“Der Unterschied zu Journalisten: Ich kenne die wirkliche Geschichte” – Medienanwalt Christian Schertz über Diskurs-Kultur und schlechten Journalismus.
4. Dezember 2023
Vor Gericht und auf hoher See:Christian Schertz ist einer der bekanntesten Anwälte in Deutschland – wenn er für seine oft prominenten Mandanten vor Gericht zieht, geht es meist gegen Medien. Im großen Interview mit turi2-Chefredakteur Markus Trantow erklärt Schertz, dass er sich sicher ist, in der Causa Lindemann auf der “richtigen Seite” zu stehen. Und er übt Kritik an den “sogenannten Qualitätsmedien”: So sieht er den “Spiegel” und die “Bunte” inzwischen in einer ähnlichen Liga, findet aber lobende Worte für die “Süddeutsche Zeitung” und die ARD. Hemmungen, gegen Medien vor Gericht zu ziehen, die er schätzt, hat er dennoch nicht: “Dann hätte ich auch den falschen Beruf gewählt.” Mit diesem Interview starten die Agenda-Wochen 2024 von turi2. Bis 17. Dezember blicken wir jeden Tag zurück auf das Krisenjahr 2023 und voraus auf 2024.
Christian Schertz, Sie sind Deutschlands renommiertester Medienanwalt. Sie haben schon gegen viele große Medien und Publisher geklagt. Können Sie die “Bunte” entspannt durchblättern? Den “Spiegel” zurückgelehnt lesen?
Beide Magazine sind für mich Arbeitspapiere – und beide sind aus meiner Sicht gar nicht mehr weit voneinander entfernt, so ist der “Spiegel” in den letzten Jahren mit seinen Inhalten auch boulevardesker geworden. Ich lese den “Spiegel” auch gar nicht mehr als Rezipient, weil ich zudem finde, dass die Qualität des Journalismus dort in den vergangenen fünf Jahren extrem nachgelassen hat und auch die Verletzungen von Persönlichkeitsrechten permanent zunehmen. Mitunter ist das dort mehr Aktivismus als Journalismus, der für mich mit ausgewogener Berichterstattung nicht mehr viel zu tun hat. Daher bedeutet der “Spiegel” für mich nicht selten einen Fall pro Woche – nicht mehr. Bei der “Bunten” ist das ähnlich. Auch dieses Magazin nimmt bewusst Rechtsverletzungen in Kauf, um Titelgeschichten zu machen, etwa indem es Paare zwangsoutet, auf der Titelseite Fotomontagen herstellt oder Unwahrheiten verbreitet. Ich habe aber neulich einmal versucht, mich auf einem Flug der “Bunte” nicht als Presseanwalt, sondern als Leser zu nähern. Ich mache das nur sehr, sehr selten. Dabei habe ich natürlich auch Geschichten gefunden, die ich interessant fand. Allerdings handelte es sich da um Artikel, die offensichtlich mit Zustimmung der Beteiligten entstanden waren.
Gibt es Medien, bei denen Sie Beißhemmungen haben, bei denen Sie nicht sofort klagen würden?
Nein. Es ist mir ziemlich egal, ob es sich um die sogenannten “Qualitätsmedien” handelt oder Boulevardmedien. Wenn Geschichten nicht stimmen, wenn in die Privatsphäre von Mandanten eingegriffen oder die Unschuldsvermutung missachtet wird, dann gehe ich auch zum Beispiel gegen die “Süddeutsche Zeitung” vor. Das Blatt schätze ich ansonsten sehr. Es ist für mich noch eines der wenigen journalistischen Produkte in Deutschland, das das wahrnimmt, was sich der Verfassungsgeber und die demokratische Gesellschaft unter der Vierten Gewalt vorstellen. Aber Beißhemmungen habe ich keine. Dann hätte ich auch den falschen Beruf gewählt. So habe ich etwa letzte Woche gegen die “SZ” eine Gegendarstellung und Richtigstellung auf der Medienseite durchgesetzt, da sie falsch berichtet hatte. Allerdings musste ich auch dort erst zu Gericht gehen, da die “Süddeutsche” die Gegendarstellung nicht freiwillig veröffentlicht hat, und einen entsprechenden Gerichtsbeschluss erwirken.
Aber gibt es nicht auch Fälle, in denen ein Anruf oder eine E-Mail reichen?
Was wir häufiger machen und was bei manchen Medien auch funktioniert, sind Hintergrundgespräche im Vorfeld von Berichterstattung, wenn wir wissen, dass wir unsere Argumente setzen können und dass fair berichtet wird. Mit manchen Redaktionen herrscht insofern ein professionelles Arbeitsverhältnis. Manchmal gibt es auch Fälle, in denen wir eine Falschbehauptung mit einem Anruf aus dem Netz bekommen. Oder es geht darum, alle Seiten zu Wort kommen zu lassen: Mitte November hatte ich etwa einen Fall, in dem die “FAZ” über eine gerichtliche Entscheidung gegen Julian Reichelt berichtet hat, die wir für das Bundesentwicklungsministerium erwirkt haben. Reichelt hatte Falschinformationen verbreitet. In dem Text kam der gegnerische Anwalt zunächst ausführlich zu Wort, wir dagegen nicht. Auf eine E-Mail hin hat der “FAZ”-Autor Michael Hanfeld dann unsere Stellungnahme auch aufgenommen.
Was schätzen Sie am Journalismus am Ende des Jahres 2023?
Ich schätze, dass es noch immer Medien gibt, die versuchen, uns als Bürgerinnen und Bürger umfassend zu informieren und die sogenannte “Grundversorgung” sicherzustellen. Der öffentlich-rechtliche Rundfunk leistet auf dem Gebiet noch immer viel. Allerdings müsste er darauf achtgeben, alle Meinungen, so schwer es auch fällt, die in der Gesellschaft vertreten werden und nicht extremistisch sind, zu Wort kommen zu lassen. Daher ist es mir besonders aufgefallen, dass sich neulich eine junge Journalistin im Kommentar bei den “Tagesthemen” – vorsichtig formuliert – gegen Zuwanderung ausgesprochen hat. Ein solcher Kommentar war für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk ungewöhnlich und natürlich ging über die Journalistin wieder ein erheblicher Shitstorm rüber. Ich fand es aber zumindest bemerkenswert und auch im Ergebnis richtig, dass die ARD auch solche Stimmen zu Wort kommen lässt. Ende November hat ein Kommentator bei ARD aktuell die Auflösung der Ampel und Neuwahlen gefordert – ein klares Statement und ungewöhnlich für die “Tagesthemen”. Die Öffentlich-Rechtlichen müssen aus meiner Sicht überhaupt nicht dem Wutbürger entsprechen oder den Volkszorn befriedigen, aber sie müssen aufpassen, dass die Kommentare und politischen Bewertungen nicht immer nur aus derselben Ecke kommen. Auch, um dem Vorwurf der Rechten, dass sich der öffentlich-rechtliche Rundfunk immer mehr in einer rot-grünen Bubble einrichte, zu entkräften.
Was nervt sie am Journalismus, wie er heute ist?
Mir geht wirklich gepflegt auf den Sender, wie der “Spiegel”, aber auch andere sogenannte Qualitätsmedien die in Staat und Gesellschaft handelnden Personen praktisch nur noch belehren und benennen, was sie angeblich alles falsch gemacht haben. So kommen wir nicht weiter. Diese Art von Journalismus, in dem es nur noch darum geht, anzuprangern, anzuklagen und oftmals auch vorzuverurteilen, ist mir wirklich fremd. Ich halte ihn auch gesellschaftlich für problematisch. Auch, dass auf Leute eingetreten wird, die schon am Boden liegen, wie etwa damals bei Christian Wulff, kann ich nur verurteilen. Ich habe gerade in diesem Jahr den Eindruck gewonnen, dass in manchen Redaktionen eine Policy zu herrschen scheint, nach der nur derjenige ein guter Journalist ist, der dazu beiträgt, Menschen Fehler nachzuweisen und sie zum Rücktritt zu bewegen. Ich würde mich freuen, wenn “Spiegel” und Co auch mal schauen würden, wo jemand etwas richtig macht oder etwas gut läuft. Ich glaube, dass die schlechte Stimmung in der Bevölkerung, die völlige Verrohung der Diskussions- und Debattenkultur auch mit den Medien zu tun hat, die von Klickzahlen und Reichweite bei Social Media getrieben arbeiten und deswegen in Überschriften bewusst verschärfen und skandalisieren. Deswegen kann ich Frank-Walter Steinmeier nur beipflichten, wenn er wie zuletzt zum 100. Geburtstag von Rudolf Augstein die Medien auffordert, sich nicht an der Empörungsgeschwindigkeit von Social Media zu beteiligen, sondern abzuwägen und sich die Dinge seriös anzugucken. Ich würde mir weiter wünschen, dass die erwähnten Medien auch schlicht einmal Fehler einräumen, insbesondere wenn sie falsch berichtet haben. Die Fähigkeit zur Selbstreflektion geschweige denn Selbstkritik scheint mir im Augenblick da aber noch überschaubar.
Mir hat mal eine Anwältin gesagt, dass 60 bis 80 % ihrer Arbeit darin besteht, ihren Mandanten zu erklären, was alles nicht möglich ist, die Mandanten also mit der Wirklichkeit zu konfrontieren und somit unnötige Anträge zu vermeiden. Wie ist das bei Ihnen?
An mich wenden sich meist Menschen, die sich in einer Krisensituation befinden. Entweder droht eine Veröffentlichung, die Unwahrheiten verbreitet, oder sie fürchten eine Berichterstattung über ihr Privatleben, was im Regelfall nicht zulässig ist. Manchmal kommen auch Mandanten, die sagen, dass sie einen Fehler gemacht haben und die Medien da dran sind. Zwar ist jeder Fall anders, ein paar Sachen sind aber immer gleich. Eine der wichtigsten Fragen ist: “Was ist die Geschichte?” Wir müssen also den Sachverhalt erfassen, um den es geht, ihn juristisch prüfen und unserem Mandanten sagen, was er machen kann. Darin sind wir mit 30 Jahren Erfahrung im Presse- und Persönlichkeitsrecht sehr schnell. Geschwindigkeit war schon immer wichtig, aber in Zeiten von Social Media arbeiten wir heute noch mehr gegen die Zeit. Wir klären, ob es Sinn ergibt, juristisch etwas zu machen. Das ist dann der Fall, wenn wir der Auffassung sind, dass in der Veröffentlichung eine Rechtsverletzung vorliegt und unser Mandant das nicht hinnehmen muss. Es gibt aber auch Fälle, in denen wir dem Mandanten sagen müssen, dass man nichts machen kann. Dann empfehlen wir auch mal, selbst an die Öffentlichkeit zu gehen, etwa mit einer Presseerklärung oder einem gezielten Interview-Angebot. Nicht selten müssen wir den Mandanten auch davon überzeugen, nicht an die Presse zu gehen und eine “Jetzt rede ich”-Geschichte zu machen. Denn das geht meistens nach hinten los. Mein Ziel ist immer, für meine Mandanten insofern das Beste herauszuholen, als das ihre Reputation nicht beschädigt wird. Man muss die Mandanten natürlich auch, gerade in Krisensituationen, an die Hand nehmen und etwa erklären: “Ich weiß, das ist jetzt super anstrengend und belastend für dich ist, aber nach Tausenden von Fällen kann ich dir sagen, dass du in einem Jahr zurückschauen wirst und dann wird der ganze Spuk vorbei sein.”
In der Regel stehen Sie heute auf Seiten derer, die sagen, dass Medien ihre Rechte verletzt haben. Das war nicht immer so: Sie haben auch mal Medien vertreten.
Als junger Anwalt, damals noch in Hamburg, habe ich für die Kanzlei gearbeitet, die die “Zeit” und den “stern” vertreten hat, stand also oft auf der Seite der Qualitätsmedien. Auch später in Berlin habe ich viele Jahre etwa den “Tagesspiegel” und die “Berliner Zeitung” vertreten. Grundsätzlich gilt: Ich stehe tatsächlich ganz gerne auf der “richtigen Seite”. Jetzt fragen Sie mich, was die “richtige Seite” ist: Ich bin sehr gerne auf der Seite, deren Rechte verletzt worden sind, und nicht auf der Seite, die Rechte verletzt. Aber auch, als ich noch Medien vertreten habe, waren diese nicht etwa immer Rechtsverletzer. Im Gegenteil. Das waren oft Fälle, in denen rechtmäßig berichtet wurde und berühmte Kollegen in Hamburg versucht haben, diese Geschichten tot zu klagen. Sie müssen sich aber, wenn Sie in dieser Liga hier spielen, irgendwann entscheiden, auf welcher Seite Sie stehen wollen. Sie können nicht heute Arzthaftungsrecht auf Seiten von Patienten und morgen auf Seiten von Kliniken machen oder mal Vermieter vertreten und dann wieder Mieter. Und ich habe mich schon vor vielen Jahren entschlossen, auf Seiten der von Berichterstattung Betroffenen zu stehen, auch weil es da sehr viel weniger Anwälte gibt als auf Seiten der großen Medienkonzerne mit ihren hochgerüsteten Rechtsabteilungen.
Gibt es Mandate, bei denen Sie im Nachhinein bereuen, dass Sie die angenommen haben?
Mir ist es ein paar wenige Male passiert, dass mir im Laufe eines Falles bewusst wurde, dass mir der Mandant nicht alles oder nicht die Wahrheit erzählt hat. Das erste, was ich jedem Mandanten sage: “Hier in diesem Raum bleibt alles unter uns. Aber ich muss alles wissen.” Das ist auch der Unterschied zu Journalisten: Ich kenne die wirkliche Geschichte.
Die wirkliche Geschichte aus der Perspektive Ihres Mandanten – aber eben nicht aus der anderen …
Wenn mir der Mandant die Wahrheit erzählt, dann kenne ich schon die wirkliche Geschichte. Denn die Fakten bleiben ja die gleichen. Die Bewertung mag dann auf der anderen Seite vielleicht eine andere sein.
Das heißt aber auch, dass es Mandate und Mandanten gibt, die Sie ablehnen?
Viele sogar. Ich vertrete etwa die AfD nicht und auch sonst keine Rechtsradikalen. Ich bin auch der Meinung, dass der gefährliche Hass im Netz zu großen Teilen von rechts kommt. Klar, auch von links kommt Hass, aber rechts sitzen die Brandstifter. Es gibt auch Kollegen, die mir vorwerfen, hehre Ziele zu formulieren, dabei müsse es auch Anwälte geben, die Hitler gegen Stalin vertreten – und umgekehrt. Aber das sehe ich eben anders. Ich stelle meinen Intellekt nicht Leuten zur Verfügung, deren Auffassung ich verachte.
Sie achten auf Ihren Ruf als Anwalt.
Ja, man braucht eine gewisse Mandanten-Hygiene. Bestimmte Mandate würden sich in unsere Außendarstellung einfach nicht einfügen. Ich beteilige mich auch nicht an irgendwelchen Trash-Prozessen im C-Liga-Bereich. Das interessiert mich einfach nicht.
Vor dem Hintergrund der Mandanten-Hygiene hat es mich ehrlicherweise gewundert, dass Sie Till Lindemann vertreten.
Mir war schon bewusst, dass wir für die Übernahme dieses Mandats von verschiedenen Seiten angefeindet werden würden. Aber warum hätten wir Till Lindemann nicht vertreten sollen? Zumal sich die Kernvorwürfe als nicht haltbar erwiesen haben. Wir haben erfolgreich gegen die meisten Medien geklagt. Wir haben die “Spiegel”-Berichterstattung in großen bzw. entscheidenden Teilen untersagt, auch die der “Süddeutschen Zeitung” und der ARD. Und inzwischen werden viele Stimmen laut, die den Medien Vorverurteilung vorwerfen. Man hat Till Lindemann auf Titelseiten zum Monster gemacht – das ist menschenverachtend und vorverurteilend, so geht es einfach nicht.
Sie haben für dieses Mandat also Gegenwind bekommen.
Ich selbst bin auf der Straße von Menschen angesprochen worden, warum ich solche Fälle vertrete. Darauf habe ich dann sinngemäß geantwortet, dass wir uns noch immer in einem Rechtsstaat befinden und das jeder, der einem Vorwurf ausgesetzt ist, sich einen Anwalt nehmen kann und wir noch nicht in China leben würden. Dann war Ruhe. Und ich bin der Überzeugung, dass es auch meine verdammte Pflicht als Rechtsanwalt ist, derartige Fälle zu übernehmen. Und auch bei diesem Fall bin ich mit mir vollends im Reinen und weiß, dass ich auf der richtigen Seite gestanden habe.
Von investigativ arbeitenden Kolleginnen und Kollegen hört man, dass kaum eine Recherche bzw. deren Veröffentlichung heute ohne juristischen Streit abgeht. Ist der Journalismus so schlecht geworden oder sind die Betroffenen heute streitlustiger?
Da kommen mehrere Parameter zusammen: Der Journalismus ist in der Tat schlechter geworden, weil nicht mehr so viel Geld für Recherche da ist. Dazu kommt ein höherer Zeitdruck, weil womöglich jemand anderes die Geschichte bringt und man sie selbst dann nicht als erster hat. Und dann gibt es nicht nur den Wettbewerb untereinander, sondern auch den mit Social Media, sodass heute Geschichten schneller veröffentlicht werden und die Prüfung manchmal unterbleibt. Hinzu kommt, dass es noch immer Verlage gibt, deren Kassen gut gefüllt sind und die für eine besonders harte Schlagzeile auf dem Titel kalkulierten Rechtsbruch begehen. Auch weil sie wissen, dass sie dann 100.000 Auflage mehr verkaufen. Das sind dann vor allem Boulevard-Titel oder die Yellows.
Aber auch bei Qualitätsmedien gibt es Anwältinnen und Anwälte, die vor der Veröffentlichung den Text lesen, oft sogar freigeben müssen. Warum wird heute trotzdem so viel juristisch gestritten?
Die Anwälte auf Medienseite wollen eben oft auch sicherlich keine Programm-Verhinderer sein und dann winken sie Sachen durch, die auf der Seite der Betroffenen-Anwälte rechtlich nicht haltbar sind. Und auch insgesamt hat sich der Ton mehr verhärtet. Bestimmte Geschichten, die dieses Jahr im “Spiegel” erschienen sind, wären vor zehn Jahren einfach dort nicht erschienen. Da bin ich mir ziemlich sicher. Und natürlich hat es sich herumgesprochen, dass man Berichterstattung, von der man betroffen ist, nicht einfach hinnehmen muss, sondern dass man etwas dagegen tun kann. Als ich vor 30 Jahren anfing, haben sich – wenn überhaupt – Prominente gegen Berichterstattung gewehrt. Heute wissen auch ganz normale Bürger, die durch einen Schicksalsschlag in die Medien geraten, dass sie nicht alles hinnehmen müssen. Das gleiche gilt für die Politik- und die Wirtschaftselite. Früher hat vielleicht noch ein Anruf beim Chefredakteur gereicht, um eine Geschichte zu drehen oder zu verhindern. Das ist heute oft nicht mehr möglich. Wenn Medien die Betroffenen kontaktieren, sind die Geschichten meist schon fertig und die Redaktionen wollen nur noch ein Dementi einsammeln, damit sie sich nicht angreifbar machen. Und da heißt es dann oft: “Herr Schertz, übernehmen Sie.”
Ich erinnere mich, von Ihrer Kanzlei hin und wieder “presserechtliche Informationsschreiben” erhalten zu haben. Darin werden Medien pauschal darauf hingewiesen, dass über bestimmte Themen nicht berichtet werden darf – oft schon bevor eine Meldung überhaupt veröffentlicht ist. Sind Sie ein Verhinderer freier Berichterstattung?
Nein, auch wenn mir das hin und wieder vorgeworfen wird. Das presserechtliche Informationsschreiben hat einen Sinn: Wenn irgendwo eine Geschichte erscheint, die eklatant rechtswidrig ist, dann weisen wir darauf hin und wollen damit verhindern, dass es eine Übernahme und Weiterdrehe in anderen Medien gibt. Und dass wir – wenn doch – dagegen vorgehen. Damit verhindere ich keine ansonsten rechtmäßige Berichterstattung. Vielmehr informiere ich über eine Rechtsverletzung durch ein Medium, um zu verhindern, dass andere Medien diese Rechtsverletzung perpetuieren. Das könnte man euphemistisch auch als Service bezeichnen, auch wenn die Medien das vielleicht anders sehen.
Die werden das wohl eher als Drohung auffassen …
Diesen Effekt sehe ich eigentlich nicht. In den Großverlagen sind die Kriegskassen noch immer gut gefüllt und die Geschichten erscheinen ja dennoch. Es gelingt uns immer mal wieder, mit Presseerklärungen eine Weiterverbreitung zu verhindern, indem wir etwa schreiben, dass eine Behauptung in Zeitung XY falsch ist. Manchmal bekommen wir auch Anrufe aus Redaktionen oder von seriösen Presseagenturen, die fragen, ob eine Geschichte über einen Mandanten stimmt. Und wenn wir sagen “Nein”, sehen diese nicht selten zu Recht von einer Übernahme ab.
Sie sind inzwischen selbst eine Medien-Persönlichkeit, waren Berater einer ARD-Serie mit eigenem Cameo-Auftritt. Sie waren Gegenstand von Satire u.a. als “Scherzanwalt Dr. Christian Witz” bei Jan Böhmermann. Was muss passieren, damit Sie in eigener Sache gegen Medien vorgehen?
Ich gehe selber gegen Berichterstattung vor, wenn etwa meine Privatsphäre verletzt wird. Insofern habe ich in diesem Jahr vor dem Bundesgerichtshof gegen die “Bunte” gewonnen und dieser eine Berichterstattung über mich untersagt. Ich gehe aber auch gegen Falschbehauptungen über meine Person vor und setze dann auch Gegendarstellungen durch. Eine meiner Lieblingsgegendarstellungen war vor ein paar Jahren gegen die “Super Illu”, die geschrieben hatte, Christian Schertz lasse sich gerne als “Prominentenanwalt” bezeichnen. Da ich mich aber gar nicht gerne als “Prominentenanwalt” bezeichnen lasse – dieser Begriff ist im Nahbereich von Schönheitschirurg – und das zuvor in einem anderen Magazin in einem Interview auch gesagt hatte, musste die “Super Illu” eine Gegendarstellung drucken. Und ich bin auch mal gegen das “Manager Magazin” vorgegangen, das mich zum Coverboy einer Geschichte über Medienanwälte gemacht hatte, und mich als Anwalt mit einem “Walter-Ulbricht-Bart” beschrieb. Aber wie sie sehen, trage ich einen Vollbart und das schon seit vielen Jahren. Das mag man vielleicht albern finden, aber ich habe dann gesagt, dass sie mich gerne als “Kettenhund des deutschen Geld- und Wirtschaftsadels” bezeichnen dürfen, wie es in dem Artikel auch geschehen ist. Aber wenn sie mein Äußeres beschreiben, dann müssen sie schon sauber recherchieren. Es ging ja bewusst um eine gewisse Verächtlichmachung. Und deswegen musste das “Manager Magazin” eine Gegendarstellung drucken, die einen gewissen Erheiterungseffekt hatte.
War es für Sie eigentlich eine Genugtuung, dass sich Jan Böhmermann erst über Sie als “Scherzanwalt Dr. Witz” lustig gemacht und sie dann, als es gegen Erdogan ging, als Anwalt engagiert hat?
Ich erinnere mich noch sehr genau daran: Mich hatten Freunde auf die Satire-Figur aufmerksam gemacht, die damals häufiger aufgetreten ist. Später gab es sogar noch ein Lied “Hallo, Herr Scherzanwalt”. Ich hatte mir kurz überlegt, wie ich das eigentlich finde und – als wäre ich mein eigener Klient – gefragt, wie die Rechtslage ist und ob ich das hinnehmen muss. Schließlich habe ich befreundete Klienten, die im Comedybereich tätig und auch nicht ganz unbekannt sind, gefragt, wie sie das finden. Und die haben mir gesagt, dass man mehr eigentlich kaum erreichen kann. So habe ich das dann auch bewertet. Geraume Zeit später ist dann dieses Mandat von Jan Böhmermann im Streit mit Erdogan an mich herangetragen worden und ehrlicherweise habe ich es erst für den Weiterdreh der Satire als Realsatire gehalten. Als Genugtuung habe ich das aber nicht empfunden. Ich habe das Mandat angenommen, weil ich den Fall fachlich extrem spannend fand. Und ich bin bis heute der Überzeugung, dass das Bundesverfassungsgericht den Fall nur deswegen nicht zur Entscheidung angenommen hat, weil es politisch nicht opportun gewesen wäre, gegen Erdogan zu entscheiden.
Jan Böhmermann besingt in “Hallo, Herr Scherzanwalt” im “Neo Magazin Royale” seine Satire-Figur “Scherzanwalt Dr. Christian Witz”.
Lassen Sie uns zum Ende unseres Gesprächs noch über den juristischen Nachwuchs reden: Sie unterrichten an der juristischen Fakultät in Potsdam Medienrecht. Wie nehmen sie die jungen Leute wahr? Haben sie noch den Biss, den man für den Job des Anwalts braucht? Gerade der jungen Generation wird ja gerne vorgeworfen, dass sie eher freizeitorientiert ist.
Die Vorwürfe, die man der jungen Generation macht, kann ich wirklich nicht in jedem Punkt unterschreiben. Ich erlebe – ganz im Gegenteil – jede Woche 80 Studierende, die wirklich sehr interessiert an dem Rechtsgebiet sind und an dem, was ich mache. Das ist auch so, wenn ich Referendare und junge Anwältinnen und Anwälte bei uns in der Kanzlei habe. Aber die merken schon auch, dass es in unserem Geschäft nicht einfach ist, eine Work-Life-Balance hinzubekommen. Wir können einfach nicht um 16 Uhr nach Hause gehen. Und dennoch vermittle ich, dass das Jura-Studium eins der besten Studien ist, die man absolvieren kann. Es ist zwar hart und braucht sehr viel Disziplin, sich da durchzukämpfen, insbesondere durch den Stoff. Aber wenn man es erstmal hinter sich hat, dann wartet das pralle Leben, egal ob als Anwalt oder als Richter auf einen. Der Anwaltsberuf ist auch noch einer dieser archaischen Berufe, in denen man rausreitet, um im Streit um das beste Argument zu gewinnen.
Das heißt, mit 40 Stunden pro Woche kommen Sie vermutlich nicht aus. Wie ist es mit 60?
Ach, wissen Sie, wenn Sie den Beruf so begreifen, wie ich ihn begreife, sind Sie eigentlich immer im Job. Es ist auch mehr Berufung als Beruf. Einige Mandanten, die ich seit Jahrzehnten begleite, haben meine Handynummer und die rufen mich an, wenn’s brennt. Das kann auch schon mal am Samstagabend um 20 Uhr oder am Sonntagmorgen um 6 sein. Aber genauso nehme ich mir mal in der Woche eine Auszeit für zwei Stunden und gehe an die frische Luft oder besuche eine Kunstausstellung. Das ist das Tolle am Anwaltsberuf: Ich bin frei. Über mir ist der Himmel. Ich habe keinen Chef über mir, vor dem ich mich rechtfertigen muss. Und das ist auch einer der Gründe, aus dem ich diesen Beruf ergriffen habe.
In vier Wochen ist das Jahr 2023 vorbei. Das Jahr war für viele Menschen ein schweres. Was wünschen Sie sich für 2024?
Frieden in der Ukraine. Frieden in Israel. Ich würde mir wünschen, dass dieser Wahnsinn und das Sterben aufhören. Aber auch der Hass, den wir auf der Straße erleben: Dass wir schon wieder so weit sind, dass Davidsterne in Deutschland an Fassaden geschmiert werden, wo Juden leben, um sie einzuschüchtern, das hätte ich wirklich nicht für möglich gehalten.
(Fotos: Zerbor/Shotshop/picture alliance, PR)
Dieses Interview ist Teil der Agenda-Wochen 2024. Bis 17. Dezember blickt turi2 in Interviews, Podcasts und Gastbeiträgen zurück auf 2023 und voraus auf 2024.