“Es muss immer krasser werden, damit die Menschen hinschauen” – Paul Ronzheimer über Krieg und Frieden.
11. Oktober 2023
Graustufen: “Bild”-Reporter Paul Ronzheimer bringt den Krieg auf unsere Smartphone-Screens und reist dafür um die Welt. Mit turi2-Chefredakteur Markus Trantow macht er Halt in Köln. Vor dem Dom sprechen sie über Frieden, Gott, Medien-Monster – und die Frage, ob man als Journalist eine Seite wählen muss.
Wir treffen dich auf Durchreise in Köln. Kiew, Budapest, Chemnitz, Berlin – das sind nur einige deiner Stationen in den vergangenen Tagen. Wie lange brauchst du morgens beim Aufwachen, um zu realisieren, wo du gerade bist?
Es ist schon passiert, dass ich dachte, ich wäre in der Ukraine und tatsächlich war ich in Ungarn oder Polen. Das kommt vor, wenn ich in kurzer Zeit an sehr vielen verschiedenen Orten bin. Es ist fast komisch, wenn ich zuhause bin. Ich war so wenig in Berlin in den vergangenen beiden Jahren, dass ich da gar nicht mehr richtig zur Ruhe komme.
Wo schläfst du besser – in Kiew oder in Köln?
In Kiew. Ich habe zuletzt die meiste Zeit des Jahres in der Ukraine verbracht. Ich würde zwar nicht sagen, dass ich mich da zuhause fühle, aber ich kenne mich da im Moment einfach am besten aus. Klar, es gibt mehrmals pro Nacht Luftalarm. Aber ich gehe da eigentlich nicht mehr in den Schutzkeller. Kiew ist eine Millionenstadt. Da musst du schon sehr, sehr viel Pech haben, damit dich eine Rakete trifft. Das Risiko finde ich kalkulierbar.
Paul Ronzheimer im turi2 Videofragebogen.
Ist bei dir eine gewisse Gewöhnung an das Leben im Krieg eingetreten?
Absolut. Ich bin übrigens sehr froh darüber, dass wir in der Berichterstattung bisher nicht nachgelassen haben – auch andere deutsche Medien nicht. Denn anderthalb Jahre Krieg sind schon eine sehr lange Zeit. Da so intensiv dranzubleiben, ist nicht selbstverständlich. Wenn ich an andere Konflikte denke, ist die Aufmerksamkeitsspanne leider deutlich geringer, etwa in Afghanistan oder Syrien, über die wir im Moment kaum noch sprechen.
Leichtes Gepäck: Ob Urlaub oder Kriegsgebiet – was Paul Ronzheimer zum Arbeiten und Leben braucht, passt in seine Ledertasche
Welche Bedeutung hat für dich als Kriegsreporter der Frieden?
Der Frieden hat für mich einen riesigen Wert – gerade mit Blick auf die Ukraine, in der es schon sehr lange keinen Frieden mehr gibt. Ich bin ja nicht nur Reporter, sondern auch Mensch. Ich habe dort viele Freunde, viele haben in den vergangenen anderthalb Jahren Menschen verloren, die ihnen lieb waren. Ich selbst habe auch Kollegen verloren. Deswegen wäre es für mich das Schönste, wenn es dort endlich Frieden gäbe. Was die Arbeit als Reporter angeht: Ich bin schon seit fast 20 Jahren Journalist, habe viele verschiedene Sachen gemacht. Und ich würde sehr gerne mal wieder in Länder reisen, die von der Berichterstattung aktuell vergessen werden.
Wir sitzen hier im Schatten des Kölner Doms. Gehst du in die Kirche?
Ich bin als Jugendlicher sehr viel in die Kirche gegangen, weil ich Kirchenorganist war. Ich habe bei Gottesdiensten, Beerdigungen und Hochzeiten gespielt und mir so im Alter zwischen 14 und 17 Jahren ein erstaunlich gutes Taschengeld dazuverdient. In der Zeit habe ich auch viele Predigten gehört. Heute habe ich den Glauben ein bisschen verloren. Ich glaube, wenn man so viel Schreckliches gesehen hat wie ich und auch privat einiges durchgemacht hat – mein bester Freund ist sehr früh an Krebs gestorben – dann zweifelt man irgendwie am Glauben.
Paul Ronzheimer
Jahrgang 1985, wächst im ostfriesischen Aurich auf. Nach dem Abitur macht er ein Volontariat bei der „Emder Zeitung“. 2008 wechselt er an die Axel-Springer-Akademie in Berlin. Bis 2012 ist Ronzheimer Berliner Parlamentsreporter für die „Bild“. 2012 wird er Chefreporter Politik und spezialisiert sich auf Kriegs- und Krisenberichterstattung. Unter Ex-„Bild“-Chefredakteur Julian Reichelt steigt Ronzheimer 2019 zum „Bild“-Vize auf. 2023 befördert Springer ihn zum journalistischen Aushängeschild der Marken „Bild“, „Welt“ und „Politico“
Dann stellst du dir vermutlich wie viele Menschen die Frage, warum Gott, wenn es ihn denn gibt, das alles zulässt?
Ja, darüber habe ich viel nachgedacht. Daher kommt wahrscheinlich auch der Zweifel. Ich bin auch immer noch in der Kirche. Und wenn ich in der Heimat in Ostfriesland bin, dann gehe ich auch ab und zu noch in die Kirche. In Berlin gehe ich nicht und in der Ukraine auch nicht. Aber wenn ich dort auf Beerdigungen und Trauerfeiern bin, merke ich schon, dass den Soldaten und ihren Angehörigen der Glaube daran, dass die Seele weiterlebt, sehr viel bedeutet.
Schickst du in Krisensituationen manchmal Stoßgebete zum Himmel? Du bist ja in der Ukraine schon beschossen worden, unter anderem im Auto.
Nein, da ist man eher darauf konzentriert, da heil durchzukommen, schnell zu fahren oder sich wegzuducken. Ich denke eher mal daran, dass meine Mutter mit mir in solchen Momenten wahrscheinlich sehr böse ist. Sie sagt mir immer, dass ich mich nicht in Gefahr bringen soll. Und dann habe ich ein schlechtes Gewissen ihr gegenüber.
Schätzen wir in Mitteleuropa die Tatsache zu gering, dass wir seit fast 80 Jahren in Frieden leben?
Ja, gerade wenn ich meine oder jüngere Generationen nehme, schockiert es mich, wie schnell das Interesse an dem, was in der Ukraine passiert, wieder nachgelassen hat. Ich erinnere mich an die ersten Tage des Krieges. Da haben auch Freunde von mir, die sonst politisch eher nicht interessiert sind, ihre Profilbilder geändert oder waren an der Grenze und haben geholfen. Davon ist wenig übrig. Es fehlt das langfristige Interesse, auch die Beschäftigung damit, welche Konsequenzen deutsche Politik für die Situation in der Ukraine hat. Dieses Desinteresse zeugt davon, dass man hier in Deutschland in einer Selbstverständlichkeit lebt, dass am Ende alles schon irgendwie passt.
Machen wir uns angesichts dessen, was in der Ukraine passiert, etwas vor, was unser Sicherheitsgefühl angeht?
Ich glaube schon, dass wir dadurch, dass wir Teil der Nato sind, sehr viel sicherer sind als die Ukraine, vielleicht auch sicherer als die osteuropäischen Staaten. Eine hundertprozentige Sicherheit gibt es aber nie. Deswegen ist es sehr wichtig, dass sich die Gesellschaft wandelt und wappnet: Wir müssen die Aversion gegen alles Militärische, die es in vielen Teilen der Gesellschaft gibt, überwinden. Ich war selbst auch nicht bei der Bundeswehr, aber ich glaube, wir brauchen die Bundeswehr, die Polizei und den Staat, um geschützt zu sein.
Hierzulande erleben wir den Krieg vor allem auf Bildschirmen – zwischen TikTok-Videos und Netflix-Serien. Das Existenzielle, das Echte, konkurriert mit dem Fiktionalen und der Unterhaltung um unsere Aufmerksamkeit. Wird es dadurch marginalisiert?
Den Kosovokrieg vor 25 Jahren oder den zweiten Irakkrieg haben wir ausschließlich auf dem TV-Bildschirm und in Zeitungen wahrgenommen. Es ist schon möglich, dass wir uns mit den Kriegen damals konzentrierter befasst haben. Dass uns die Ereignisse mit dem Smartphone heute näher sind, hat einerseits die Folge, dass wir uns kurzzeitig intensiver damit befassen, andererseits besteht die Gefahr abzustumpfen. Ich merke das zum Beispiel bei der klassischen Reportage aus dem Kriegsgebiet. Wenn ich mit Menschen spreche, die ausgebombt wurden und das aufschreibe oder ein Video produziere, ist das Interesse mittlerweile geringer. Das war zu Beginn des Krieges anders. Mein Gefühl ist, dass es immer krasser werden muss, damit die Menschen hinschauen. Oder es ist die große Analyse, die interessiert: Greift Putin auch uns an? Was passiert mit Wagner-Chef Prigoschin? Wir Journalisten haben die Verantwortung, die Geschichten zu finden, die die Menschen interessieren, oder sie so zu erzählen, dass sie Interesse wecken.
Wie teilst du deine Aufmerksamkeit ein? Schaust du in der Ukraine, um abzuschalten, auch mal Netflix?
Ja, das kommt vor, zum Einschlafen. Ansonsten bin ich fast ununterbrochen beschäftigt: Ich treffe Leute, führe Gespräche, arbeite an aktuellen Geschichten. Ich versuche darüber nachzudenken, was am nächsten Tag und in den kommenden Wochen wichtige Geschichten werden. Auch dafür, dass ich so viele verschiedene Plattformen bediene, geht viel Zeit drauf. Das Schlimmste wäre für mich, wenn man in so eine normale Alltagsroutine kommen würde. Deswegen versuche ich eigentlich immer, mich zu quälen.
Also hast du vermutlich eine wahnsinnige Bildschirmzeit?
Ja, es sind viele Stunden. Ich traue mich gar nicht, da draufzuschauen. Aber im Urlaub versuche ich immer, das Smartphone tagsüber im Hotel zu lassen. Aber das ist nicht leicht.
Was ist deine wichtigste Informationsquelle, wenn du in der Ukraine bist?
Meine wichtigsten Quellen sind eigene Informanten, die ich über Signal, WhatsApp oder Telegram erreiche – per Textnachricht oder als Gespräch. Und danach steht bisher Twitter ganz weit oben. Wobei ich merke, dass sich das verändert. Die Timeline ist teilweise ganz schön kaputt. Auch dadurch, dass sich irgendwelche Trolle inzwischen einen blauen Haken kaufen können. Und man hat ja noch im Kopf: Blau ist gleich seriös. Dennoch glaube ich, dass Twitter noch für lange Zeit das schnellste Medium bleiben wird. Neben Telegram für die russischen Kanäle.
Gibt es in den umkämpften Gebieten überhaupt Internet?
Kaum, da hilft meist nur Elon Musk mit Starlink. Die Antenne für das Satelliten-Internet haben wir teilweise auf dem Autodach angebracht und darüber lassen sich via Skype sogar Liveschalten machen. Eine Chance auf Mobilfunk-Internet gibt es in den wirklich umkämpften Gebieten selten. Das gilt auch für die ukrainischen Soldaten: Wenn sie im Feld sind, haben sie kein Internet. Wenn sie aber in ihre Stellungen zurückkehren, dann gibt es dort Starlink.
Welche Rolle spielt Social Media im Krieg für die Informationsbeschaffung?
Auf Twitter und Telegram zeichnen sich Entwicklungen und Ereignisse oft schon eine halbe Stunde oder noch früher ab, bevor sie bei Agenturen wie Reuters oder AP auftauchen. Und das ist wichtig, wenn wir entscheiden müssen, wo wir hinfahren. Bei der Zerstörung des Kachowka-Staudamms war das zum Beispiel so. Social Media hilft aber auch bei der Recherche. Ich erinnere mich an den März. Da ist das Video von der Erschießung eines unbewaffneten, ukrainischen Soldaten viral gegangen, der den Russen „Ruhm der Ukraine“ zugerufen hatte. Wir haben versucht, seine Familie ausfindig zu machen und über Social Media seine Mutter gefunden.
Sind soziale Netzwerke im Krieg also eher Segen als Fluch?
Social Media ist beides. Segen für Journalisten bei der Informationsbeschaffung. Fluch, weil da so viel Propaganda möglich ist. Wenn wir nur mal unsere eigentlich aufgeklärten Gesellschaften nehmen, in denen es ja – anders als in Russland – kein Propaganda-Fernsehen gibt, wundert es mich schon, welchen dubiosen Kanälen Menschen folgen und glauben. Für diese Leute sind wir alle Propaganda-Trottel. Wenn es Social Media nicht gäbe, dann wäre auch dieser Raum für Fake News und Verschwörungsmythen nicht vorhanden. In Krisensituationen wie dem Krieg oder der Flüchtlingskrise merkt man erst, welche Monster in Form von sozialen Medien erschaffen wurden.
Wo verläuft für dich die Grenze zwischen Berichterstattung und Propaganda?
Darüber mache ich mir tatsächlich öfter Gedanken und glaube, dass wir uns als Journalisten immer mehr selbst kontrollieren und hinterfragen müssen. Als jemand, der sicher extrem pro Ukraine eingestellt ist, habe ich zum Beispiel Annalena Baerbock im Interview gefragt, wie sie Familien, die unter der Inflation leiden und nicht in den Urlaub fahren können, die 700 Millionen Euro teure Waffenhilfe für die Ukraine erklärt. Obwohl ich diese Hilfe befürworte. Ich glaube auch nicht, dass jemand, der meint, dass die Ukraine den Krieg nicht gewinnen kann, automatisch ein Putin-Freund ist. Wir müssen aufpassen, dass wir nicht jede kritische Äußerung als Propaganda abstempeln. Denn ich glaube, dass diejenigen, die die AfD oder die Linkspartei wählen, sich medial wenig wiederfinden – zum Beispiel in der Debatte um die Ukraine. Und da sind wir dann wieder im sozial-medialen Raum, wo alles so radikalisiert ist, dass wir womöglich Gefahr laufen, diese Menschen komplett zu verlieren.
Sesshaft: Paul Ronzheimer, der nicht an jedem Morgen weiß, wo er gerade aufwacht, im Gespräch mit Markus Trantow
Das erste Opfer eines jeden Krieges ist die Wahrheit – stimmt der Satz?
Den finde ich zu abgedroschen. Diesen Satz höre ich auch immer von Leuten, die glauben, dass wir Journalisten aus dem Krieg nicht alles berichten dürfen. Denn da gibt es große Unterschiede zwischen Russland und der Ukraine. Ich war zuletzt 2015 in den sogenannten “Separatistengebieten“ unterwegs, damals hat man Jagd auf mich gemacht, um mich festzunehmen oder zu töten. Wir sind da nur auf sehr verschlungenen Wegen herausgekommen. Auch in der Ukraine ist der Zugang nicht immer ganz einfach, wenn es etwa um die Front geht oder die Frage, wie frei man mit Soldaten sprechen darf. Aber es ist nicht vergleichbar mit Russland. Wir waren zum Beispiel in einem ukrainischen Krankenhaus, in dem kriegsversehrte Soldaten behandelt werden. Es war nicht ganz einfach, da reinzukommen, aber wir konnten alles frei aufschreiben und berichten. Und auch im Rahmen der Gegenoffensive im Sommer habe ich mit Soldaten gesprochen, die vieles sehr skeptisch sehen. Im Februar hatte ich exklusiv über den Streit zwischen Präsident Selenskyj und seinem Oberbefehlshaber Saluschnyj über die Verteidigung von Bachmut berichtet. Natürlich war Selenskyj damals wütend auf mich. Aber er hat mir anschließend trotzdem wieder ein Interview gegeben.
Das liegt doch aber zum Teil auch an deiner Sonderrolle. Immerhin hast du mit „Bild“ die größte Medienmarke Europas im Rücken.
Ja, das mag sein. Wobei ich auch finde, dass die ukrainischen Kolleginnen und Kollegen einen tollen Job machen. Sie haben zum Beispiel viel und kritisch über die hohen Verluste in Bachmut berichtet. Und auch sonst habe ich das Gefühl, dass das Selbstbewusstsein der Kollegen seit dem Krieg noch mal gewachsen ist, gerade wenn es darum geht, die Politik zu kritisieren. Trotzdem versucht Selenskyj sicher, die Berichterstattung in seine Richtung zu lenken. Und das finde ich problematisch.
Gerade in der Ukraine hast du viele persönliche, auch freundschaftliche Kontakte. Einerseits ist persönliche Nähe wichtig, um Informationen zu bekommen. Andererseits besteht auch die Gefahr, instrumentalisiert zu werden. Wie hältst du die Balance?
Indem ich so arbeite, wie ich als Journalist immer arbeite: Wenn es eine Geschichte gibt, dann schreibe ich sie auf oder berichte davon im TV. Ich glaube, dass mich da der Lokaljournalismus abgehärtet hat. Ich habe 2005 bis 2007 bei der „Emder Zeitung“ als Sportreporter gearbeitet und hatte meinen Spaß daran, Interna aus der Kabine von Kickers Emden aufzuschreiben. Wenn ich dann morgens beim Bäcker war und die Zeitung gekauft habe, ist die Bäckersfrau immer wütend gewesen und hat geschimpft: „Warum schreiben Sie immer so schlecht über Kickers?“ Und natürlich erlebe ich das auch in der Ukraine. Mich hat zum Beispiel mal Vitali Klitschko gefragt, warum wir in einem Fall so intensiv über Kriegsverbrechen der Ukraine berichten, die seien doch gar nicht vergleichbar mit dem, was Russland mache. Da habe ich ihm gesagt, dass das der Unterschied zwischen Journalismus und Propaganda ist. Wir berichten natürlich auch, wenn auf der ukrainischen Seite etwas Unrechtes passiert. Natürlich habe ich eine tiefe Verbindung zu dem Land. Aber das kann eben auch bedeuten, dass man noch mehr aufschreiben will, was da wirklich vor sich geht.
Den Dom im Rücken, den Rhein im Blick: Paul Ronzheimer auf der Hohenzollernbrücke in Köln
Denkst du manchmal darüber nach, wie lange du noch der rastlose Kriegs- und Krisenreporter sein willst?
Nein, eigentlich nicht. Warum sollte ich das aufgeben, was für mich das Schönste am Journalismus ist und worin ich womöglich auch ganz gut bin? Ich liebe es, Reporter zu sein und von dort berichten zu dürfen, wo Geschichte passiert. Ich habe mir im Laufe der Jahre ein umfangreiches Netzwerk in der Welt aufgebaut, das ich jetzt auch nicht einfach weitergeben könnte, weil das immer mit persönlichen Begegnungen zusammenhängt. Es hängt vielleicht aber auch an meiner familiären Situation: Mit Kindern könnte ich den Job in der Form nicht machen, weil ich einfach fast ununterbrochen unterwegs bin.
Du bist das journalistische Gesicht von drei Medienmarken, „Bild“, „Welt“ und „Politico“, das ist eine große Verantwortung. Hast du dir diesen Schritt selbst gewünscht, oder ist Springer auf dich zugekommen?
Ich bin seit 2008 bei Springer, das sind jetzt 15 Jahre. Und da ist es völlig klar, dass man sich irgendwann Gedanken darüber macht, wie es weitergeht, ob man noch mal woanders hingeht. Und da haben wir uns zusammengesetzt und einen Weg gefunden, der für beide unglaublich spannend ist – auch dadurch, dass Springer „Politico“ gekauft hat und ich dort mitarbeiten kann. Meine großen Interviews laufen seit dem Sommer bei „Bild“, „Welt“ und „Politico“. Auch die Schalten zu Welt TV machen Spaß, die Kollegen machen da einen tollen und hochprofessionellen Job. Gleichzeitig entwickeln wir neue Formate wie jüngst meinen Podcast „Ronzheimer“, wo es um die Arbeit als Reporter geht, um Reportagen und Interviews – auch da erreichen wir noch einmal ein ganz neues Publikum. Meinem Team und mir ist es wichtig, unsere Geschichten auf so vielen Plattformen wie möglich zu erzählen: Text, Video, Audio. All das ist viel Arbeit, aber macht große Freude!
Bei „Bild“ hat sich in den vergangenen drei Jahren sehr viel verändert: Erst – noch unter Julian Reichelt – der große Aufbruch ins TV. Nun der Rückbau. Damit hast du also deinen Frieden gemacht?
Ich finde, dass „Bild“ wieder auf einem sehr guten Weg ist. Mit Marion Horn und Robert Schneider haben wir zwei Chefredakteure, die sehr viel Erfahrung mit „Bild“ haben und ihre Jobs wirklich großartig machen. Das zeigen auch die Zahlen: Das Interesse an bild.de ist so groß wie noch nie. Klar, es sind schwierige Zeiten und die beiden müssen mit Blick auf die Regionalausgaben sehr harte Entscheidungen treffen. Ich war selbst lange Lokalreporter und fühle mit den Kolleginnen und Kollegen, die das betrifft. Ich glaube aber, dass diese Strukturreform und der Weg, zu zeigen, wo wir hinwollen, genau richtig ist. Besser als jedes Jahr aufs Neue zu sagen: Wir müssen hier sparen und da sparen. Ich finde, diese Klarheit und Wahrheit ist besser für die Redaktion.
Warum hat „Bild“ auf dem großen Screen, auf dem Fernseher, nicht funktioniert?
Dass Bild TV gar nicht funktioniert hat, dem würde ich widersprechen. Wir hatten zum Teil tolle Quoten, angefangen zum Start des Senders bei der Kanzlernacht, wo wir direkt ein Prozent Marktanteil erreicht haben. Wir hatten Formate, die extrem gut auch im TV funktioniert haben. Als der Ukraine-Krieg ausbrach, hat das junge Team rund um die Uhr einen fantastischen Job gemacht. Ich bin immer noch stolz, Teil dieses Teams gewesen zu sein. Vielleicht war der Glaube daran, dass ein weiterer Newssender funktionieren kann, zu optimistisch, vielleicht waren wir auch zu politisch. Als Staatsbürger bin ich ganz froh darüber, dass Deutschland anders funktioniert als die USA, wo Sender wie Fox News wahnsinnig erfolgreich sind.
Hättest du dir mehr Zeit für Bild TV gewünscht? Sender wie Welt TV und ntv haben schließlich auch Jahre gebraucht, bevor sie erfolgreich waren.
Ja, ich hätte mir gewünscht, dass der Sender mehr Zeit gehabt hätte. Aber das soll keine Kritik am Verlag sein, denn mir gehört der Laden nicht, für mich ist es ein Leichtes, das zu sagen. Den 360-Grad-Ansatz aus TV, Digital und Zeitung finde ich nach wie vor richtig. Die Frage ist nur, wie viel Geld bist du bereit zu investieren und wie schnell musst du auch einen Ertrag haben? Am Ende hat Bild TV in wirtschaftlich schwierigen Zeiten zu viel Geld gekostet.
Nun waren Springer und „Bild“ zuletzt selbst Gegenstand schlechter Nachrichten. Wie geht’s dir damit?
Ach, ich versuche, so wie viele meiner Kollegen, dafür zu sorgen, dass auch positiv über Springer gesprochen wird, dass wir Schlagzeilen, Interviews und Nachrichten produzieren, über die die Menschen reden. Und ich glaube, das machen wir ganz erfolgreich. Man muss auch immer unterscheiden: Klar, es gibt berechtigte Kritik, damit müssen wir uns auseinandersetzen. Darüber hinaus habe ich aber den Eindruck, dass zum Teil mit einer Wonne auf Axel Springer, die Akteure und ehemalige Akteure eingedroschen wird, weil man Springer halt schon immer nicht mochte. Da waren auch Kampagnen dabei. Also das, was man uns immer vorwirft.
Ich sehe auch, dass es Kollegen gibt, die ihr Geschäftsmodell darauf aufbauen, bei Springer das Ohr auf der Schiene zu haben. Aber Kampagnen? Es ist doch einfach sehr viel passiert bei „Bild“, worüber Medienjournalistinnen berichten müssen.
Klar, zum Teil war das wie eine Netflix-Serie. Ohne auf Details einzugehen, habe ich auf der anderen Seite auch Situationen erlebt, in denen ich nachweislich belegen konnte, dass es anders war, als es berichtet wurde, aber das hat dann niemanden interessiert. Da arbeiten manche Reporter exakt mit den Methoden, die sie uns gerne vorwerfen. Und die Kolleginnen und Kollegen haben mir dann immer gesagt, dass „Bild“, Springer und seine Akteure eben einfach so gut klicken.
Wir leben in polarisierten Zeiten: Wie viel Meinungsvielfalt braucht ein Boulevardblatt?
Wenn wir als Beispiel den Krieg nehmen, dann haben wir bei „Bild“ eine klare Haltung: Wir stehen auf der Seite der Ukraine. Aber das hält uns nicht davon ab, andere Stimmen zu hören. Ich fand es zum Beispiel immer wichtig, mit Sahra Wagenknecht zu diskutieren, auch wenn sie ganz anders zu diesem Krieg steht als ich. Von daher finde ich Meinungspluralität wichtig und glaube, davon können wir wahrscheinlich in allen Themenbereichen noch mehr gebrauchen.
Muss „Bild“ vielleicht konstruktiver werden und auch mal sagen, wenn etwas gut gelaufen ist? Das Horror-Szenario von kalten Heizungen im Winter blieb uns erspart, vom „Heizkosten-Hammer“ haben wir auch lange nichts mehr gehört und das Heizungsgesetz wird allen Befürchtungen zum Trotz moderat ausfallen. Habt Ihr da nicht sehr viel dramatisiert?
Wo ich Dir recht gebe: Vielleicht hätten wir die Regierung mehr loben müssen für das, was sie richtig gemacht und geschafft hat, zum Beispiel was die Gasspeicher angeht. Ich glaube, das fehlt uns manchmal. Aber der „Heizkosten-Hammer“ bezog sich ja auf tatsächliche Berechnungen, die auch so verschickt wurden. Jetzt kann man sagen, dass es am Ende nicht so schlimm gekommen ist – zum Glück. Aber zum Zeitpunkt der Kalkulationen war das ganz klar ein „Heizkosten-Hammer“. Es war auch die mediale und politische Debatte um den Heiz-Hammer, die daraus am Ende ein Hämmerchen gemacht hat. Es ist unsere zentrale Aufgabe, die Politik kritisch zu hinterfragen, wenn sie tief in das Leben oder Portemonnaie der Bürger eingreift.
Dein Ruf als Journalist ist extrem gut, auch über „Bild“ hinaus. Wirst du in der letzten Zeit öfter mal gefragt, warum du nicht längst bei einem Medium bist, das besser zu deinem guten Ruf passt? RTL, das ZDF, die „Zeit“?
Ich habe „Bild“ und dem ganzen Verlag unendlich viel zu verdanken, weil ich hier überhaupt erst die Möglichkeit bekommen habe, weltweit so viele Reportagen machen zu dürfen. Um ein Beispiel zu nennen: Ich habe von vielen deutschen Kolleginnen und Kollegen gehört, dass ihnen bei Ausbruch des Krieges von ihren Chefs verboten worden ist, in Kiew zu bleiben oder hinzufahren. Bei mir stand auch Mathias Döpfner persönlich dahinter, der mich angerufen und mir gesagt hat, dass er mir und meiner Sicherheitseinschätzung vertraut. Er stand und steht als Vorstandsvorsitzender hinter den Reporterinnen und Reportern. Das ist nicht selbstverständlich und dafür bin ich ihm sehr dankbar. Natürlich gibt es mit Freunden und Bekannten immer mal wieder Debatten über „Bild“, aber die führt man eigentlich, sobald man bei „Bild“ unterschrieben hat. Mein Ruf hängt unmittelbar mit Springer zusammen und dem, was ich dort auf allen Plattformen mit maximaler Reichweite veröffentlichen darf. Daran lasse ich mich messen. Von daher wäre es falsch zu sagen: Paul ist nett, „Bild“ ist böse.
Wo steht „Bild“ in fünf Jahren?
Ich glaube, dass Marion Horn und Robert Schneider „Bild“ massiv nach vorne bringen, Reichweite und Relevanz erheblich steigern werden – das sehen wir bereits jetzt. Ich glaube, dass die im März endlich begonnene Modernisierung von „Bild“ die Marke wirtschaftlich stabilisiert und die Zukunftsängste vertreibt. Und ich bin mir sicher, dass der Fokus auf journalistische Exzellenz, der wieder Einzug gehalten hat, uns auch als Arbeitgeber noch interessanter machen wird.
Wird der Chefredakteur dann Paul Ronzheimer heißen?
Nein.
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