turi2 edition #10: Sabina Jeschke über schlaue Schienen.
1. Februar 2020
Schlaue Schienen: Die Deutsche Bahn soll ihre Fahrgastzahlen in den nächsten Jahren verdoppeln – bei jetzt schon überlasteter Infastruktur. Prof. Sabina Jeschke, Vorstand Digitalisierung und Technik, erklärt im Interview mit Peter Turi für die turi2 edition #10, wie das gehen könnte. (Fotos: Marcel Schwickerath)
Sabina Jeschke, Sie sind in mehrfacher Hinsicht eine Überraschung bei der Deutschen Bahn: Sie sind Professorin und verantworten als Frau im Vorstand die Männerdomäne Digitalisierung und Technik. Wie kam’s zu diesem kleinen Wunder?
Ab 2016 etwa setzte sich in den deutschen Großkonzernen langsam die Erkenntnis durch, dass Vorstände ohne hohe Digitalisierungskompetenz nicht mehr funktionieren können. Das Bewusstsein, wie mächtig und disruptiv das Phänomen Digitalisierung und die Technologien dahinter sind, wuchs. Vorher hat man das Thema beim Technikvorstand angesiedelt und gedacht: Der kann mit Motoren, der kriegt auch das mit dem Internet hin. Oder beim Finanzvorstand, nach dem Motto: Digitalsierung bringt Kostenvorteile.
So kam die Bahn zu Ihnen. Aber wie kamen Sie zur Bahn?
Das passte einfach. Technik hat mich schon in der Kindheit fasziniert. Das habe ich wohl von meinem Vater geerbt, der Atomkraftwerke baute. Ich war lange als Professorin für Maschinenbau an der RWTH Aachen und bin, als die 50 in Sicht
kam, ein bisschen zappelig geworden: Möchte ich den Rest meines Lebens der Wissenschaft, Lehre und Forschung widmen, oder suche ich noch ganz andere Herausforderungen?
Was für ein Bild der Deutschen Bahn hatten Sie damals im Kopf?
Ich hatte ein recht emotionales Verhältnis zur Bahn, weil ich als Jugendliche ständig zwischen Berlin und Schweden hin und her gependelt bin, mit Zügen, die nachts auf alten Fähren über die Ostsee fuhren. Das hatte eine gewisse Romantik.
Wie war Ihr Kundenerlebnis als Fahrgast?
Meistens sehr positiv. Ich habe mir immer eine größere Aufgabe mitgenommen, zum Beispiel ein Paper zu schreiben oder Doktorarbeiten zu korrigieren. Ich arbeite in der Bahn auch heute noch oft so konzentriert und viel, dass ich eher das Gefühl habe, zu früh anzukommen als zu spät. (lacht)
Aber jeder vierte Zug der Deutschen Bahn ist verspätet.
Ich habe dagegen eine einfache Strategie: Ich nehme immer einen Zug, der eine halbe oder ganze Stunde vorher ankommen soll. Dann klappt das allermeistens. Das mache ich übrigens auch, wenn ich mit dem Auto unterwegs bin, weil man mindestens genauso häufig im Stau steht!
Signalfarbe Rot an Gleis 15: Sabina Jeschke soll der Deutschen Bahn helfen,
die Züge wieder pünktlicher fahren zu lassen
Vorständin für Digitalisierung und Technik – das klingt nach einer großen Herausforderung. Viele Fahrgäste haben den Eindruck, dass schon der Betrieb eines Speisewagens die Bahn überfordert.
Das höre ich auch gelegentlich, manchmal sogar innerhalb des Konzerns, etwa: “Bring erstmal die Kaffeemaschine zum Laufen, bevor du über neuronale Netze redest.” Meine Antwort darauf ist: Gerade wenn ich in der Lage bin, über neuronale Netze den Zustand der Kaffeemaschine zu erkennen, kann ich sagen: Das Ding geht in sieben Tagen kaputt. Und dann kann ich es in fünf Tagen schon repariert haben. Das Phänomen beobachte ich übrigens deutschlandweit – dass also neue Technologien immer wieder gegen bestehende Missstände ausgespielt werden. Auf dem Weg nach vorne tun wir uns damit keinen Gefallen!
Ist es wirklich so schwierig, ein Bordrestaurant am Laufen zu halten?
Das Gesamtsystem Bahn ist komplex, das Bordrestaurant ist nur ein kleiner Baustein. Ich verstehe jeden, der sich ärgert, wenn er keinen frischen Kaffee bekommt. Man muss klar sagen, dass über mindestens 25 Jahre nicht die notwendigen Investitionen in die Schiene geflossen sind. Das ändert sich gerade, die Bahn bekommt jetzt endlich die Mittel, die sie braucht. Aber die Versäumnisse von fast drei Dekaden sind nicht in ein paar Monaten aufzuholen.
Auf mehreren Ebenen fordernd: Wenn Sabina Jeschke und die Datenexperten der Deutschen Bahn ihren Job gut machen, funktioniert auch im Berliner Hauptbahnhof vieles reibungsloser als bisher
Die Vorgaben der Bundesregierung sind ambitioniert: Aus Gründen des Klimaschutzes sollen sich die Fahrgastzahlen in den nächsten Jahren verdoppeln.
Nicht nur deshalb: Die Menschen haben sich entschlossen, mehr Zug zu fahren. Wir haben seit fünf Jahren Rekordreisezahlen, egal ob Sie den Fernverkehr oder Regionalzüge betrachten. Das ist einerseits dem gestiegenen ökologischen Bewusstsein geschuldet. Andererseits merken die Menschen, dass sie die Zeit im Zug sinnvoller verwenden können, als mit dem Auto in Staus zu stehen. Dazu kommt, dass die Pendlerstrecken immer länger werden, weil wir mobilere Lebensstile entwickelt haben. Also trifft eine stark steigende Nachfrage der Kunden auf eine unzureichend ausgestattete Infrastruktur. Es ist klar, dass dabei Schwierigkeiten entstehen. Die müssen wir jetzt systematisch beheben.
Und wie kann dabei die Digitalisierung helfen?
Die Digitalisierung ist ein wichtiger Teil der Lösung – und derjenige, der am schnellsten funktioniert. Wenn ich 50 Prozent mehr Menschen auf die Schiene bringen soll, wie es im Koalitionsvertrag steht, brauche ich eine viel höhere Kapazität auf der Schiene. Aber Neubau dauert! Für die Neubaustrecke München – Berlin hat der Planungs-, Genehmigungs- und Bauprozess für 600 Kilometer Schiene 25 Jahre gedauert. Die Alternative heißt: Sensorik in die Strecken rein – wir setzen auf die schlaue Schiene. Mit Sensorik in der digitalen Schiene kann ich die Abstände zwischen den Zügen verringern, weil der hintere Zug in Echtzeit merkt, wenn der vordere bremst. Das ermöglicht Tausende neue Züge pro Tag, ohne einen Meter Gleis zu verlegen. Ich kann durch eine konsequente Digitalisierung des bestehenden Netzes rund 30 Prozent mehr Kapazität schaffen. Das wäre so, als würde ich rund 10.000 Kilometer Schiene neu bauen!
Brauchen wir Neubaustrecken?
Ja, denn auch das Verdichten stößt an Grenzen. Bildlich gesprochen: Auf einer Straße, auf der die Autos schon Stoßstange an Stoßstange fahren, kann ich nicht mehr verdichten. Wir werden weitere Methoden versuchen, um mehr Menschen zu transportieren. Zum Beispiel verlängern wir einen Teil der neuen ICE 4 Züge um weitere Wagen, was allerdings Grenzen in der Länge von Bahnsteigen findet. Längere Züge oder auch der verstärkte Einsatz doppelstöckiger Züge können dennoch Teil der Lösung sein.
Als Bahnfahrer höre ich häufig den Satz “Aufgrund einer Signalstörung kommt es zu Verspätungen”. Wie kommt das?
Die Leit- und Sicherungstechnik ist ein sehr, sehr kompliziertes Gebiet. Man muss wissen, dass Deutschland das komplexeste Bahnnetz Europas hat, hochgradig vermascht, und dreimal so lang wie alle deutschen Autobahnen zusammen. Wir haben unglaublich viele Anlagen aus unterschiedlichen Zeiten. Da stehen sehr neue, voll digitalisierte Stellwerke neben solchen, die buchstäblich noch aus der Kaiserzeit stammen. Diese Heterogenität der Technik ist eine große Herausforderung.
Professorin mit Perlenkette: Seit ihrer Antrittsvorlesung ist die weiße Perlenkette Sabina Jeschkes Markenzeichen. Sie besitzt drei Exemplare, wie sie Peter Turi beim Interview im Berliner Hauptbahnhof verrät
Was treiben Sie voran?
Ein Schwerpunkt im Jahr 2020 wird die Instandhaltung. Der Fachterminus dahinter heißt “Predictive Maintainance” oder “condition based monitoring. Mit den richtigen Sensoren können wir systematisch vorher wissen, was hinterher kaputt geht. Beispiel: Weichen-Heizungen. Die sind wirklich biestig, weil man sie idealerweise unter Realbedingungen testen sollte, wenn also Eis und Frost herrschen – dann ist es aber zu spät, wenn eine nicht funktioniert. Heute greifen wir via Sensorik die Stromkennlinien ab und können an typischen Flackereffekten der Daten ablesen, dass die Heizungen bald kaputt gehen werden. Also tauschen wir die Komponente nachts aus, wenn es keinen stört. Dazu brauchen wir neuronale Netze, Künstliche Intelligenz – das ist aber alles relativ schnell machbar. Genau in diese Richtung entwickeln wir Prognose-Systeme für Fahrzeuge und für Infrastruktur: Instandhaltung nicht mehr nach Plan, sondern nach Bedarf.
Motoren, Räder, Küchen, Klos – alles sensorisch überwacht?
Ja, die neuen ICEs sind praktisch Computer auf Achsen. Da habe ich ohnehin bereits viele Daten, das ist natürlich bei älteren Fahrzeugen wesentlich schwieriger. Aber wir können ein Stück weit Sensorik nachrüsten.
Ich habe gelesen, dass Sie Ersatzteile aus dem 3D-Drucker verwenden.
Ja, wir sind inzwischen gleichauf mit der Airline-Industrie, was Ersatzteile und Produkte aus dem 3D-Drucker angeht. Stellen Sie sich vor: Zug fährt los, Meldung kommt: Lüftungsklappe gebrochen. Dann ist der passende Ersatz wahrscheinlich nicht in der Reparaturwerkstatt auf Lager angesichts der Heterogenität der Flotte. Wenn ich da den 3D-Drucker anwerfe, ist das Teil fertig gedruckt, wenn der Zug abends in die Instandhaltung fährt. In dem Gebiet sind wir übrigens weltweit führend, innerhalb der Bahnindustrie also.
Das klappt aber nur bei Lüftungsklappen, oder?
Keinesfalls! Da kommen inzwischen Metallteile raus, die eine TÜV-Zertifizierung haben – und teilweise stabiler sind als das Original. 2019 haben wir 5.000 Teile aus 3D-Druckern gezogen, 2020 sollen es 7.500 sein. Und in der Tendenz gehen wir immer mehr hin zu anspruchsvollen, betriebsnotwendigen Teilen – denn diese sind es, deretwegen wir unsere Züge in der Instandhaltung belassen müssen, wenn sie nicht verfügbar sind.
Kriegen Sie eigentlich die spezialisierten, jungen Mitarbeiter, die Sie brauchen? Die Bahn stellt ja insgesamt 25.000 Leute pro Jahr ein – darunter sicher viele IT-Spezialisten.
Das ist nicht immer einfach, aber nicht jeder IT-Spezialist will zu einem Startup. Die Bahn bietet solide Jobs mit vernünftigen Bedingungen. Und wir hören immer wieder: Ich möchte für ein Unternehmen arbeiten, das etwas tut, womit ich mich identifizieren kann – umweltfreundlicher öffentlicher Verkehr steht da weit oben. Hier sagen alle Zukunftsanalysten dasselbe: “Purpose” wird zum zentralen Entscheidungskriterium für die Menschen, sowohl bei der Berufswahl als auch bei der Wahl des Arbeitgebers!
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