Russe auf Reisen:Wladimir Kaminer unternimmt 150 Lesereisen und mehr im Jahr – am liebsten in die Provinz. Tatjana Kerschbaumer begleitet den Schriftsteller bei seiner harten Arbeit an der Heiterkeit. Sie erfährt, warum Kaminer preußische Pünktlichkeit bei seinen Auftritten schätzt, er überall Freunde hat und Lesungen für Autoren überlebenswichtig sind. (Foto: Johannes Arlt)
In Vellmar spricht man das V hart. Das lerne ich als Erstes, als ich die 19.000-Einwohner-Stadt im Landkreis Kassel besuche. “Es heißt Fellmar, nicht Wellmar!” Darauf legen sie hier Wert, genauso wie auf die Tatsache, dass man zum Ebbelwoi keine besondere Bindung hat. Vellmar mit hartem V liegt in Nordhessen, hallo – ihren Ebbelwoi aus dem Bembel sollen die Frankfurter mal schön selber saufen.
Was gibt es über Vellmar noch zu sagen? Es ist unterteilt in die Ortsteile Obervellmar und Niedervellmar, in Vellmar-West und Frommershausen. Vellmar hat ein Hallenbad, das nachts hübsch beleuchtet ist, gepflegte Häuser mit hohen Giebeln, in denen es sich vermutlich gut leben lässt, ein paar Restaurants, die in Vellmar genau so heißen, wie überall auf der Welt sonst auch: Rialto – italienisch, Taj Mahal – indisch, Gasthaus Henze – gutbürgerlich, deutsch. Und Vellmar hat seinen “Sommer im Park”. Ein Kulturfestival, am städtischen Ahnepark gelegen, mit weißem, tipi-ähnlichem Festzelt, das innen mit Sitzen bestuhlt ist, die ein bisschen an eine Sportveranstaltung erinnern.
Das Programm ist richtig gut, seit Jahren: Georg Ringsgwandl, das Herbert Pixner Projekt, Django Asül, Bernd Stelter – alle waren schon da oder kommen vorbei, nach Vellmar mit hartem V. Nur Hape Kerkeling hat sich mal geweigert, aber naja, der ist eigentlich auch raus aus dem Geschäft. Kein aktuelles Bühnenprogramm und so. Heute kommt Wladimir Kaminer. Kaminer, der russisch-deutsche Autor, der den Deutschen spätestens mit seinem ersten und bekanntesten Buch “Russendisko” die Seele des Ostblocks charmant näher gebracht hat. Kaminer hat das letzte Mal 2013 in Vellmar gelesen, fünf Jahre ist das her, und nach seinem Auftritt damals floss angeblich jede Menge Grappa.
Nach Schnaps steht Kaminer aber nicht der Sinn, als er
mit dem ICE aus Berlin in Kassel einrauscht. Der Zug hat über eine Stunde Verspätung, es ist kurz nach 19 Uhr, um 20 Uhr beginnt die Lesung. Ob er
es vorher noch ins Hotel schafft? Einen Versuch ist es wert. Dabei hat er eh nur eine kleine Tasche dabei, ein dramatisches Bühnenoutfit kann sich darin nicht verstecken. Im Stechschritt geht es zum Empfang, “Hallo, mein Name ist Kaminer, für mich ist ein Zimmer reserviert” – und bitte, bitte, ein Taxi muss her, schnell. Mit dem Taxi fährt man von Kassel nach Vellmar etwa 20 Minuten, die Straßenbahn dauert länger, zu lange jetzt.
Fünf Minuten später taucht Kaminer wieder auf, in denselben Klamotten, die er schon im Zug getragen hat: Weißes T-Shirt, graue Hose mit etwas kurzen Beinen, intensiv nach Duftwässerchen riechend. Wer mit Worten überzeugt, braucht kein Elvis-Kostüm. Eigentlich komme er gerade aus dem Urlaub in Kroatien; ist gestern in Berlin, seiner Wahlheimat, gelandet; viel zu lang seien die Ferien diesmal gewesen, viel zu viel Sauferei. Das ging schon
vor Kroatien los, in Brandenburg, ein bisschen Wein verkosten, schwimmen, in der Datsche sitzen, aber es war ja Fußball-WM, da liegt das kulturelle Leben sowieso brach, da kann man auch nach Brandenburg. Die Speisekarte des kroatischen Restaurants, in dem er angeblich ganze drei Wochen zugebracht hat, könne er jetzt auswendig, sagt Kaminer. Dafür ist er ziemlich braun geworden, er schaut mich erwartungs- voll an: “Sieht man, oder?”
Der Taxifahrer fährt gemächlich durch leuchtend gelbe Felder und grüne Wiesen. Kaminer kennt er nicht, aber gut zu wissen, dass heute in Vellmar was los ist. …weiterlesen in der turi2 edition Unterwegs.
Autor Wladimir Kaminer beantwortet den Video-Unterwegs-Fragebogen auf der Ledercouch im Café. Kaminer möchte unbedingt wieder nach Japan, das ihn beeindruckt hat, weil er das Land “nicht verstanden” habe. Der Schriftsteller braucht unterwegs vor allem “allerlei Geräte” für Notizen, trägt seinen Koffer aber gern allein durch die Welt. Reisen in Gruppen hält er nur für bestimmte Zeit aus. Der für Kaminer bis heute beeindruckendste Ort ist der “merkwürdige Wald”, in dem er 1986 bis 1988 leben musste – als Soldat der sowjetischen Armee. turi2.tv (2-Min-Video auf YouTube)