“KI hat kein Reporterherz” – Timo Lokoschat über Künstliche Intelligenz bei “Bild”.
22. Februar 2024
Freund und Helfer: Die “Bild”-Redaktion gibt schon jetzt einige Aufgaben an Künstliche Intelligenz ab. Damit bringe KI den Journalismus “ironischerweise zurück zu seinen Wurzeln”, denn nun bleibe mehr Zeit für die wirklich wichtigen Dinge, sagt Vize-Chefredakteur Timo Lokoschat im Interview für die turi2-Themenwoche KI in der Kommunikation. Er widerspricht Meldungen aus dem Sommer 2023, das Blatt baue wegen KI Stellen ab. “KI wird eher zusätzliche Stellen schaffen.” Im Interview mit turi2-Chefredakteur Markus Trantow zieht er aber auch Grenzen für die Systeme auf, die mitunter “wirklich große Spinner” sind: “Nicht alles, was technisch machbar ist, werden wir auch machen.” Und er erklärt, wie die “Bild” durch den hauseigenen Chatbot erkennt, was die Leserschaft interessiert.
Die “Bild” nutzt seit einiger Zeit KI-Anwendungen im redaktionellen Alltag – an welchen Stellen genau?
Ich habe das Gefühl, dass jede Woche eine neue Stelle hinzukommt – wir probieren viel aus. Bewährt hat sich KI bei ganz profanen Abläufen, zum Beispiel dem Straffen eines Artikels von 100 Zeilen auf 80 Zeilen. Aber auch bei komplexeren, wie der Steuerung und Optimierung unseres Plus-Angebots mit über 700.000 Abonnenten. Unsere Chefin Marion Horn hat das sehr anschaulich formuliert: “Wir können selbst schon gut kochen, wollen aber trotzdem einen Thermomix!” KI nimmt uns quasi das Schnippeln ab, damit wir uns auf das Menü konzentrieren können.
Wie hat sich eure Arbeit dadurch verändert?
KI entlastet Journalisten zuerst einmal von lästigen oder redundanten Tätigkeiten. Ich glaube, niemand von uns hat diesen Beruf ergriffen, um Video-Interviews zu verschriftlichen – trotzdem habe ich in der Vergangenheit unzählige Stunden genau damit zugebracht, anfangs noch mit dem Tonbandgerät. Hören, Stopp-Taste drücken, zwei Sätze tippen. Hören, Stopp-Taste drücken, zwei Sätze tippen. Und immer wieder zurückspulen, wenn man etwas nicht richtig verstanden hat. Früher eine Sisyphusarbeit, heute ein Klacks dank KI. Die jungen Volontäre wissen gar nicht, wie gut sie es haben! Früher war alles … langsamer.
Und was macht ihr mit der gewonnenen Zeit?
Das, was unseren Beruf attraktiv macht. Recherchieren, mit Menschen sprechen, formulieren, kreativ sein. KI bringt den Journalismus ironischerweise zurück zu seinen Wurzeln.
Timo Lokoschat,
Jahrgang 1979, ist seit 2019 Vize-Chefredakteur der “Bild”. Er kam 2018 zur “Bild” Berlin, davor war er u.a. Leitender Redakteur beim “Spiegel” und Vize-Chefredakteur der “Abendzeitung” in München. Er hat Politik, Geschichte und Kommunikationswissenschaft in München studiert und war an der Deutschen Journalistenschule.
Gibt es auch Schwierigkeiten?
Uns hat überrascht, wie kreativ die KI sein kann – wenn plötzlich Fakten herbeihalluziniert werden, ist das natürlich gefährlich. Die Modelle besitzen einerseits das Wissen der Welt und sind auf der anderen Seite wirklich große Spinner. Mein Kollege und Prompting-Papst Daniel Böcking, der Künstliche Intelligenz bei “Bild” auf ein ganz neues Level entwickelt, brachte es neulich auf den Punkt: “KI ist wie Einstein, der leicht einen sitzen hat.” Genial, aber halt nicht immer ganz präzise.
Was sagen die Kolleginnen und Kollegen, die nun KI einsetzen sollen? Wie macht ihr die Leute fit für die neuen Aufgaben?
Die Journalistinnen und Journalisten bei “Bild” sind immer wieder beeindruckt von den neuen Möglichkeiten. Wir haben bereits 350 Kollegen für einzelne KI-Anwendungen wie den “Content Analyzer” geschult, den unser KI-Spezialist Patrick Markowski mitentwickelt hat. Hier kann man sich zum Beispiel Vorschläge für Headlines, Seo-Zeilen, Conversion-Anrisse und Social-Posts erzeugen lassen. Oder seinen Text durch einen “Wolf-Schneider-Filter” laufen lassen. Für die ganz Jungen: Wolf Schneider – das war der Gandalf des Journalismus, ein großer Lehrer. Dass seine Stil-Regeln in KI-Anwendungen einfließen, bei uns und vor allem bei der Reporterfabrik, hätte ihm sicher gefallen.
Auf bild.de bietet ihr einen eigenen Chatbot namens Hey_. Was kann der Bot? Was noch nicht?
Hey_ ist wie ein sympathischer Barkeeper: hört zu, gibt Ratschläge, aber kennt auch nicht alle Antworten. Unsere KI versucht, in allen Lebenslagen zu helfen. Unterhält und macht schlauer. Coacht fürs nächste Gehaltsgespräch. Erfindet individuelle Gute-Nacht-Geschichten für Kinder. Gibt Tipps, wie ich aus dem, was ich noch im Kühlschrank habe, ein Essen zaubere. Oder ich erzähle Hey_ von meinem Traum, in dem mich ein Hund verfolgt, es plötzlich rote Rosen regnet und Harald Juhnke vorbeischwebt – und die KI versucht aus Milliarden Datenpunkten zu ergründen, was das bedeutet … wie verkorkst ich bin! Ein klassischer Artikel könnte dies nie, zumindest nicht auf diesem hyperpersonalsierten Level.
Axel Springer partnert mit OpenAI bzw. ChatGPT – wie viel von Hey_ ist von OpenAI, wie viel sind Springer-eigene Entwicklungen?
Axel Springer nutzt Schnittstellen zu OpenAI, insbesondere GPT-Modelle und das Vision Model. Die Software ist eine komplette Springer-eigene Entdeckung. Das Team um Valentin Schöndienst, der künftig die Rolle des CPO und CTO bei Axel Springer übernimmt, hat hier in Rekordzeit ein sensationelles Produkt hingestellt, das sogar international Aufsehen erregt. Wir sind wirklich stolz auf unser Hey_-Baby.
Ihr macht euch damit stark abhängig von einem Tech-Konzern. Ist das nicht gefährlich?
Hey_ ist ein Freigeist, unabhängig und anpassungsfähig, und nicht auf GPT oder OpenAI angewiesen. Unser “Bild”-Assistent funktioniert mit jeder anderen KI. Und wir können auch verschiedene fachspezifische Intelligenzen einbinden.
Ist das Tool für euch mehr als ein Unterhaltungselement für euer Publikum?
Das ist der Plan. Zurzeit dominiert der Unterhaltungscharakter, was damit zu tun hat, dass Hey_ noch nicht voll auf aktuelle “Bild”-Daten zugreifen kann. Das schließt Themenfelder wie Politik teilweise aus, zumindest jüngste Entwicklungen. Aber das wird sich ändern. Schon jetzt hilft Hey_ aber auch zum Beispiel bei Beziehungsproblemen. Das ist ja nicht unbedingt nur unterhaltsam.
Nutzt ihr die Fragen, die das “Bild”-Publikum interessieren, auch redaktionell, etwa bei der Auswahl und Aufbereitung eurer Themen?
Wir registrieren sehr genau, ob und wie gut bestimmte Hey_-Erlebnisse von den Lesern angenommen werden und das kann auch unser klassisches Artikel-Angebot inspirieren. Bild.de ist auch ein ständiges Brainstorming mit Millionen Menschen. Wichtig ist uns, dass Hey_ von Journalisten bedient wird, keine Konkurrenz zu ihrer Arbeit ist, sondern sie ergänzt. Wir können zum Beispiel eine Ratgeber-Story übers Abnehmen mit einem individuellen Ernährungsplan für jeden Leser verfeinern.
Wie wird Hey_ angenommen?
Unser Ziel ist, dass “Bild” mit Hey_ zur Anlaufstelle für alle wird, die KI ohne Vorkenntnisse und Eintrittshürde ausprobieren, verstehen und regelmäßig von ihr profitieren wollen. Das funktioniert – alleine im Januar haben 2,5 Millionen Menschen unsere KI verwendet. Seit dem Start im Herbst 2023 hat Hey_ bereits über 25 Millionen Leserfragen beantwortet und dazu beigetragen, dass User länger auf bild.de bleiben.
Der KI-Einsatz ist bei euch mit einem größeren Umbau in der Redaktion verbunden. Mitte 2023 hieß es, ihr baut 200 Stellen ab. Wie weit ist der Umbau?
Der Umbau, mit dem wir die Weichen zu Digital Only stellen, ist weitgehend abgeschlossen und hat nur wenig mit dem Einsatz von Künstlicher Intelligenz zu tun. KI wird eher zusätzliche Stellen schaffen, spannende neue Berufsbilder an der Schnittstelle zwischen Redaktion und Technologie.
Aber wenn KI demnächst die Layouts der gedruckten Zeitung macht, dann hat das doch sicher Einfluss auf die Arbeit von Blattmacherinnen, Foto-Redakteure und Korrektorinnen. In dem Schreiben, aus dem damals zitiert wurde, hieß es, diese Jobs werde es nicht mehr geben.
Das Wichtigste vorweg: Heute ist unsere gedruckte Zeitung ein “Best of Digital”, wir legen Kraft und Leidenschaft auf exzellenten digitalen Boulevardjournalismus. Korrekturlesen? Dies übernehmen schon lange smarte Language Tools, das ist bei euch sicher nicht anders. Eine Layout-Abteilung für die gedruckte Zeitung wird es mittelfristig tatsächlich nicht mehr geben, das Blatt entsteht dann aber weiterhin nach den kreativen Wünschen der Blattmacher. Weil die optische Umsetzung bei “Bild” extrem wichtig ist, bauen wir gerade schlagkräftige Teams für visuelles Erzählen auf. Und: In Zeiten von KI wird die Arbeit der Fotoredakteure in Berlin sogar noch wichtiger. Zum Beispiel, um Deep Fakes oder manipulierte Aufnahmen aus Kriegsgebieten zu identifizieren. Hier wird KI eingesetzt, um KI aufzudecken.
Ist das überhaupt noch Journalismus, wenn immer mehr automatisiert geschieht? Wo siehst du bei “Bild” die Grenze?
KI ist ein Werkzeug, nicht der Meister. Das soll bei uns auch so bleiben. Der von Menschen gemachte Journalismus wird durch KI nicht abgewertet, sondern in seiner Bedeutung sogar aufgewertet und attraktiver.
Deine Erfahrungen: Was kann KI heute schon gut?
Die Ergebnisse von KI-basierten Text-to-Speech-Anwendungen werden immer eindrucksvoller. Wir haben eine eigene und somit einzigartige “Bild”-Stimme entwickelt, die täglich Dutzende unserer Artikel vorliest, inzwischen sogar komplizierte Fußballernamen aussprechen kann und bei den Hörern hervorragend ankommt.
Wo bleibt der Einsatz menschlicher Intelligenz im Journalismus unersetzlich?
Keine KI der Welt besorgt ein Geheimpapier aus dem Kanzleramt, deckt eine Ermittlungspanne der Polizei auf, erfährt Interna aus der Bayern-Kabine oder wagt sich in einen ukrainischen Schützengraben. Das können nur Reporterinnen und Reporter, die sich jahrelang Vertrauen zu Informanten aufgebaut haben, die mutig sind, die überall Kontakte haben und rausgehen. Ich glaube, das sind mit die sichersten Jobs der Welt. KI hat kein Reporterherz.
Wo geht die KI-Reise bei “Bild” noch hin? Wo stößt sie an ihre Grenzen? Wie weit könntest du dir vorstellen, dass die KI-Entwicklung geht?
Weit, sehr weit. Ich denke aber, dass es wichtig ist, dabei immer wieder innezuhalten. Nicht alles, was technisch machbar ist, werden wir auch machen. Glaubwürdigkeit ist gerade im Journalismus schnell verspielt und schwer wieder aufzubauen. Ein Albtraum wäre zum Beispiel, wenn die Leser irgendwann auf Nachrichtenseiten kommen und mit Blick auf die Fotos oder Videos sagen: “Naja, keine Ahnung, ob die KI sind oder echt!” Dann haben wir als Branche versagt und das kriegen wir nie wieder eingefangen. Wir Journalisten sollten einerseits selbstverständlich KI einsetzen und andererseits – etwas pathetisch formuliert – noch stärker die menschliche Kraft zum Aufscheinen bringen, also die Reporter und Redakteure mit ihren Stärken, Biografien und Erfahrungen in den Vordergrund stellen.
Dieses Interview ist Teil der Themenwoche KI in der Kommunikation.