“Wichtig ist, dass es Raum gibt, jung und wild zu sein” – Agenturchef Dominik Wichmann über Karriere und Krisen.
14. Juni 2023
Hoch und runter: Als Retter des “SZ-Magazins” wird Dominik Wichmann in den 00er Jahren gefeiert. Nach seinem Rauswurf beim “stern” 2014 fragt er nach dem Sinn des Lebens – und wird später als Agenturchef immer wieder für verrückt erklärt: Heute macht Wichmann mit seiner Looping Group Medien zu Marken und Marken zu Medienmarken. Im Interview für die turi2 edition #21 spricht der Unternehmer über German Angst im Journalismus, das publizistische Mobiliar der alten Bundesrepublik und seine Agentur als “Supermarkt der redaktionellen Gesellschaft”.
Wie froh bist du heute, dass du beim “stern” rausgeflogen bist?
Sehr froh, ehrlich gesagt. Direkt nach dem Rauswurf sind bei mir mehrere Dinge passiert: Ich hatte ein Jahr Wettbewerbsverbot und damit frei. Vorher hatte ich jede Woche ein Heft gemacht, 16 Jahre lang, erst das “SZ-Magazin”, dann den “stern”. Musste jede Woche performen. Das ist spannend, aber es bedeutet auch viel Druck. Und auf einmal war der weg, ich hatte Zeit mit der Familie, bin um die Welt gereist. In der Zeit habe ich außerdem die Biografie für Guido Westerwelle geschrieben. Ich habe mich also in jemanden hineinversetzt, der kurz vor seinem Tod sein Leben reflektiert und feststellt, dass er vieles zu spät erkannt hat. Und quasi automatisch mitreflektiert: Macht mein Leben Sinn? Worum geht es mir eigentlich? Sollte ich nicht doch Olivenbauer in der Toskana werden? Das Buch wurde ein Erfolg. Ich habe also die Erfahrung gemacht: Ich kann auch anders erfolgreich sein. Ich kann meine Zeit sinnvoller verbringen als in Machtkämpfen bei Bertelsmann.
Dann bist du zu Burdas Event-Plattform Digital Life Design (DLD) gegangen – wirklich etwas ganz anderes.
Ich musste die Sprache wechseln, für unseren Job nicht ganz ohne. Und den Raum, habe nicht mehr in München oder Hamburg gearbeitet, sondern ohne festen Ort. Ich habe gemerkt: Dieses Versprechen des Journalismus “Da, wo wir sind, ist vorne” ist nicht immer richtig. DLD hat mir gezeigt, wo vorne eigentlich ist. Die Zeit nach dem “stern” hat mir also die Erkenntnis gebracht: Ich will tun, was ich will. Ich will unternehmerisch handeln. Dabei geht es nicht um Geld, sondern um Gestaltungsfreiheit, darum, meinem Gefühl zu folgen. Wenn meine Mitgründer und ich heute die “Madame” kaufen wollen, dann machen wir das, obwohl alle das für Irrsinn halten. Dass ich glücklich über den Rauswurf beim “stern” bin, hat aber nichts mit dem Erfolg der Looping Group zu tun. Sondern damit, dass ich so lernen konnte: Es gibt andere Wege, die mir viel näher sind, viel mehr Freude machen und nicht ins gesellschaftliche Abseits führen.
Bist du noch Journalist?
Es gibt in der Religionswissenschaft einen schönen Satz zur Kirche, den ich mal abwandeln will: Du kannst aus dem Journalismus austreten. Die Frage ist, ob der Journalismus aus dir austritt. Ich habe großen Respekt vor journalistischer Arbeit und der Regel, Journalismus, PR und Marketing nicht zu vermischen – weil das meist auf Kosten der Wahrheit geht. Ich arbeite ja auch gar nicht journalistisch. Ich verlege ein paar Medien und schreibe ab und zu unter Pseudonym Artikelchen in diesen Medien. Aber das mache ich aus Lust und Laune und um den Redaktionsetat zu schonen. Also: Nein, ich bin kein Journalist. Diese Haltung erlaubt mir auch, keine Meinung zu journalistischen Entwicklungen haben zu müssen. Natürlich habe ich eine. Aber ich kann mir erlauben, die nicht zu äußern.
Ich frage trotzdem: Deine Meinung zum deutschen Journalismus?
Der Journalismus hat keine Krise. Die Medien haben eine Krise, die tradierten Vertriebswege haben ein Problem. Das Bedürfnis der Menschen, die Wahrheit zu erfahren, hat nie eine Krise. Die Sehnsucht nach sauber recherchierter Information ist unabhängig davon, ob ich in der holzverarbeitenden Industrie tätig bin. Meine Mitgründer, Petra Winter und ich haben von unserem eigenen Geld eine Magazinmarke gekauft, die ordentlich Minus gemacht hat. Ich bin wirklich ein Fan von Print. Ja, auch aus Nostalgie, aus Glaube an dieses Medium. Aber ich definiere mich doch nicht über das Medium, sondern über die Frage, welche Inhalte ich kommuniziere. Ob das als Podcast, Film, als eine Veranstaltung, gedruckt oder im Metaverse stattfindet, ist wichtig, aber nicht entscheidend. Wenn wir den Journalismus weiterhin vor allem über den Vertriebsweg definieren, machen wir ihn kleiner, als wir müssten.
Dominik Wichmann, Jahrgang 1971, lernt sein Handwerk an der Berliner Journalistenschule, bevor er 2000 Chefredakteur des “SZ-Magazins” wird. Als “stern”-Chefredakteur wird er 2014 nach nicht einmal zwei Jahren entlassen. Es folgen die Co-Geschäftsführerschaft der Digitalkonferenz DLD und Biografien für Guido Westerwelle und Tina Turner. 2016 gründet Wichmann Looping mit. Sein Münchner Büro liegt in der Innenstadt, wenige Gehminuten vom Marien- platz entfernt. Als Treffpunkt schlägt Wichmann das “Sois Blessed” (zu deutsch: “sei gesegnet”) schräg gegenüber vor. Der schicke Concept Store mit Tagesbar hat in der Anfangszeit von Looping eröffnet und verkauft Blumen, Kleidung, Interior und Kaffee. Zu Luxuspreisen, teilweise für den guten Zweck. Zum fünfjährigen Jubiläum hat Wichmann eine Rede auf gute Nachbarschaft gehalten.
Bei Looping macht ihr irgendwie alles: Medien, PR, Marketing. Was ist euer Markenkern?
Wir haben von Anfang an versucht, etwas Neues zu bauen, indem wir Medien- und Agenturgeschäft zusammenbringen: Wir sind ein Brand Media House. Wir verlegen Medienmarken – für unsere Kunden und für uns selbst. Konsumenten dieser Marken dürfen zwei Dinge erwarten: Dass sie nicht an der Nase herumgeführt werden. Und dass unsere Inhalte sie begeistern. Das bedeutet erstens: Wir müssen immer transparent machen, wer der Absender ist, wer hinter einer Medienmarke steht – Mercedes, BMW, Sotheby’s, Netflix oder jemand anderes? Das ist zentral. Und zweitens: Alle Inhalte müssen stimmen. Deswegen haben wir ein eigenes Fact Checking Department, das wir “Brand Protection” nennen: Hier werden im Auftrag einiger unserer Kunden der Großteil ihrer medialen Inhalte überprüft, bevor sie an die Öffentlichkeit gehen.
Trotzdem werdet ihr aus der Verlagswelt kritisch beäugt, weil bei euch Journalismus und Marketing unter einem Dach stattfinden.
Ich sage jetzt einen provokativen Satz: Der deutsche Zeitschriften-Verlag, dessen Anzeigenabteilung sich noch nie und nimmer in die redaktionellen Inhalte seiner Zeitschriften eingemischt hat, werfe den ersten Stein.
Die Looping Group wird 2016 von Dominik Wichmann, Robin Houcken, Peter Greve und Rüdiger Barth gegründet und macht etwa 32 Millionen Euro Umsatz. In den Büros in München, Berlin, Hamburg und London arbeiten rund 300 Menschen. Als Brand Media House baut die Agenturgruppe Newsrooms und übernimmt Marketing und Storytelling für Marken wie BMW, Armani, Netflix und Mercedes – auch über Brand-Publikationen. Looping vertreibt auch eigene Medienmarken und veröffentlicht Magazine, Newsletter, Bücher, Videos und Podcasts.
Seid ihr also ehrlicher?
Nein, so will ich das auf keinen Fall sagen. Aber die Tatsache, dass es innerhalb der Looping Group fünf Unternehmensbereiche gibt, von denen drei im Agenturgeschäft unterwegs sind und zwei im Publishing, heißt nicht automatisch, dass wir alles und jedes miteinander vermischen. Der Erfolg von Looping liegt nicht daran, dass wir Journalismus und Marketing unter einem Dach haben, sondern dass wir unsere Medienmarken als Marken denken und unseren Kunden helfen, ihre Marken wie Medienmarken zu denken. Es ist einfach ein anderer Ansatz und einer von vielen Belegen, dass es in der deutschen Publishing-Szene nicht nur Deprimierendes wie den Meltdown bei Gruner + Jahr gibt, sondern auch Erfolgsgeschichten.
Blutet dir das Herz, wenn du an die Zeitschriftenmarken denkst, die bei Gruner + Jahr verschwinden werden?
Herzbluten klingt pathetisch und Pathos mag ich nicht. Aber: Mich macht es traurig, dass die Menschen, die dort arbeiten, diese monatelang wabernde Unklarheit und die Hilflosigkeit, die damit verknüpft ist, erleben müssen. Was die Marken angeht, bin ich eher sprachlos. Darüber, dass man Medienmarken, die zum publizistischen Mobiliar der alten Bundesrepublik gehörten, einfach wegwirft. Marken wie “Essen und Trinken” oder auch “Eltern”: Die verkörperten einst ein Aufbruchsversprechen. Die haben den Leuten gezeigt, dass es Alternativen gibt zu eingelegten Pfirsichen und Scheiblettenkäse oder zur autoritären Erziehung. Die Marken von Gruner + Jahr waren immer mehr als nur Medienmarken. Das waren immer auch Marken, die an der Aufklärung der bundesrepublikanischen Gesellschaft mitgewirkt haben. Denen es eben nicht nur um Reichweite ging, sondern auch um ein Anliegen. Und mir kann keiner erzählen, dass es in unserer Zeit keinen Platz mehr gibt für Medienmarken, die ein gesellschaftliches Anliegen haben.
Es gab Gerüchte, dass ihr Marken aus dem Portfolio übernehmt und rettet. Was sagt das über die deutsche Medienlandschaft aus?
Erstens: Dass man unsere ökonomischen Möglichkeiten überschätzt. Die Looping Group ist ein kleines mittelständisches Unternehmen mit 32 Millionen Euro Umsatz. Wir könnten uns kaum die Anwälte leisten, die man braucht, um gegenüber Bertelsmann in einem M&A-Verfahren juristisch zu bestehen. Zweitens bin ich schon der Meinung, dass manche Verlagshäuser dieses Landes – nicht alle! – ein gewisses Innovations-Defizit haben.
Woher kommt das?
Es wird noch immer versucht, Geschäftsmodelle des 20. Jahrhunderts im 21. Jahrhundert zu bewahren. Ich kann meine Kinder nicht zwingen, eine Tageszeitung zu abonnieren. Aber ich kann darauf hoffen, dass es bei TikTok ein journalistisch substanzielles Angebot gibt. Wahrscheinlich ist in den letzten 100 Jahren jede Generation besser ausgebildet worden als die vorhergehende. Mit noch mehr vorgelesenen Kinderbüchern, noch mehr Nachhilfestunden, noch mehr Auslandsaufenthalten. Warum sollte sich die junge Generation also nicht für relevante Inhalte interessieren? Sie entwickelt nur andere Rituale, diese zu konsumieren. Daran muss ich mich als Verlag orientieren. Die Verlagsbranche könnte sich von der Konsumgüterindustrie einiges abgucken, wenn es darum geht, sich an das Konsumentenverhalten anzupassen. Die Konsumenten interessiert es nun mal nicht, dass ich zehn Druckmaschinen im Keller habe, die ausgelastet werden sollen.
Kein deutsches, sondern ein Branchenproblem?
Ich nehme durchaus so eine German Angst wahr. Ob das jetzt die Einführung der Paywall war, wo man sich gar nicht mehr zugetraut hat, Content zu haben, der so wertvoll ist, dass Menschen dafür zahlen. Erst als es die “New York Times” vorgemacht hat, hat man sich getraut. Oder aktueller: ChatGPT, das vor allem als Bedrohung gesehen wird. Aber es ist eben auch eine Erweiterung unserer Möglichkeiten. Wir sehen hierzulande oft vor allem die Gefahr und das Negative – und weniger die Chancen.
Deutschland steht also eher für Schockstarre als für Innovation?
Nein, so pauschal möchte ich das nicht behaupten. Aber ich bin sehr häufig in London, weil wir dort an unserem Standort circa 60 Mitarbeitende beschäftigen. Die Briten haben den Brexit, die haben den fünften Prime Minister in sechs Jahren, da war Corona nochmal eine ganz andere Hausnummer. Dort läuft es also keinesfalls besser als in Deutschland – aber die Zuversicht scheint trotzdem größer. Als wir uns entschieden haben, vier Tage nach dem Brexit und inmitten des ersten Lockdowns in London ein Büro aufzumachen, haben viele gesagt: Ihr spinnt. Es war jedoch die beste Entscheidung, die wir treffen konnten. Weil London nie wieder so günstig, weil nie wieder die Chance so groß war, tolle Leute zu bekommen, von denen sich Player wie Google und Apple getrennt hatten. Das hat uns die Möglichkeit gegeben, unser Unternehmen konsequent zu internationalisieren, völlig neue Kunden zu gewinnen, aus Taiwan, aus Nordamerika. Das alles wäre nicht möglich gewesen, wenn wir nicht dieses Risiko eingegangen wären.
Der rote Faden deiner Karriere scheint, dass du immer in der Krise durchgestartet bist. Warum ist das so?
Krise gibt die Möglichkeit zum Überholen, weil sich das Geschäftsleben in der Regel zunächst verlangsamt. Zweitens lockert Krise auf, stellt Dinge in Frage und ermöglicht neuen Geschäftsmodellen schneller einen Durchbruch. Krise war für mich lange der Normalzustand meines Berufslebens. Das “SZ-Magazin” war in meinen ersten vier Jahren hoch defizitär. Im Jahr 2000 hat jede Ausgabe jeden Freitag eine Viertelmillion Mark Verlust gemacht. Einige meiner damaligen Verleger wollten das Heft einstampfen. Tom Kummer hatte zudem kurz zuvor Interviews fast komplett erfunden. Das war meine Ausgangssituation. Ich konnte also eigentlich gar nicht gewinnen. In Zusammenarbeit mit meinen Kollegen Jan Weiler und Rudolf Spindler habe ich das Heft saniert. Mein erster wichtiger Job hat mir gezeigt: Man kann Krisen bewältigen. Das war so prägend, dass ich auch später Krisensituationen nicht gescheut habe.
Loopings Geschichte ist eher Erfolg als Krise.
Bei Looping war von Tag eins an Krise. Bei einer Gründung ist sowieso immer Chaos, das ist völlig normal. Aber als es gerade einigermaßen lief, kam Corona. Und als sich das gerade abschwächte, haben wir mit Mercedes unseren ersten großen Kunden verloren. Und danach brach der Krieg aus. Normalität war also selten. Inzwischen bin ich darüber aber ganz froh, weil ich dadurch ein wenig mehr Resilienz entwickelt habe.
Welche Marken beratet ihr bei Looping?
Es gibt vier Markencluster. Einmal Personenmarken wie beispielsweise Tina Turner. Menschen also, die die Deutungshoheit über ihr eigenes Leben sicherstellen möchten. Nicht nur über die Biografie, sondern auf allen Kanälen, die die Konsumentinnen wollen: Podcast, Audio-Remix von “What’s love got to do with it”, Print, Dokumentarfilm bei HBO, Design von Ring bis Barbiepuppe und live als Musical. Auf all diesen Kanälen erzählen wir und die beteiligten Partner dieselbe Geschichte, machen die Person zu einer systematisierten Medienmarke. Der zweite Markencluster besteht aus NGOs und Startups. Der dritte aus Corporates. Der vierte ist der öffentliche Sektor: Städte, Kommunen. Für all diese Marken addieren wir zu den traditionellen Kommunikationswegen den der Veröffentlichung von eigenem Content dazu. Wir machen für sie auch Werbung, auch PR – aber konzipieren eben auch ihre eigene Medienaktivität. Deswegen sind wir nicht nur eine Agentur, sondern inzwischen eine Gruppe aus bald fünf Unternehmen. Wir als Looping Group sind quasi ein Supermarkt der redaktionellen Gesellschaft, wo du als Marke alle Produkte kriegst, die du brauchst, um darin zu bestehen.
Redaktionelle Gesellschaft bedeutet, dass wir alle ständig Botschaften senden und empfangen können. Wie verhindern Marken, dass sie sich nicht verlaufen in diesem Supermarkt?
Die Komplexität der Möglichkeiten zu bewältigen: Das ist unser erstes Markenversprechen. Das zweite ist, dies mit Inhalten zu erreichen, die sich an den Interessen der Empfänger orientieren – und nicht allein an denen der Absender. Die gesamte Kommunikation einer Marke sollte entlang zweier Leitlinien ausgerichtet sein. Die eine ist die Customer Journey. Wenn der Kunde oder die Kundin aufmerksam gemacht werden soll, braucht es anderen Content als während einer Kaufentscheidung. Die zweite Leitlinie ist: keine Widersprüche erzeugen. Ein Unternehmen sollte nicht heute auf seiner Hauptversammlung behaupten, dass es total nachhaltig agiert – und übermorgen ein Produkt präsentieren, das das Gegenteil von Nachhaltigkeit ist. Dann entsteht der Eindruck von Doppelmoral, weil in der redaktionellen Gesellschaft alles überprüf- und einsehbar ist. Eine One-Voice-Kommunikation, wie wir sie anbieten, vermeidet Kundenenttäuschung, Doppelmoral, Fehlinformation, Irritation. Wir bauen für Unternehmen die dafür nötigen Systeme und Tools, damit sie die Kommunikation selbst übernehmen können. So machen wir uns selbst eigentlich nach einigen Jahren für sie überflüssig.
Was ist heute die größte Herausforderung für eine Marke?
Es gibt drei. Erstens: Die Atomisierung der Kundenwelten. Das Konsumentenverhalten wird immer individueller, es gibt weniger große Lagerfeuer, sondern kleine Communities, die eigenen Regeln folgen. Diese Vielfalt in Einklang zu bringen mit dem einheitlichen Markenversprechen, ist herausfordernd. Die zweite Baustelle bei geschätzt 80 Prozent der größeren Unternehmen ist das Miteinander von PR und Marketing unter dem gemeinsamen Ziel des Unternehmensinteresses. Ob du die Bereiche zusammenlegst oder so orchestrierst, dass sie miteinander reden – alles ist besser als ein Gegeneinander. Die dritte Herausforderung ist das Thema Wissenstransfer. Wie soll ein 51 Jahre alter, weißer Mann wie ich in der Lage sein, alleine eine TikTok-Strategie zu entwerfen? Ich bin dafür einfach zu alt. Aber der 21-jährige Praktikant kann das vielleicht auch nicht alleine. Wir müssen unterschiedliches Fachwissen und unterschiedliche Wissens- stände in einem Unternehmen verknüpfen. Es ist eine organisationspsychologische Herausforderung, keine Grabenkriege zwischen Alt und Jung, zwischen Digital und Nicht-Digital entstehen zu lassen.
Wichmanns Lieblingsplatz im “Sois Blessed” ist am Tresen, die Tür im Blick. Fürs Gespräch mit Anne-Nikolin Hagemann setzt er sich aber an einen Café-Tisch.
Wie kann eine Marke ihren Kern definieren?
Es gibt ja unendlich viele Definitionen von Marken. Eine davon habe ich mir gemerkt, die ist von Jeff Bezos: Deine Marke ist das, was die Leute über dich sagen, wenn du den Raum verlassen hast.
Und deine Marke?
Ich mache mir darüber nicht so viele Gedanken. Ich mache vor allem, auf was ich Lust habe. Es ist sehr intuitiv getrieben. Wir haben unser TikTok- Magazin “H4CK” ein Jahr finanziert, ohne damit einen einzigen Cent zu verdienen. Jetzt beginnt es, ökonomisch interessant zu werden. Wir haben alle Mitarbeitenden nach Venedig eingeladen, und zwar nicht in irgendeinem Hotel, sondern in das schönste am Lido. Ist es sinnvoll? Nein. Macht es Spaß? Ja. Ist es ein Ausdruck von Wertschätzung den Kolleginnen und Kollegen gegenüber? Absolut!
Markenfindung braucht mehr Mut als Strategie?
Definition erfordert Entscheidung. Markenfindung hat sehr viel mit Entschlossenheit zu tun, mit der Fähigkeit wegzulassen, mit der Fähigkeit zu verdichten, mit der Fähigkeit zuzugeben: Das verstehe ich nicht. Eine Entscheidung darüber, wie die Marke sich definieren soll, kann nur treffen, wer auch das robuste Mandat dazu hat. Unternehmen sollten deshalb ihren CMOs wieder mehr Macht geben – und nicht nur auf Daten blicken, nicht nur auf die Kapitalmärkte schielen. Ein CMO ist eine extrem wichtige Figur, weil er oder sie die Verbindung schafft zu den Leuten, die das Produkt am Ende kaufen sollen.
Wie viel der Arbeit als CMO ist Bauchgefühl?
Wir hatten bei Looping einige Leute, die nichts anderes machten, als sich mit Daten auseinanderzusetzen. Daten sind wichtig. Inzwischen aber reduzieren wir hier etwas. Denn Daten sind nur einer von mehreren Wegen, eine Causa besser zu verstehen – sozusagen ein Röntgengerät für die Bedürfnislage der Zielgruppe. Es hat einen Grund, warum es nicht nur Radiologen gibt, die Röntgengeräte bedienen können, sondern auch Ärzte, die Röntgenbilder interpretieren und eine Therapie entwickeln. Solange eine Kaufentscheidung auch auf Emotionen beruht, ist es wichtig, auf der Verkaufsseite Menschen zu haben, die Emotionen verstehen, einschätzen und wecken können. Die eine Magie erzeugen. Daten und Zahlen sollten immer nur Mittel zum Zweck sein, nie Selbstzweck.
Wie wichtig sind einzelne Mitarbeitende für die Außenwahrnehmung?
Außen- ist immer auch Innenwahrnehmung. Und umgekehrt. Früher war vollkommen egal, was Kollege X für eine Meinung hat. Wenn er heute seine Meinung twittert, kann das dramatische Konsequenzen haben, auch für den Börsenkurs. Ich glaube, dass Einzelpersonen wichtig sind. Ich glaube aber auch, dass die Rolle des auf den sozialen Medien aktiven CEOs überschätzt wird. Es geht nicht darum, CEO und Mitarbeitende zu medialen Superstars zu machen, es geht nicht um Frequenz, nicht um Reichweite, nicht um Show, sondern darum, die Grundlinien der Unternehmenspolitik zu erklären, zu verstärken und zu personalisieren. Eine Marke sollte Gesichter haben. Diese Gesichter sollten erstens nie etwas anderes behaupten als das Unternehmen. Und sich zweitens immer erinnern: Kommunikation ist bei 99 % der Unternehmen Mittel zum Zweck. Nur für Verlage und Sender ist sie ein Selbstzweck. Kommunikation ist also nur wichtig, wenn etwas damit erreicht wird. Entscheidend dabei ist, dass die einzelnen Stimmen eines Unternehmens nach draußen koordiniert und systematisch sprechen. Alle in derselben Sprache, nur vielleicht mit unterschiedlichen Dialekten.
Was hilft, den eigenen Markenkern zu finden?
Es gibt ja die Idee von der Verfertigung der Gedanken beim Schreiben – Autoren und Autorinnen haben da also ein großes Privileg. Mir hat die Möglichkeit, zunächst für Guido Westerwelle und anschließend Tina Turner deren Autobiografien zu schreiben, enorm geholfen. Ein anderer Gedanke, den ich hilfreich finde: Wolfgang Schäuble hat mal gesagt, er versuche zunehmend, sich selbst im Status der Selbstironie zu begegnen. Das finde ich super.
Wen siehst du, wenn du dir selbst mit Ironie begegnest?
Jemanden, dem das noch nur eingeschränkt gelingt. Aber ich nähere mich dem Ziel zumindest in kleinen Schritten. Der bevorstehende Generationswechsel in den Führungspositionen der Looping Group wird mir hoffentlich dabei helfen, die eigene vermeintliche Wichtigkeit etwas differenzierter zu betrachten.
Hast du Angst vor dem Punkt, wo man Looping nicht mehr als die jungen Wilden wahrnimmt?
Ehrlich gesagt nicht. Einerseits, weil bei uns eine neue Generation sukzessive übernimmt und andererseits, weil Etabliertsein immer auch ein bisschen mehr Berechenbarkeit bedeutet. Wir sind jetzt bald 300 Leute und damit geht die irre Verantwortung einher, für all diese Leute jeden Monat das entsprechende Gehalt zu verdienen. Da gibt es Situationen – Bankgespräche, Liquiditätsplanungen, Personalförderung – da willst du nicht jung und wild sein. Da willst du verlässlich sein, verantwortungsvoll handeln können. Ich bin zudem auch weder jung noch wild. Aber wichtig ist, dass es in einem Unternehmen Raum für Menschen gibt, jung und wild zu sein. Dass die Jungen, Wilden nicht als Hofnarren gesehen, sondern ernstgenommen und genau dafür wertgeschätzt werden.
Was ist das Wichtigste, das du seit dem Start von Looping über dich selbst gelernt hast?
Dass die Fehler, die ich in meinem Berufs- und Privatleben mache, zusammenhängen. Die Defizite, die Gründe für Scheitern folgen einer Logik, die mit mir selbst zu tun hat. Diese Erkenntnis ist die Voraussetzung dafür, dass ich an mir selbst arbeiten kann. Nicht im Sinne eines Optimierungswahns à la Thomas Rabe von Bertelsmann, der in Interviews gerne ekstatisch von sich, seinem Rudergerät und einer ihn stets begleitenden Ingwerknolle erzählt. Nein, ich meine, an sich selbst zu arbeiten, um anderen das Leben leichter zu machen, ein angenehmeres Gegenüber zu werden. Das ist wichtig, weil es so raumgreifend ist: Es betrifft Beziehungen zu Kindern, Freunden, Bekannten, Geschäftspartnern. Und letztlich auch die Beziehung zu einem selbst. Da habe ich durchaus noch Aufholbedarf und einiges gelernt aufgrund der Extremsituationen der letzten sieben unternehmerischen Jahre. Weil ich gezwungen war, es zu verstehen, als ich nach dem Lockdown mit einem körperlichen Zusammenbruch im Krankenhaus gelandet bin, nachdem meine Mitgründer und ich zwei Monate nur um die Existenz des Unternehmens gekämpft hatten.
Gehst du seitdem anders mit deinen Mitarbeitenden um?
Wir haben einen großen Teamspirit, im Kernteam eine geringe Fluktuation. Die Leute hängen sich wahnsinnig rein. Da hilft es, dass es nicht aufgesetzt ist, wenn ich zu jemandem sage: Jetzt ist mal gut, geh bitte in Urlaub. Generell haben wir bei allem Leistungsdruck einen guten Zusammenhalt, ein Sich-Umeinander-Kümmern, das wirklich herzerwärmend ist – und nicht selbstverständlich im Agenturgeschäft. Aus der Krise haben wir alle, als Gesellschaft, nicht nur als Agentur, mehr mitgenommen als Digitalisierung von sozialer Interaktion in Zoom-Calls und Teams- Meetings. Die Krise hat uns auch die Möglichkeit gegeben, gut zueinander zu sein. Wem ging es denn nicht auch mal mies im Lockdown? Wer saß denn nicht in seiner Wohnung und wusste nicht, wie es weitergeht? Das hat uns vor Augen geführt: Füreinanderdasein ist essentiell. Extremsituationen geben uns immer auch die Möglichkeit, uns richtig zu verhalten.
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