darauf, vielseitige Unterhaltungsformate für unsere eigenen Mitglieder auf Netflix zu entwickeln. Und das hat dieser Film getan: In dem Moment, als wir ihn auf unseren Service gestellt haben, ist der Film innerhalb von ein paar Tagen 100 Millionen Stunden gestreamt worden. Über Netflix habe ich die Möglichkeit, jeden an diesen Inhalt heranzuführen – wohlgemerkt an einen Inhalt, der kein leicht verdaulicher ist und der eine ganz wichtige Kernbotschaft in sich trägt.
Lässt sich der Mythos Film ins digitale Zeitalter transferieren?
Film bleibt Film. Nur die Art, wo und wie wir ihn konsumieren, entwickelt sich weiter. „Im Westen nichts Neues“ ist jetzt schon ein Mythos und bedeutet eine wirkliche Zäsur: Dieser Film wäre ohne Netflix nicht entstanden. Auch der Film „Paradise“ belegt diese Verschiebung. Iris Berben, die Grande Dame des deutschen Fernsehens und Films, hat sich damit erstmals für eine Netflix-Produktion entschieden. Der Grund: Ihr ist dieser tolle Stoff so vorher noch nie angeboten worden.
Wann wird das erste Drehbuch aus KI-Hand verfilmt?
Gar nicht. Menschliche Kreativität ist nicht zu ersetzen. Der Mensch besitzt die Genialität, sich Neues auszudenken und aus bekannten Bahnen auszubrechen. Das kann KI in der Form nicht.
Wann ist ein Film oder eine Serie für Netflix erfolgreich?
Wir freuen uns, wenn eine Produktion direkt vom Start weg gut abgerufen wird. Aber fast noch wichtiger ist, ob die Produktion auch zu Ende gesehen wird. Das schauen wir uns genau an. Dazu gibt es Zahlen, die wir mit unseren Partnern teilen, damit auch sie wissen, was funktioniert und was nicht.
Netflix bietet neben werbefreien Abo-Modellen auch werbefinanziertes Streamen an. Die werbetreibende Industrie braucht vergleichbare Zahlen, bevor sie ihr Mediabudget verteilt.
Die bekommt sie auch von uns.
Werbung richtet sich gern an kaufkräftiges Publikum, also Seniorinnen und Senioren. Gibt es bei Netflix Inhalte für diese Zielgruppe?
Wir haben Serien wie „Weissensee“ und „Charité“ lizensiert, die sich eher an das klassische ARD- oder ZDF-Publikum wenden. Insgesamt haben wir eine so große Auswahl an Inhalten, da ist für jeden was dabei. Aber bei unseren Eigenproduktionen konzentrieren wir uns auf das jüngere Publikum.
Warum?
Schon beim Launch von Sat.1 Gold war das eine Riesen-Diskussion. Da hieß es, wir bräuchten mehr für die Best Ager, mehr Apotheken-Umschau-Formate. Falsch. Der Zuschauer will viel lieber das sehen, was die Jüngeren sehen. Er identifiziert sich lieber mit Jüngeren, ganz einfach, weil er sich dann selbst jünger fühlt und so auch nochmal andere Perspektiven einnehmen kann.
Dann lass uns mal „Zurück in die Zukunft“ spielen: Wann wusstest du, dass du zum Fernsehen möchtest?
Als junger Mensch hatte ich zwei Berufsziele. Ich wollte Tierärztin auf dem Land werden oder Reporterin, am liebsten Auslandskorrespondentin für den „Spiegel“. Lange bin ich zweigleisig gefahren: Ich habe das kleine Latinum nachgeholt und ein Praktikum bei einem Tierarzt gemacht, und ich habe für die Schülerzeitung gearbeitet und beim Schülertheater mitgemacht. Eine Freundin erinnerte mich erst kürzlich daran, dass ich mit fünf oder sechs Jahren ein Interview auf Kassette aufgenommen habe. Schön verrückt: Ich habe einen Affen interviewt, der gerade sein erstes Konzert gegeben hatte, und mich dann mit den Worten verabschiedet: „Ich gebe ab ins Aktuelle Sportstudio“.
Da warst du noch ein Kind. Was hat später den Ausschlag gegeben?
Ein Besuch bei „Wetten, dass..?“. Ich war damals 18 oder 19 und mit meiner Clique als Wettkandidatin eingeladen. Wir hatten gewettet, zu zehnt in einen Passbildautomaten zu passen, sodass jeder von uns auf dem Foto zu sehen ist. Im Studio habe ich beobachten können, wie Sandy, eine Aufnahmeleiterin, mit der Kladde in der Hand und dem Headset auf dem Kopf rumgelaufen ist und Kommandos gegeben hat, wer sich wo hinzustellen habe. Auch Thomas Gottschalk hat sie auf seine Stelle geschubst. Da dachte ich mir: So möchte ich auch einmal werden. Das will ich machen.
Du hast beim Fernsehen die Goldenen Zeiten erlebt. Woran erinnerst du dich besonders gern? Worauf bist du besonders stolz?
Ich bin wirklich froh und dankbar, dass ich bei entscheidenden Momenten der Fernsehgeschichte dabei sein konnte. Während meines Studiums war ich freie Mitarbeiterin bei Tele5. Es kam der erste Golfkrieg, und wir haben als einziger Sender live das CNN-Signal übernommen. Die Älteren unter uns erinnern sich wahrscheinlich an diese Bilder, auf denen man eigentlich nichts gesehen hat, nur grüne Pfeile in dunkler Nacht. Diese mediale Macht hat die Wahrnehmung des Krieges geändert. Plötzlich war der Krieg für viele Menschen sehr nah.
Was war der nächste Meilenstein?
Ich war für RTL2 in den Niederlanden bei John de Mol. Er zeigte mir sein neues Format und das „Big-Brother“-Haus. Ich war direkt fasziniert, bin zum Geschäftsführer von RTL2 und habe gesagt: „Das müssen wir machen.“ Wir haben daraufhin die Lizenzen gekauft und Reality nach Deutschland geholt. Als mich auf der MIP in Cannes unser Herstellungsleiter anrief und erzählte, alle Autobahn-Ausfahrten in Köln seien gesperrt, weil Zlatko aus dem Haus ausgezogen ist, da wusste ich: Über dieses Format wird man noch lange sprechen.
Mit Netflix bist du wieder am Puls der Zeit. Wie werden Digitalisierung und VoD-Anbieter den Markt in Zukunft verändern?
Das duale System mit den Öffentlich-Rechtlichen und den privaten Sendern hat für mich seine Berechtigung. Und ich wünsche mir möglichst viele Player am Markt, denn das befördert Kreativität. Aber die Fernsehlandschaft steht an einem Kipppunkt, vielleicht sind einige Sender auch schon drüber. Wir werden ganz bestimmt die ein oder andere Konsolidierung erleben.
Das Fernsehen oder die anderen VoD-Anbieter: Wen fürchtest du mehr als ernstzunehmenden Konkurrenten?
Ich denke gar nicht so sehr an die Konkurrenz, denn wenn man immer auf die Konkurrenz schielt, verliert man seinen eigenen Weg aus dem Fokus. Wir konzentrieren uns lieber auf unsere Mitglieder und die, die es noch werden sollen.
Sky-CEO Devesh Raj prophezeit das Ende der Goldenen Ära des Streamings und sagt: „Der Streaming-Kunde von heute kann der lineare Konsument von morgen sein.“ Bereitet dir das Kopfzerbrechen?
Nein. Wir befinden uns aktuell in einem sehr dynamischen Markt. Aber ein Ende der Streaming-Ära ist nicht in Sicht. Ganz im Gegenteil: Streaming ist die Zukunft. Als Netflix das Streaming erfand, haben wir den Medienkonsum auf die nächste Stufe gehoben. Die Nähe zu den Wünschen unserer Mitglieder, das Verständnis für die Möglichkeiten, die neue Technologien bieten, und die Bereitschaft, sich anzupassen und den Kurs schnell zu ändern: Das werden die wichtigsten Zutaten sein, um die Zukunft des Medienkonsums erneut zu gestalten.
Netflix steht für Unterhaltung. Haben wir nicht gerade wichtigere Probleme zu lösen, als uns gut unterhalten zu lassen?
Die alternde Gesellschaft, die Kluft zwischen Reich und Arm, der Dissens zwischen Ost und West, es gibt so viele brennende Themen, Themen von enormer Relevanz für unser Leben und unsere Gesellschaft. Gutes Entertainment kann helfen, Probleme aufzuzeigen, sie offen zu diskutieren und besser mit ihnen umzugehen.
Streaming bewirkt auch, dass Film- und Serienschauen zum individuellen, einsamen Ereignis wird. Nix mehr mit Lagerfeuer-Momenten. Da geht uns doch gerade ganz viel von dem gesellschaftlichen Kit verloren, oder?
Das sehe ich anders. Wenn unsere Mitglieder Netflix öffnen, finden sie eine große Auswahl an Inhalten. Manche davon sind eher individuelle, persönliche Erlebnisse. Andere wiederum schaffen aber genau diese Art von Lagerfeuer-Moment, bei dem wir bestimmte Geschichten als eine Gruppe von Fans sehen, genießen und – ja, dann auch gemeinsam heiß diskutieren. „Stranger Things“, „Squid Game“ oder „Wednesday“ sind hier gute Beispiele, die große Fandoms angesprochen und auch aufgebaut haben. Großartige Unterhaltung hat das Potenzial, jahrzehntealte Songs zurück in die Musikcharts zu bringen. Sie kann dazu beitragen, dass Nischensportarten unglaublich populär und wieder zum Mainstream werden. Oder sogar das Interesse an historischen Figuren, die wir mit ganz anderen Zeiten verbinden, zurück in die Mitte unserer heutigen Gesellschaft katapultieren – unser Hit „Die Kaiserin“ zum Beispiel war wochenlang in aller Munde. Mehr Lagerfeuer geht kaum.
Streaming verleitet dazu, immer mehr Zeit am Bildschirm zu verbringen. Braucht es nicht Maßnahmen, die Menschen davon abhalten, den ganzen Tag Serien zu suchten?
Beim Medienkonsum und der Zeit am Screen kommt es wie bei allem im Leben auf eine ausgewogene Balance an. Aber wo diese Balance liegt, muss jeder für sich selbst herausfinden.
Die CO2-Emissionen liegen beim Streaming wesentlich höher als beim linearen TV. Nachhaltig ist diese Art des Medienkonsums also nicht. Kein schlechtes Gewissen?
Ökologische Nachhaltigkeit ist uns ein wichtiges Anliegen. Jedes große oder auch kleine Unternehmen muss sich heutzutage die Frage stellen, wie es seinen CO2-Fußabdruck verringern kann. Den Löwenanteil beim Streaming macht die Produktion aus. Wir konzentrieren uns deshalb gezielt auf die Bereiche, die die größten Emissionsreduzierungen bewirken, etwa auf den Einsatz erneuerbarer Energien, intelligente Betriebsabläufe, Elektrifizierung von Fahrzeugen und saubere mobile Energie. Wir sind selbst Mitglied des Arbeitskreises „Green Shooting“, denn die Verringerung des CO2-Fußabdrucks in der Unterhaltungsindustrie ist ein gemeinschaftlicher, langfristiger Prozess – er geht über die gesamte Kette von der Produktion bis zum Bildschirm.
Ein Film oder eine Serie über dein Leben hätte welchen Titel?
Happy ever after.
Hair & Make-up: Eren Bektas
Styling: Lynn Schmidt
Alle Geschichten der turi2 edition #22 – direkt hier im Browser als E-Paper: