turi2 edition #16: Tina Hassel über Macht und Medien.
1. Januar 2022
Ganz nah dran:Tina Hassel ist als Chefredakteurin und Leiterin des ARD-Hauptstadtstudios das bekannteste TV-Gesicht und die beste Kennerin der Regierung in Berlin. Im Interview in der turi2 edition #16 spricht die Journalistin über die neuen Machtverhältnisse in Medien und Politik. Sie glaubt, dass die Gesellschaft vor “gigantischen Herausforderungen” steht. Unter Altkanzlerin Angela Merkel habe sie echte Diskussionen vermisst – nun sagt sie deren Nachfolger Olaf Scholz eine noch schwierigere Zeit voraus: “Wir werden aus dem Krisenmodus gar nicht mehr rauskommen.”
Tina Hassel, die Berliner Republik ist im Umbruch: eine neue Bundesregierung, ein neuer Politikstil, neue Köpfe in den Medien – wird 2022 ein Jahr des Aufbruchs?
Ich bin überzeugt, dass wir in etwas wirklich Neues starten. Eine Ära geht zu Ende: 16 Jahre Kanzlerin Merkel haben dieses Land und Europa extrem geprägt. Eine Dreierkoalition auf Bundesebene kennt man zwar aus anderen europäischen Ländern, aber bei uns gab es das bislang nur auf Landesebene. Wir stehen vor gigantischen Herausforderungen: Die Klimakatastrophe, und ich sage bewusst Katastrophe, bedingt eine komplette Neuausrichtung unserer industriellen Wirtschaftsweise. Wir müssen weg von einem Wirtschaftswachstum, das auf fossilen Energien beruht. Und wir müssen über neue Formen der Partizipation nachdenken, denn die Menschen wollen mitreden, mehr noch: mitbestimmen. Gerade in Zeiten großer Veränderung.
Schaffen wir den Wandel?
Die Überschrift dieser Koalition lautet Veränderung. Normalerweise lädt die stärkste Partei zu den Koalitionsgesprächen und spielt dabei gern vorab die beiden kleineren gegeneinander aus. FDP und Grüne haben das Spiel gedreht. Die haben gesagt: “Wenn wir uns vorher verständigen, dann sind wir genauso stark wie die SPD.” Und so hatten die beiden kleineren Parteien gewissermaßen den Kanzler zu ihren inhaltlichen Vorlieben “casten” wollen – zumindest bevor sich die CDU selbst zerlegt und aus dem Rennen genommen hat. Die alte Diskussion von Koch und Kellner ist damit hinfällig. Die Kellner haben die Küche gestürmt und bitten nun den Koch dazu. Dabei kommen die Grünen und die FDP von völlig unterschiedlichen Planeten. Wenn die einen guten Kompromiss finden – vor allem bei der Frage, was soll der Staat regeln und was besser die Wirtschaft – könnte uns das wirklich weiterbringen.
Was sind die dringlichsten To-dos für die Regierung?
Transformation und Krisenbewältigung. Corona und die Klimakatastrophe haben gezeigt: Deutschland kann Krise nicht mehr. Ständig laufen wir der Welle hinterher. Aber in einer Krise braucht es schnelle Entscheidungsfindungen zwischen Bund, Ländern und Kommunen. Zudem braucht das Land einen Modernisierungsschub. Wir müssen Produktionsweisen umstellen, ohne Jobs zu verlieren. Nur, wenn wir die Industrie auf den Kopf stellen, behalten wir die Jobs und schaffen nachhaltigen Wohlstand.
Wie ernst ist die Lage?
Jeden Morgen, wenn die Kanzlerin auf ihr Handy geschaut hat, hat sie sich wahrscheinlich gefragt: “So, was bringt der Tag denn wieder?” Der neue Kanzler wird das Handy anmachen, und es werden möglicherweise gleich zwei, drei Krisen aufploppen. Die Klimakatastrophe wird die Migrationsströme verstärken, es wird einen Kampf ums Wasser und um andere Ressourcen geben, neue sicherheitspolitische Risiken entstehen. Wir werden aus dem Krisenmodus gar nicht mehr rauskommen.
Gibt es etwas, das Ihnen Hoffnung macht?
Die Herausforderungen, vor denen wir stehen, sind enorm. Aber es gibt auch viel Positives. Die Bundestagswahl hat doch gezeigt, dass eine Ära zu Ende geht, ohne dass die Ränder gestärkt wurden. Wir sehen, dass sowohl AfD als auch die Linke – wobei man die beiden Parteien nicht gleichsetzen darf – schwächer geworden sind. Viele Länder beneiden uns darum. Positiv finde ich auch, dass sich junge Menschen politisch interessieren und engagieren. Und dass die Wirtschaft in Teilen viel weiter ist als die Politik.
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Aus Ihrer Zeit als Leiterin des ARD-Studios Washington kennen Sie die USA gut. Ist Amerika noch der große Bruder, der uns zur Seite steht?
Amerika ist unser wichtigster demokratischer Partner. Insofern war es absolut richtig, auch während der ganzen Trump-Jahre die Gesprächskanäle offen zu halten. Unter Präsident Biden kehren die USA zurück zu den Spielregeln des Multilateralismus und der gemeinsamen Werte des Westens. Aber in spätestens drei Jahren könnte das wieder vorbei sein. Die verbleibende Zeit sollten Deutschland und Europa nutzen, erwachsen und eigenständig zu werden. Bei der Machtübernahme der Taliban in Kabul haben wir gesehen, dass Europa derzeit noch nicht mal einen Flughafen alleine sichern kann – daraus müssen wir Lehren ziehen.
Kommt Trump wieder?
Trump wurde abgewählt, der Trumpismus aber bleibt. Der erste politische Stimmungstest Anfang November, die Gouverneurswahlen, war eine Katastrophe für Biden. Man sieht es an Virginia, das lange Jahre immer in demokratischer Hand war – jetzt nicht mehr. Die USA sind extrem gespalten. Da ist schon das Tragen einer Maske Ausdruck politischer Gesinnung. Ob Trump selbst noch einmal antritt, oder ein anderer Trump: Ich halte beides absolut für denkbar.
Zu den Abgeordneten im Paul-Löbe-Haus sind es für Tina Hassel vom ARD-Hauptstadtstudio nur 500 Meter
Was ändert sich, wenn in Deutschland zwei kleine Parteien das Sagen haben?
FDP und Grüne sind von Erstwählern und jungen Menschen gewählt worden, die Aufbruch und Reformen wollen. Die SPD-Wählerinnen und -Wähler waren eher älter und wollen, dass alles so bleibt, wie es ist. Es wird eine Herausforderung, die Interessen der älteren Menschen und auch der im Osten, die schon so viele Umbrüche mitmachen mussten, mit denen der Jungen zusammen zu bringen. Denn die sagen: “Nein, nichts kann mehr bleiben, wie es ist.”
Sollten wir das Wahlalter auf 16 senken?
Eine Herabsetzung des Wahlalters brächte die Stimme der Jungen auf jeden Fall besser zum Tragen. Wir leben ja schon in einer Art Rentokratie. Schon heute ist jeder vierte Wähler über 60, und das wird nicht besser. Es geht nicht darum, Jung gegen Alt auszuspielen. Aber es kann auch nicht sein, dass die älteren Wählerinnen und Wähler die Zukunft der jungen Menschen weiter so belasten. Die Jungen haben während der Corona-Pandemie viel Rücksicht nehmen müssen; jetzt darf es gern mal wieder andersherum sein. Beim Klimaschutz und bei der Ressourcenverschwendung schließt sich das Zeitfenster, in dem noch gehandelt werden kann, erschreckend schnell. Die Fehler, die wir jetzt beim Klimaschutz machen, können wir nie wieder aufholen.
Wie bedrohlich ist die Spaltung der Gesellschaft?
Die Spaltung der Gesellschaft mit ihren aggressiven Rändern, links wie rechts, ist offensichtlich. Und dazwischen eine große schweigende Mehrheit. Diese Mehrheit sollte, wenn es um etwas wirklich Wichtiges geht, aufhören zu schweigen. Wir brauchen laute Stimmen, wenn wir unsere gesellschaftlichen Werte und Institutionen wahren wollen. Es kann nicht sein, dass Wissenschaftlerinnen, Klimaschützer, Politikerinnen und Journalisten angefeindet und bedroht werden. Es muss uns gelingen, mit den Polen dieser Spaltung in einen Dialog zu kommen. In einer Demokratie ist es möglich, unterschiedlicher Meinung zu sein. Aber Hass ist keine Meinung.
Worauf führen Sie den Hass zurück?
Wir haben es mit einer Erregungsmaschinerie zu tun, die sich selbst befeuert. Früher saß man zu dritt oder zu viert in der Kneipe und hat nach dem Motto “Das muss man auch mal sagen dürfen” den einen oder anderen Spruch abgelassen. Heute äußern sich laute Minderheiten über die sozialen Netzwerke. In diesen Echokammern verstärken sie sich quasi selbst: Je radikaler eine Meinung, desto mehr Likes. Das gibt solchen Gruppen das Gefühl, sie sprächen für ganz viele.
Wie kommen wir aus dieser Hassspirale raus?
Wir haben in den letzten Jahren viel zu wenig diskutiert. Bei den vielen Leistungen der Ära Merkel, die ich wertschätze, sind Meinungsvielfalt und echte Auseinandersetzung zu kurz gekommen. Wir brauchen robuste Diskussionsräume, mit klaren Regeln von Respekt und Anstand in der Kommunikation.
Wie führen wir diese Diskussion am besten?
Die Politik muss raus aus ihrem Elfenbeinturm und rein in die Arenen, wo die Menschen sind – von Ost bis West, in den Städten wie im ländlichen Raum. Und Politiker und Journalisten müssen aushalten, wenn sie zunächst auf viel Frust und Ängste stoßen. Wenn Menschen das Gefühl haben, man hört ihnen zu und ist ehrlich interessiert, kommt man oft doch ins Gespräch.
Was können die Medien da beitragen?
Wir müssen noch stärker alle Meinungen – auch kontroverse oder unpopuläre – zu Wort kommen lassen. Das würde schon mal etwas Druck rausnehmen aus diesem “Das darf man ja alles nicht mehr sagen”-Gefühl. Dass dieser Gedanke überhaupt existiert, ist schlimm, denn in unserer Demokratie darf man alles sagen.
Transparent: Im modernen ARD-Gebäude wird auf allen Ebenen diskutiert
Auf Ihr Sommer-Interview mit Annalena Baerbock ereilte Sie ein Shitstorm. Tenor: Sie hätten sexistisch gefragt, indem sie die Arbeit der Politikerin mit ihrem Muttersein verknüpft haben.
Aufregung bringt Klicks und in den sozialen Medien geschieht es schnell, dass eine Aussage von einer Interessensgruppe heftig kritisiert, manchmal auch skandalisiert wird. Ich lasse mich da nicht von jedem Sturm umpusten. Gleichzeitig bin ich aber auch fähig zu Selbstkritik und sensibel genug, wenn ich eine unbeabsichtigte Wirkung unterschätzt habe. Die Schlussfrage war unglücklich formuliert, auch wenn ich gleichzeitig viele positive Reaktionen auf die Frage erhalten hatte. Deshalb breche ich mir keinen Zacken aus der Krone, wenn ich mich dann entschuldige. Im Gegenteil.
Wie dick sollte das Fell von Journalisten heute sein?
Es ist unser Job, auch dahin zu gehen, wo man uns nicht so schätzt und wo wir nicht unbedingt willkommen sind. Bei einer Veranstaltung in Thüringen hat ein Drittel der Anwesenden gesagt: “Toll, Frau Hassel, dass Sie da sind!” Ein Drittel hat schon “Lügenpresse” gebuht, bevor ich überhaupt ein Wort gesagt hatte. Aber letztlich geht es um das dritte Drittel, das so hin- und herschwankt und einfach mal so vorbeischaut. Wenn man auf die zugeht, ihnen zuhört und auch transparent macht, wie wir arbeiten, dann ist damit viel gewonnen.
Die Buhrufe, den Vorwurf der Lügenpresse stecken Sie einfach so weg?
Wir bekommen ja auch viele positive Rückmeldungen, die sagen “Danke, dass sie sich dem Thema angenommen haben.” Ich würde nie einen anderen Beruf wählen. Für mich ist die Sinnhaftigkeit unserer Arbeit so klar wie nie zuvor. Wir haben es während der Pandemie doch gesehen: Die Menschen vertrauen uns. Gerade in Krisenzeiten informieren sie sich über die öffentlich-rechtlichen Angebote.
Aber die 14- bis 49-Jährigen konsumieren Bewegtbild doch mittlerweile überwiegend im Internet.
Unsere Sendungen werden ja gerade von jüngeren Menschen zunehmend über die Mediatheken und die Plattformen abgerufen. Aber auch das lineare Fernsehen wird nach wie vor extrem hoch und stabil eingeschaltet. Wenn wir lineare und digitale Produktionen nicht gegeneinander ausspielen, sondern beide stärken, durch kluge Ressourcenverlagerung, dann haben wir da verdammt viel PS unter der Kühlerhaube.
Wie und wo schauen Ihre Kinder?
Die gucken die Dokus in der Mediathek oder auf Netflix. Die Inhalte konsumieren sie, wann und wo sie wollen. Aber das ist keine Bedrohung, wenn man sich auf die veränderten Sehgewohnheiten einstellt. Wir produzieren hier aus Berlin viel für das ARD-Flaggschiff “Tagesschau”. Und damit sind wir bereits auf ganz vielen Kanälen parallel unterwegs: Twitter, Facebook oder YouTube. Die Ressource, die wir anbieten, nämlich Qualitätsjournalismus, ist immer dieselbe. Nur die Wege, wie wir die jungen Menschen erreichen, sind andere.
Wann tanzt Tina Hassel den “Bericht aus Berlin” auf TikTok?
Ich erkläre lieber und liefere den Hintergrund; das Tanzen überlasse ich den jüngeren Kolleginnen und Kollegen. Die “Tagesschau” ist auch auf TikTok eine starke Medienmarke mit Millionenreichweite, die machen einen tollen Job. Wichtig ist, dass wir unsere journalistischen Kronjuwelen dort in die Auslagen stellen, wo jüngere Menschen vorbeischauen. Nur so binden wir sie an das gesamte System. Gemeinsam mit der “Tagesschau” haben wir zum Beispiel den Podcast “Mal angenommen” entwickelt, in dem wir komplexe Fragen durchleuchten. Etwa: Was wäre, wenn wir radikal aus der Kohle aussteigen? Dieser Podcast hat ein extrem junges und weibliches Publikum. Das ist bei Politikberichterstattung nicht selbstverständlich.
Welche Skills müssen junge Journalistinnen heute mitbringen?
Die Antriebsfeder, diesen Beruf zu ergreifen, ist dieselbe wie immer schon: Journalisten sind neugierig, wollen recherchieren und den Dingen auf den Grund gehen, nachbohren, erklären, einordnen und kommentieren. Aber nur dann, wenn auch Kommentar oder Meinung drüber stehen. Wir berichten und verstehen uns nicht als”„Influencer”.
Tina Hassel im Gespräch mit turi2-Verlegerin Heike Turi
Welche Wahl-Niederlage kam 2021 eigentlich überraschender: die Nichtwahl von Armin Laschet ins Bundeskanzleramt oder die Niederlage von Tina Hassel bei der Wahl des ZDF-Intendanten?
Auf diese Position bewirbt man sich ja nicht einfach so, man wird angesprochen. Ich bin froh, dass ich angetreten bin. Mein Manifest zur Reform des öffentlich-rechtlichen Rundfunks ist auf breite Zustimmung gestoßen. Ich bin sehr weit gekommen – nur vier Stimmen haben mich als Außenseiterin von Herrn Himmler getrennt, bis ich mich selbst aus dem Spiel genommen habe, um aus einer kleinen Mehrheit eine große zu machen, im Sinne eines starken öffentlich-rechtlichen Rundfunks.
Darf eine Frau genauso unverhohlen wie ein Mann Macht einfordern?
Ich habe gelernt, gegen Widerstände anzutreten und habe mich anscheinend auch so präsentiert, dass ich viele mit meinem Auftritt und meinem Reformkonzept überzeugen konnte. Vielleicht habe ich damit auch anderen Frauen gezeigt: Wartet nicht, bis ihr eingeladen werdet. Geht hin, wenn ihr das wollt und etwas mitzubringen habt. Zeigt, dass ihr das könnt. Seid angstfrei. Das hat mir meine Mutter mit auf den Weg gegeben: “Versuch’s doch zumindest!” Kneifen ist keine Option.
Was lässt sich von Ihrem Reformkonzept für die ARD adaptieren?
Vieles ist schon angeschoben. Aber wir müssen noch besser werden: kritikfähiger, transparenter, mutiger im Programm. Und wir müssen viel mehr überraschen und formatsprengende Ansätze wagen.
ARD-Programmchefin Christine Strobl dreht an der Programmstruktur: mehr Mediathek, weniger Sendezeit gerade für Politisches im linearen TV. Schmerzt Sie das? Christine Strobl hat mein absolutes Backing, was die Reformen angeht. Sie sagt: online first, Mediathek first. Das ist richtig, wie sonst wollen wir den Netflixs dieser Welt die Stirn bieten? Und den Vorwurf, im linearen Fernsehen gebe es deshalb weniger Sendezeit, sehe ich nicht: Im neuen Sendeschema bekommen der “Bericht aus Berlin” und der “Weltspiegel” beide fünf Minuten mehr Sendezeit.
Die privaten Sender haben in Sachen politische Berichterstattung aufgeholt. Wie stark fürchten Sie die Konkurrenz?
Konkurrenz belebt das Geschäft, und ich freue mich, wenn das auf dem Feld der Information geschieht. Mit Pinar Atalay und Linda Zervakis haben zwei profilierte Kolleginnen, die ich gut kenne und schätze, gewechselt. Aber bange werden muss uns deshalb nicht, so toll fliegt das bislang noch nicht. Im Gegenteil, man lernt ja aus den Erfolgen und den Misserfolgen der anderen.
Auch “Klima vor acht” hat sich RTL geschnappt. Hat die ARD da gepennt?
Die ARD hat Gespräche mit den Vertretern von “Klima vor acht” geführt, sich dann aber dafür entschieden, Nachhaltigkeit und Klima-Berichterstattung verstärkt in die Breite des Programms zu nehmen. Das ist auf jeden Fall ein Fortschritt. Aber ich mache keinen Hehl daraus, dass ich es persönlich gut gefunden hätte, wenn “Klima vor acht” im Ersten gelandet wäre.
Auch von ganz anderer Seite bekommen die Öffentlich-Rechtlichen Konkurrenz: Parteien verkünden ihre Botschaften über eigene Newsrooms, die Wirtschaft lässt ihre CEOs selbst produzierte Videos in die Welt senden. Sind Sie demnächst arbeitslos?
Das Bemühen, auszubüchsen, um die Kontrolle über die Message zu haben, sei es von Unternehmen oder Parteien, gab es schon immer. Aber der Hype um die Newsrooms der Parteien schrumpft doch schon wieder. Und Wirtschaft und Politik merken, dass ihnen das Senderspielen gar nicht gut tut, denn es fehlt der ganze Hintergrund. Und den liefern wir Journalisten.
Aber in der Medienwelt hat sich schon etwas verändert, wenn ich an meine Zeit beim Fernsehen denke. #MeToo ploppte zuletzt durch die Causa Reichelt wieder auf. Welche Erfahrungen haben Sie diesbezüglich beim Fernsehen gemacht?
Die Causa Julian Reichelt ist ein besonders krasser Fall. Aber wir sollten uns nicht zurücklehnen und sagen: „Ach guck mal, das ist ja nur die ‘Bild-Zeitung.” Als die #MeToo-Diskussion beim WDR aufkam, war auch meine Abteilung betroffen. Wir haben unsere Lehren daraus gezogen, eine klare Policy formuliert und mit Nachdruck artikuliert, was nicht geht. Auch hier im Studio gehen wir sehr sensibel mit dem Thema Machtmissbrauch um. Mir ist aber wichtig, zu betonen, dass es dabei nicht nur um die Frage geht, ob Frauen mit sexueller Belästigung oder Sexismus konfrontiert werden. Denn Machtmissbrauch ist es auch, wenn Mitarbeiter oder Mitarbeiterinnen in ihrer Laufbahn behindert oder gemobbt werden. Das kann genauso männliche Kollegen treffen. Solche Missstände müssen wir insgesamt im Blick halten.
Tina Hassel ist seit 2015 Studioleiterin und Chefredakteurin des ARD-Hauptstadtstudios und moderiert den sonntäglichen „Bericht aus Berlin“. Sie wird 1964 in Köln geboren und studiert dort sowie in Bordeaux Geschichte. Hassel volontiert beim WDR und steigt die Karriereleiter hoch: Ab 1994 berichtet sie für die ARD aus Paris und Brüssel, ab 2002 leitet sie die WDR-Programmgruppe Europa und Ausland. 2012 übernimmt sie die Leitung des ARD-Studios Washington. Hassel ist mit dem Infektiologen Tillmann Schumacher verheiratet und Mutter von drei Kindern
Fotos: Holger Talinski
Dieser Beitrag ist Teil der turi2 edition #16 über Nachhaltigkeit.